Interview mit der Schriftstellerin Guzel‘ Jachina
Hier finden Sie das Interview im russischsprachigen Original (Интервью по-ру́сски).
Guzel´ Jachinas Debütroman Suleika öffnet die Augen (Zulejcha otkryvaet glaza) wurde 2015 von der russischen Presse als „Literatur-Sensation“ bezeichnet und gleich mehrfach – unter anderem mit dem russischen Literaturpreis Bol´šaja Kniga – ausgezeichnet. Der kraftvolle und poetische Stil der Schriftstellerin wurde auch von Linguisten und Philologen positiv bewertet. Nächstes Jahr wird Jachina Autorin des Textes für die Aktion „Weltweites Diktat” – einer Bildungsaktion, bei der jeder freiwillig seine Kenntnisse der russischen Sprache unter Beweis stellen kann. Seit 2017 liegt auch die deutsche Übersetzung ihres Debütromans vor. Im Interview mit novinki erzählte die Schriftstellerin von den Herausforderungen, die sich während der Arbeit an ihrem ersten Roman stellten, und von der Suche nach einem literarischen Zugang zum kollektiven Gedächtnis.
Protagonistin von Jachinas Romans ist die muslimische Bäuerin Zulejcha aus einem abgelegenen tatarischen Dorf. Im Winter 1930, zur Zeit der Entkulakisierung, wird sie mit einer Gruppe von Verbannten deportiert. Bauern und Vertreter der Intelligenzija, Städter, Kriminelle und politische Gegner des Kommunismus (Klassenfeinde), Muslime und Christen, Heiden und Atheisten, Russen, Tataren, Deutsche und Tschuwaschen, alle diese Leute kommen am Fluss Angara zusammen. Allerdings gestaltet sich das Exil für Zulejcha mehr als Freiheit denn als Gefängnis, eine Freiheit von den eigenen Ängsten und der Unwissenheit. Die Autorin hat diese optimistische Geschichte gewählt, um den Lesern zu zeigen, dass „sogar in einem großen Unglück ein Korn zukünftigen Glücks versteckt sein kann“. Der Roman ist teilweise von der Geschichte ihrer tatarischen Familie inspiriert. Die Großmutter der Schriftstellerin wurde im Alter von 7 Jahren zusammen mit der ganzen Familie nach Sibirien deportiert. Bis jetzt ist Suleika öffnet die Augen in 29 Sprachen erschienen.
novinki: Berauscht vom Erfolg nach der Veröffentlichung des Romans haben Sie in einem Interview gesagt, dass es Ihr Traum war, Schriftstellerin zu werden (vorher war Jachina im Marketing tätig – A.d.V.). Kann man jetzt sagen, dass dieser Traum wahr geworden ist? Ist es für Sie jetzt möglich, nur von Ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin zu leben?
Guzel‘ Jachina: Das Schicksal des Buches ist tatsächlich ein glückliches, aber es ist noch zu früh für ein Fazit. Derzeit klappt es, und ich mache nun das, was ich immer machen wollte. Das bedeutet allerdings nicht, dass mein Leben auch weiterhin so sein wird. Es bedeutet nicht, dass der zweite Roman auch so erfolgreich sein wird wie der erste. Im Gegenteil ist es eher wahrscheinlich, dass auf das zweite Buch nicht so ein großer Erfolg wartet. Alles, was ich gerade sagen kann, ist: Ich bin meinem ersten Roman dankbar dafür, dass ich an dem zweiten schreiben kann.
n.: Wenn ich mich nicht irre, haben Sie Germanistik und Anglistik an der Pädagogischen Universität in Kazan studiert und als Übersetzerin aus dem Deutschen gearbeitet. Die deutsche Übersetzung von „Zulejcha“ war eine der ersten. Wie war Ihre Zusammenarbeit mit dem Übersetzer Helmut Ettinger? Hat Ihnen die deutsche Übersetzung gefallen?
G.J.: Ja, Sie haben Recht, ich habe als Übersetzerin aus dem Deutschen gearbeitet. Die Übersetzung des Romans ins Deutsche war tatsächlich gar nicht eine der ersten. Zuerst wurde er ins Tatarische übersetzt, danach ins Finnische, Lettische, Estnische, Ungarische und noch einige andere Sprachen, und erst danach ins Deutsche.
