Blicke zu den Peripherien
Das 27. FilmFestival für mittel- und osteuropäisches Kino in Cottbus
Wie im vorigen Jahr sind im Rahmen des studentischen Projekts „Filmkritisches Schreiben“ Studierende der Universität Potsdam zum Cottbuser FilmFestival für mittel- und osteuropäisches Kino im November 2017 gefahren. Der Bericht gibt einen Überblick über das Programm der letzten Edition des Festivals. Einzelne Rezensionen, auf die wir verlinken, werfen einen tieferen Blick auf die Hauptsektion „Wettbewerb Spielfilm“.
Auf dem 27. FilmFestival Cottbus wurden fast zweihundert Filme aus zweiundvierzig Ländern gezeigt. Darunter waren fünfundzwanzig Welt- und fünfundachtzig Deutschlandpremieren. Die thematische Bandbreite umfasste nicht nur für den osteuropäischen Film typische Genres wie das Sozialdrama, historische Filme oder Filme, die sich mit dem Gegensatz Peripherie/Zentrum auseinandersetzen, sondern auch eher weniger charakteristische Formen wie Thriller und Science-Fiction. Aus den zwölf Festivalsektionen wurden in drei Reihen Preise durch die internationale Festivaljury verliehen. Das aktuelle polnische Kino dominierte dabei nicht nur quantitativ im Filmprogramm, sondern überzeugte auch qualitativ und räumte daher zugleich fast alle Preise ab. Der Film der polnischen Regisseurin Anna Jadowska Dzikie Róże (Wilde Rosen, 2017) gewann den Hauptpreis für den besten Film, und seine Hauptdarstellerin Marta Nieradkiewicz den Preis für die beste weibliche Rolle. Weiterhin konnte sich der Regisseur Maciej Pieprzyca mit seinem Film Jestem Mordercą (I’m a Killer, 2016) über den Preis Beste Regie freuen – und der Hauptdarsteller dieses Films, Mirosław Haniszewski, über die Auszeichnung als beste männliche Rolle.
Neben vielen polnischen Produktionen war vor allem Belarus – bisher eher unterrepräsentiert – dieses Jahr stark vertreten. Die Sektion „Specials“ widmete sich gezielt belarussischen Filmen, die ganz unterschiedlicher Art und Thematik waren und somit einen interessanten Einblick in das aktuelle Leben, aber auch in das vom Staat unabhängige Kino gaben. Einen weiteren Schwerpunkt stellte das russische Kino dar, welches in der Sektion „Ruskij Den’“ kritische Themen wie Perm, Religion oder Vereinsamung behandelte und durch hochkarätige Produktionen wie Neljubov’ (Loveless, 2017) von Adrej Zvjagintsev und Aritmija (Arrhythmia, 2017) von Boris Chlebnikov vertreten war.
Sektion Wettbewerb: zoom in
Die Hauptsektion des Festivals versammelte dieses Jahr eine breite Palette an filmischen Projekten aus den mittel- und osteuropäischen Ländern. In der Cottbusser Stadthalle wurde der georgische Festivalbeitrag Khibula (Vor dem Frühling, 2016) von Giorgi Ovashvili ausgestrahlt. Der Film behandelt eine politisch hochbrisante Geschichte um den ersten Staatspräsidenten des unabhängigen Georgiens, Zviad Gamsachurdia. Georgiens Nachbarland Aserbaidschan war dieses Jahr gleich im Wettbewerb vertreten: Der Film Nar Baği (Der Granatapfelgarten, 2017) von Ilgar Najaf inszeniert vor der Kulisse eines paradiesischen Gartens ein hartes Familiendrama in einem aserbaidschanischen Dorf. Die Granatäpfel und die leeren, aber beeindruckenden Landschaftsbilder deuten metaphorisch auf die bevorstehende familiäre Tragödie hin. Eine Tragödie, die auf den ersten Blick vom tschechowschen Kirschgarten inspiriert zu sein scheint, aber zugleich eine eigene Geschichte und Filmsprache entwickelt. Die albanisch-griechische Koproduktion Dita zë fill (Tagesanbruch, 2016) von Gentian Koçi zeigt die Lebenswirklichkeit einer mittellosen, alleinerziehenden Mutter, deren einzige Hoffnung eine alte im Sterben liegende Frau ist – ein Sozialdrama erster Klasse. Der bereits erwähnte Film Jestem Mordercą (I’m a Killer, 2016) von Maciej Pieprzyca greift eine wahre Geschichte um den „Vampir aus Oberschlesien“ auf. Der Regisseur hat vor zwanzig Jahren einen Dokumentarfilm über den Massenmörder gedreht und sich nun im Spielfilm mit der bis heute mit vielen Mythen und Legenden umwobenen Geschichte neu beschäftigt.