Die Zusammenarbeit mit Helmut Ettinger war für mich sehr angenehm und unkompliziert. Am Anfang unserer Zusammenarbeit hatte ich schon einige Fragen von anderen Übersetzern bezüglich des Textes gesammelt und – auf Anraten von Literaturagenten – einen Arbeitsordner angelegt, damit sich der nächste Übersetzer des Romans informieren kann, was seine Vorgänger während der Arbeit an der Übersetzung interessiert hatte. Zu Beginn unserer Bekanntschaft war ich also schon gut vorbereitet.
Im Unterschied zu den früheren Übersetzungen konnte ich den deutschen Text teilweise selbst einschätzen. Das war interessant. Da ich aber keine Muttersprachlerin bin, habe ich immer wieder meine Freunde zu Rate gezogen. Ich habe einen ziemlich großen Kreis deutschsprachiger Freunde.
Herrn Ettinger habe ich persönlich erst später kennen gelernt, als die Übersetzung fertig war. Diese Begegnung war sehr herzlich und aufregend für mich.
n.: Was war die größte Schwierigkeit für Sie und den Übersetzer während der Arbeit an der Übersetzung? Im ersten Teil des Romans gibt es viele tatarische Begriffe…
G.J.: Bezüglich der tatarischen Lexik sollte ich wohl anmerken, dass bei den meisten Übersetzungen entschieden wurde, die tatarischen Wörter beizubehalten. Sie wurden ohne Erläuterung im Text belassen, genau wie im russischen Original. Die Übersetzer sind davon ausgegangen, dass diese Wörter aus dem Kontext ersichtlich sind. Außerdem wurde in vielen Übersetzungen entschieden, nicht nur auf die Fußnoten zu verzichten, sondern auch auf das kleine „Wörterbuch” im Anhang des Romans. Übrigens gibt es das „Wörterbuch” im russischen Original und die Leser können einige Wörter am Ende des Romans nachschlagen, um ihr Verständnis zu überprüfen. In anderen Ländern haben Übersetzer und Herausgeber die Entscheidung getroffen, dass das „Wörterbuch“ überflüssig ist. In ein paar Sprachen wurden die tatarischen Wörter übersetzt.
n.: Ihr Roman ist eines der wenigen modernen Werke der russischen Literatur, das die Repressionen thematisiert. Einerseits gibt es die klassische Literatur zu diesem Thema, ich meine die Werke von Solženicyn oder Šalamov, die die Repressionen und die Lagerhaft selbst erlebt haben. Andererseits besteht das Bedürfnis, das Gespräch zu diesem schmerzhaften Thema weiter fortzusetzen. Wie haben Sie ihre Aufgabe verstanden?
G.J.: Ich würde diese Frage gern in zwei Bereiche teilen. Was das schmerzhafte Thema der Repressionen angeht, haben Sie Recht. Es war schwer, darüber zu schreiben. Allerdings habe ich mir von Anfang an das Ziel gesetzt, keine bedrückende Geschichte zu schreiben. Die Erzählung sollte spannend und nicht bleiern werden. Ich wollte die Leser bezaubern, obwohl das Thema schwierig ist. Ich versuchte, die Szenen so aufzubauen, dass der Text einen Sog entwickelt, dessen Energie die Leser ständig in Atem hält und ihnen hilft, sich weiter durch die schweren, komplizierten Episoden der Geschichte zu lesen. Zweifellos gibt es bedrückende Episoden im Roman, ich schreibe auch über Tod und Hunger. Ich wollte diese Szenen aber nicht verstärken und noch schlimmer machen. Ich versuchte im Gegenteil, die Leser behutsam durch sie hindurch zu führen.
Was den zweiten Teil der Frage nach den Traditionen der russischen Lagerliteratur angeht, sollte ich das Buch Obitel (Heimstatt) von Zachar Prilepin erwähnen. Sein Roman wurde etwa ein Jahr vor Suleika veröffentlicht. Der Roman von Prilepin war das einzige literarische Werk über den GULag und Repressionen, das ich während der Arbeit am Roman gelesen habe. Ich habe zufällig einen Abschnitt dieses Romans in der Zeitschrift Russkij Reporter gesehen und gelesen. Der Roman gefällt mir, es ist ein interessanter Abenteuerroman mit einem fesselnden Sujet, einer prall gefüllten Handlung. Kein Augenzeuge könnte einen solchen Text schreiben. Ich hatte aber mehr Angst, die Romane von Solženicyn oder Šalamov erneut zu lesen. Die beiden Autoren haben sehr großen Einfluss auf mich. Ihre Texte sind literarisch sehr stark, deswegen habe ich befürchtet, dass ihre Texte meinem Text ihren Stempel zu deutlich aufdrücken könnten. Ich wollte meine eigene Stimme finden und einen Roman schreiben. Mit anderen Worten, statt Fiktion habe ich vor allem viele wissenschaftliche Texte und historische Untersuchungen gelesen.