Der diesjährige Wettbewerbsbeitrag aus der Ukraine mit dem Titel Riven Chornogo (Black Level, 2017) von Valentin Vasjanovich war ein besonderes Filmerlebnis. Der mit dokumentarischer Filmtechnik angehauchte Film ist dieses Jahr für den Oscar als bester ausländischer Film nominiert. Mit einem limitierten Budget, ohne Drehbuch, ohne Dialoge und fast ohne professionelle schauspielerische Unterstützung hat der Regisseur ein Experiment gewagt, das definitiv gelungen ist. Im Film begleitet er seinen befreundeten Fotografen bei der Arbeit und schöpft aus dessen alltäglicher Routine eine unkonventionelle Geschichte. Der Film stellt eine bittere Ohrfeige an das Mainstreamkino und die Filmindustrie dar und ist mit Sicherheit die stärkste und innovativste Filmproduktion des Jahres.
Der bulgarische Beitrag Vezdesashtiat (Omnipräsent, 2017) von Ilian Djevelekov führt den Zuschauern vor Augen, wie zerstörerisch sich die totale Überwachung durch Kameras auf das Leben eines Menschen auswirken kann. Auswirkungen anderer Art zeigte die slowenisch-serbische Coproduktion Družinica (Die Familie, 2017) von Jan Cvitković, die die Geschichte einer jungen Familie in einer schweren finanziellen Krise präsentiert, während der russische Beitrag Golova. Dva Ucha (Ein Kopf. Zwei Ohren, 2017) von Vitalij Suslin den Haupthelden des Films, Ivan, auf ein unerwartetes Abenteuer in die Großstadt schickt. Auch hier spielt Geld eine zentrale Rolle. Iulia Rugină war mit ihrem rumänischen Filmbeitrag Breaking News (Breaking News, 2016) die zweite Regisseurin im diesjährigen männerdominierten Wettbewerb und präsentierte eine sehr eindrückliche Geschichte rund um den Journalisten Alex, der für brisante Geschichten seine moralischen Grenzen herausfinden muss. György Kristófs Roadmovie OUT (OUT, 2017) und Peter Bebjaks Mafiakrimi Čiara (Die Linie, 2017) beschäftigen sich mit den Nachbarländern Ukraine und Slowakei in unterschiedlichen Genres und wurden an den letzten Festivaltagen gezeigt.
Anna Jadowskas Dzikie Róże (Wilde Rosen, 2017) war dieses Jahr neben dem ukrainischen Beitrag ohne Zweifel sowohl technisch als auch im Hinblick auf die schauspielerische Leistung die herausragendste Produktion. Ewa – eine junge Mutter in der polnischen Provinz – wagt die Dogmen der patriarchalischen Dorfgesellschaft aufzubrechen und kämpft für ihr privates Glück. Eine fesselnde Geschichte mit einer starken Frauenfigur im Mittelpunkt.
„Unerwartetes aus Belarus“
In der Sektion „Specials/Belarus“ wurden vor allem Kurzfilme präsentiert, nur ein Langspielfilm war im Programm. Was aber keinesfalls ein Nachteil war, da so eine größere Vielfalt und ein besserer Einblick in aktuelle Themen, die Land und Leute beschäftigen, geboten werden konnte. Die Dreierreihe Vostrau Malaka (Die Milchinsel, 2016) / Druya (Druja, 2016) / Myazaha Narvilishak (Die Grenze von Norviliskes, 2014) setzte sich mit dem Leben an der EU-Außengrenze auseinander und zeigte eindrucksvoll, welche Probleme mit dieser Lage einhergehen, welche historischen Ursachen sie haben und wie unterschiedlich sich die Grenzstädte entwickeln. Die Reihe Unerwartetes aus Belarus (2015–2017) griff hingegen ganz unterschiedliche Themen auf. Das Spektrum reichte von der urkomischen, satirischen Geschichte über die ‚freie‘ Wahl eines neuen Hauswarts, bei der nur ein Kandidat zur ‚Auswahl‘ steht, über experimentelle Arbeiten und bitterernste, aber zugleich ästhetische Dokumentationen zu häuslicher Gewalt oder über junge, krebskranke Menschen, bis hin zum Verlernen echter Kommunikation in Zeiten der sozialen Netzwerke. So war dann einiges gar nicht so unerwartet wie der Titel suggeriert.