Während der Arbeit bestand die zweite Herausforderung für mich in dem Versuch, ein widerstandsfähiges Gerüst aus historischen Fakten zu bauen, das heißt, die historischen Ereignisse exakt zu beschreiben, und ich hoffe, das erfolgreich bewerkstelligt zu haben. Die Historiker, die ich kenne, haben mir versichert, dass es mir gelungen ist. Diese Aufgabe war sehr kompliziert. Ich habe versucht, eine Art „Zopf“ aus realen Fakten zu flechten. Die Leser bemerken diesen „Zopf“ vielleicht nicht immer, aber es gibt ihn. Ich versuchte, die genauen historischen Ereignisse mit der Dramaturgie der fiktionalen Geschichte zusammenzubringen und die historischen Fakten in den Text einzuflechten. Zugleich habe ich einerseits versucht, die Geschichte wahrheitsgetreu zu schildern, andererseits, sie von einem dramaturgischen Standpunkt aus interessant zu gestalten. Es war nicht mein Ziel, allgemein bekannte Fakten noch einmal nachzuerzählen. Stattdessen sollten die Figuren in ihrer Entwicklung gezeigt werden. Der größte Teil der Arbeit an dem Buch war also dem Versuch gewidmet, diese zwei Komponenten zu kombinieren.
n.: Ihre letzte Anmerkung erinnert mich an einen Artikel in der Tageszeitung „Kommersant“ über die Analyse einer Umfrage zum „Kollektiven Gedächtnis“ in Russland, die vom Institut für Soziologie der RAW durchgeführt wurde. Die Ergebnisse zeigen viele weiße Flecken auf. Die Menschen kennen ihre Familiengeschichte nicht, beispielsweise wissen sie nichts über repressierte Verwandte oder haben keine Ahnung über die Tätigkeiten ihrer Vorfahren vor der Oktoberrevolution. Der Roman basiert teilweise auf Ihrer eigenen Familiengeschichte. Wie kompliziert war es für Sie, sich an Dinge zu erinnern oder Informationen in Archiven zu suchen?
G.J.: Tatsächlich musste ich in diesem Fall keine Zeit im Archiv verbringen, um die benötigten Informationen zu finden. Ich habe Informationen aus offenen Quellen verwendet, wie zum Beispiel von Museen oder der Website von „Memorial”.
(„Memorial International“ ist eine internationale Menschenrechtsorganisation, die 1988 gegründet wurde und deren Schwerpunkte die historische Aufarbeitung politischer Gewaltherrschaft, die Einhaltung der Menschenrechte und die soziale Fürsorge für die Überlebenden des sowjetischen Arbeitslagersystems (GULag) sind. Am 4. Oktober 2016 wurde die Vereinigung durch das Justizministerium auf die Liste der „ausländischen Agenten“ gesetzt. In Russland müssen sich gesellschaftliche Organisationen registrieren lassen, wenn sie politisch tätig sind und finanzielle Mittel aus dem Ausland erhalten. Für die betroffenen Organisationen bedeutet die Registrierung eine erhebliche Einschränkung ihrer Tätigkeit. – A. d. V.).
„Memorial” hat ein sehr großes Online-Archiv mit Erinnerungen von Menschen, die entkulakisiert oder in den GULag verbannt wurden. Mithilfe dieser Texte konnte ich mich tiefer in das Thema einarbeiten und einen Blick von innen erhalten. Zweifellos sollte man berücksichtigen, dass diese Memoiren aus einer gewissen historischen Distanz heraus geschrieben worden sind, mehrere Jahre oder Jahrzehnte nach den Ereignissen. Im Verlauf der Zeit verändern sich Meinungen und Einschätzungen. Dennoch konnte ich nur auf diese Weiseversuchen, diesen Teil der Geschichte des Landes mit den Augen ihrer unmittelbaren Zeugen zu sehen, abgesehen von meinen eigenen Erinnerungen an Gespräche mit meiner Großmutter. Bestimmte Fragmente aus diesen Erinnerungen, die mir passend erschienen, sind in den Romantext eingeflossen. Im Buch gibt es viele „Kleinigkeiten“, die ich nicht erfunden, sondern in den realen Lebensgeschichten gefunden habe.

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n.: Die Geschichte der Repressionen und „Säuberungen“ ist wie ein Eisberg. An der Spitze befinden sich viele Zeugnisse, es gibt aber viel mehr verlorene Fakten und Geschichten. Sie haben lange mit diesem Teil des „Kollektiven Gedächtnisses“ gearbeitet. Wie viele ähnliche Geschichten bleiben dennoch außen vor?
G.J.: Dazu kann ich nur sagen, dass ich nach der Veröffentlichung von Suleika öffnet die Augen in Russland viele Briefe von Menschen bekommen habe, deren Eltern oder Großeltern ähnliche Verbannungserfahrungen gemacht hatten. Mein Eindruck widerspricht also den Ergebnissen der genannten Umfrage. Im Gegenteil, viele Menschen erinnern sich, vielleicht nicht sehr detailliert, aber trotzdem kennen sie die schmerzhafte Familiengeschichte. Nur haben sie keinen Anlass, diese Geschichte zu erzählen. Suleika wurde zu einem solchen Anlass, und nach der Publikation begannen die Menschen wieder, sich zu erinnern und mir zu schreiben.
n.: Der staatliche Fernsehsender „Rossija 1“ plant die Verfilmung des Romans. In welcher Planungsphase steckt das Projekt? Stammt das Drehbuch von Ihnen?
G.J.: Nein. Anfangs wurde mir das angeboten, aber ich habe abgesagt. Jetzt bin ich froh darüber, denn erstens bin ich keine versierte Drehbuchautorin. Ich habe zwar die Moskauer Filmhochschule als Drehbuchautorin absolviert, habe aber keine breite Erfahrung in dieser Branche. Zweitens war es schwer für mich, noch länger mit dieser Geschichte zu arbeiten. Ich habe mit Suleika fast drei Jahre verbracht, danach musste die Nabelschnur durchtrennt werden. Drittens braucht ein Drehbuch immer Kürzungen und Bearbeitungen. Für mich wäre es sehr schmerzhaft geworden, den eigenen Text zu zerschneiden.
Ich weiß, dass das Drehbuch jetzt fertig ist. Ich habe es gelesen und kommentiert. Aber die Vorarbeiten werden wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Ich drücke dem Film die Daumen. Es ist ein langes und teures Projekt. Die Geschichte über Zulejcha kann man nicht irgendwo im Moskauer Umland drehen, man braucht andere Landschaften und Filmkulissen.
Übrigens wurde vorgestern (24. November 2017 – A.d.V.) die Premiere des Theaterstücks Suleika öffnet die Augen in einer Inszenierung des Regisseurs Ajrat Abušachmanov im Theater in Ufa gefeiert. Abušachmanov ist ein sehr talentierter Regisseur und die Premiere war, den Reaktionen nach zu urteilen, erfolgreich. Leider konnte ich nicht dabei sein.
n.: Ich gratuliere Ihnen zu dieser guten Nachricht. Am Ende unseres Gesprächs würde ich gern fragen: Sie haben mehrmals gesagt, dass die sowjetische Geschichte der Schwerpunkt Ihres Schaffens ist. Woran arbeiten Sie jetzt gerade?
G.J.: Ich schreibe meinen zweiten Roman, der auch historisch ist. Die Handlung des Romans umspannt den Zeitraum von 1916 bis 1938. Schauplatz ist die Republik der Wolgadeutschen (ASSRNP), die 1923 gegründet wurde und bis 1941 bestand. Ich erzähle von der Geschichtedieses autonomen Siedlungsgebiets und dem Schicksal eines Deutschen, der als Lehrer im Dorf arbeitet.
Das Interview wurde von Natalia Popova am 26. November 2017 geführt und anschließend aus dem Russischen übersetzt.
Jachina, Guzel‘: Zulejcha otkryvaet glaza. Moskva: AST, 2015.
Jachina, Gusel: Sulejka öffnet die Augen. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger. Berlin: Aufbau Verlag, 2017.