Eher ungewöhnlich war dafür das Projekt Chronotop (Chronotopos, 2015), das der Regisseur Andreij Kudinenko bereits 2014 initiiert hatte. Im Rahmen des Projekts hatten verschiedene FilmemacherInnen die Möglichkeit, sich frei mit dem Thema Mythologie auseinanderzusetzen. In den daraus entstandenen Kurzfilmen liegen dann sprechende Fische, die drei Wünsche erfüllen, im Kofferraum, verführen Waldgeister ahnungslose Männer oder jagen Dämonen einem Antiquitätenjäger gehörige Angst ein. Der Bezug zur Mythologie ist mal stärker, mal schwächer gegeben. Trotz der unterschiedlichen Perspektiven und Darstellungen war aber dennoch der gemeinsame Nenner erkennbar und zeigte zugleich, wie verschiedenartig das belarussische Kino sein kann. Das bestätigen auch die weiteren Filme in der Reihe „Specials/Belarus“, die Themen wie Umweltverschmutzung, Regime-Kritik oder Alkoholismus und das hoffnungslose Leben auf dem Land aufgriffen.
Die Entscheidung der Festivalleitung, einen großen Teil der Sektion „Specials“ den belarussischen Filmen zu widmen, war daher mehr als lohnenswert und nicht zuletzt auch ein wichtiger Beitrag dazu, das belarussische Kino nicht im Schatten großer mittel- und osteuropäischer Filmnationen wie Polen oder Russland untergehen zu lassen.
Russischer Tag
Der erste Festivaltag stand ganz im Zeichen des aktuellen russischen Kinos. Die Sektion „Russkij Den’“ versammelte fünf Spielfilme aus den letzten zwei Jahren und sechs Kurzfilme aus der ältesten Filmhochschule der Welt: der Moskauer VGIK. Thematisch griffen die Filme in erster Linie sozialkritische Problematiken auf, sei es der religiöse Fanatismus oder Alkoholismus, mangelnde medizinische Betreuung und polizeiliche Ignoranz. Besonders ragten aus dem Programm das Liebesdrama Aritmija (Arrhythmia, 2017) von Boris Chlebnikov und die dramatische Familiengeschichte Neljubov’ (Loveless, 2017) von Adrej Zvjagintsev hervor. Während Chlebnikov in seinem Film das Leben eines jungen verheirateten Ärztepaars in einer kritischen Lebensphase beleuchtet und die Kraft der Liebe betont, kreist der Film des renommierten russischen Regisseurs Zvjagintsev um eine Familie, in der die Liebe schon längst verschwunden ist und die Protagonisten dafür hart büßen müssen.
Auch Jazyčniki (Heiden, RU 2017) von Lera Surkova spielt in dieser Dimension: Eine kleine Familie aus Vater, Mutter und Tochter hat sich völlig auseinandergelebt, keine/r weiß vom anderen, was er/sie eigentlich wirklich macht. Da taucht eines Tages die tiefgläubige Großmutter väterlicherseits auf und versucht die Differenzen innerhalb der Kleinfamilie durch die Religion zu kitten. Was anfänglich zu funktionieren scheint, eskaliert letztendlich im Sturz der Tochter vom Balkon – und zwar an Ostern. Erst jetzt, als die Tochter in Lebensgefahr schwebt, setzt bei den Eltern ein Prozess des Umdenkens ein und somit steht das religiöse Fest symbolisch für den Neuanfang in der Familie – ganz ohne Religion.
Festivalresümee
Insgesamt hat das 27. FilmFestival Cottbus – wie bereits letztes Jahr – wieder sehr viel Abwechslung und interessante Beiträge geboten. Dass dabei einige Länder und Kategorien mehr im Vordergrund standen als andere, ist durchaus positiv zu bewerten. Insbesondere der aserbaidschanische Wettbewerbsbeitrag, die Konzentration auf Belarus in der Sektion „Specials“ oder der Fokus auf das ehemals kommunistische Vietnam in der gleichnamigen Sektion zeugten von einem wichtigen Perspektivwechsel. Durch die stärkere Konzentration auf neue Bereiche ist aber die Sektion „Polskie Horyzonty“ zu kurz gekommen und war, trotz der an sich starken Präsenz polnischer Produktionen, unterrepräsentiert. Es gab nur eine kleine Film-Auswahl innerhalb dieser bereits traditionellen Reihe. In den anderen Sektionen waren aber viele polnische Filme zu finden. So hatte z.B. die Sektion „Nationale Hits“ Filme wie Wołyń (Wolhynien, PL 2016) und Sztuka Kochania (Die Kunst der Liebe, PL 2017) zu bieten. Diese Sektion umfasste aber natürlich auch Produktionen aus anderen Ländern wie z.B. Jan Sveraks Beitrag Po Strnisti Bos (Barfuß, CZ 2017), der den diesjährigen Publikumspreis gewann.
Ebenfalls sehr gut wurde vom Publikum der erste Teil Der langen Nacht der kurzen Filme angenommen, die trotz der genrebedingten Kürze und den ernsten Themen einen erheiternden Abend bot. Der übervolle Saal reagierte sehr lebendig auf einzelne filmische Beiträge und nach jedem Film gab es ein kurzes Gespräch mit den RegisseurInnen, die einen tieferen Einblick in den Produktionsprozess der jeweiligen Kurzfilme geben konnten. Die Komödie Lalay-Balalay (Karussell, RU 2017) von Ruslan Bratov konnte sich dabei den Spezialpreis im Wettbewerb Kurzspielfilm sichern; das Drama Atlantida, 2003 (Atlantis, 2003, SK/CZ 2017) von Michal Blasko, das im zweiten Teil Der langen Nacht der kurzen Filme lief, erhielt den Hauptpreis.
Es bleibt abzuwarten, welche Schwerpunkte und Themen für das 28. FilmFestival in Cottbus vorgesehen sind. Eine große Bandbreite ist erfahrungsgemäß zu erwarten und allein das lässt schon Vorfreude auf das nächste Jahr aufkommen.
Rezensionen zu einzelnen Filmen, vor allem aus der Sektion „Wettbewerb Spielfilm“, sind bei unserem Kooperationspartner Read Ost erschienen:
Der gute Mensch in einer schlechten Welt von Julia Kling
Suslins Tragikomödie Golova. Dva Ucha (Ein Kopf. Zwei Ohren, 2017) beruht auf einer wahren Begebenheit, in der Ivan Lašin sich selber spielt und dabei das traurige Schicksal des russischen Gegenwartsmenschen verkörpert. mehr
Im Zweifel für den Angeklagten? von Lea Seitz
Manch einer mag meinen, Dokumentarfilme und Krimis lägen um Welten auseinander. Nun, weit gefehlt: Regisseur Maciej Pieprzyca beschäftigt sich nach seiner Dokumentation aus dem Jahre 1998 erneut mit der Thematik des „schlesischen Vampirs“. Gelungen ist ihm mit Jestem modercą (I’m a killer) ein hochspannender Thriller mit grandioser Charakterentwicklung, der überdies beim Filmfestival Cottbus ausgezeichnet wurde. mehr
Die nackte Wahrheit über unsere Gesellschaft von Arvid Thamm
Der russische Filmregisseur Andrej Zvjagintsev gewann in seiner noch jungen Karriere schon einige Preise für seine Werke. Spätestens mit seinem Russland kritischen Film Leviathan (2014) beeindruckte er nicht nur russisches Publikum und erhielt eine Reihe hochkarätiger internationaler Auszeichnungen. Mit seinem aktuellen Film Neljubov’ (Loveless, 2017) liefert er wieder ein Werk auf internationalem Topniveau, welches nicht ohne Grund für einen Oscar, Golden Globe und Independent Award nominiert ist und zwei Titel beim europäischen Filmpreis 2017 gewann. mehr
Totalitäre Überwachung – Big Brother is watching you? von Ann Milz
Das packende Drama Vezdesashtiat (Omnipräsent) von Regisseur Ilian Djevelekov zeigt die zunehmende Besessenheit eines glücklichen Familienvaters, permanent Familie, Freunde und Kollegen mit versteckten Kameras auszuspähen. Was als unschuldiges Hobby begann, endet schon bald in einer Katastrophe… mehr
Bereit für eine neue gemeinsame Zukunft? von Olga Pokrzywniak
Es ist ein Film, der auf einer wahren, brutalen und blutigen Geschichte basiert. Wojciech Smarzowski stellt in seinem neuesten Film Wołyń (Wolhynien) den Konflikt zwischen Polen und den Ukrainern tiefgründig und schonungslos dar. mehr