Im Januar 1964 reist Ingeborg Bachmann nach Prag. Sie reist nicht allein, aber mit verwüstetem Herzen, die Trennung von Max Frisch ist noch nicht lange her und hat sie tief verletzt. Und dann ist da noch Berlin, wo sie seit einigen Monaten lebt und das so gar nicht geeignet ist, ihre existenzielle Verzweiflung zu lindern. Vielmehr wird sie dieser Stadt, die ihr eine „Chiffre für Krankheit und Zerstörung“ (Hans Höller) ist, später in diesem Jahr mit ihrer Büchner-Preis-Rede ein Denkmal aus wahnhaften, versehrten Bildern setzen: „ da ist nichts mehr, nur verkohlte Knöchelchen, angekohlter Boden, kein ganzes Skelett, nur Knöchelchen.“
Schallmauer, ein Gedichtentwurf aus dem Nachlass, der dem Umfeld von Bachmanns Berlin-Erfahrung und ihrer Büchner-Preis-Rede zugerechnet wird, sekundiert, krankend am zerstörerischen „Lärmteppich“ der Großstadt: „ dieser Wahn; es ist nicht | mehr, nichts ist mehr, und es ist nicht mehrwweit (sic) “ Es ist freilich ein Lärm, der den Topos der tobenden Großstadt, welcher zu Beginn des letzten Jahrhunderts evident wurde, übersteigt; es ist ein Lärm, der nicht nur von den Flugzeugen verursacht wird, die die schwülen Krankenzimmer der Büchner-Preis-Rede durchdröhnen, sondern der verquickt ist mit den Wahngesängen der unter der Oberfläche schwärenden Erfahrungen von Geschichte und Gewalt. „Berlin ist aufgeräumt.“ Berlin ist beschädigt. Ingeborg Bachmann ist es auch.
Ganz anders Prag: Auf den „Eisfährten“ in den Entwürfen zwischen Wenzelsplatz, Jüdischer Friedhof und Poliklinik Prag erfährt der Schmerz Linderung. Der Schnee kühlt die Wahrnehmung, die der Wahn in Berlin versengt hatte. Das verstörte Ohr wird stillgestellt, das Auge sieht „rauchend | sprachlos vor Kälte die Münder“, das Denken wird zu einer fast unbewegten Winterlandschaft: „Es raucht nur, wölkt sich, vor sich hin denkt | sich ein jeder, denkt sich nichts. Wozu auch | und warum hier.“ Freilich ausgehend von Orten des Leids und des Todes – Poliklinik Prag, Jüdischer Friedhof – wandelt sich die Verzweiflung, die nun keine rasende mehr ist, sondern eher von melancholischer Milde. Zwischen den Grabsteinen, „keiner ohne den andern zu denken“, entsteht eine Art Zuversicht: „Wer den Ausgang erreicht, hat nicht den Tod, sondern den Tag im Herzen.“
Prag ist gleichsam ein Wintermärchen für Ingeborg Bachmann. In der Spannung von tiefer Verletzung und, wenn auch nicht Heilung, so doch der Hoffnung darauf, dass nicht alles zerstört sei, dass es weitergehen werde, entsteht eines ihrer berühmtesten Gedichte: Böhmen liegt am Meer. Sie wird später sagen: „Für mich ist es ein Geschenk, und ich habe es nur weiterzugeben an alle anderen, die nicht aufgeben zu hoffen auf das Land ihrer Verheißung.“ Das Land der Bachmannschen Verheißung hatte zuerst Shakespeare in seinem späten Stück The Winter’s Tale entdeckt: „Bohemia. A desert country near the sea.“ Jetzt, 1964, auch dies ein Jubiläumsjahr von 1914, der ersten großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts, die der Abbreviatur k. u. k. endgültig die Bestimmung Krise und Katastrophe aufgeladen hatte, wird es zur Ahnung einer versunkenen Gegenwelt, eines „zugrund“ gerichteten Kulturraums. Es ist eine alte unvergängliche Nichtwelt, dieses Böhmen am Meer, das die Jahrhunderte und die Literatur durchreist und darin eine Heimat bietet, in der nun Ingeborg Bachmann in ihrer Zerstörung aufgehen?, aufgeben? und trotzdem sagen kann: „Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren.“
Die Gleichzeitigkeit von Trauer und Hoffnung, Zerstörung und Unverlorenheit, Österreich und der Welt, die dem Gedicht Böhmen liegt am Meer eignet, vielmehr: die sich ereignet, lässt sich freilich nicht mehr einholen. „Das Heulen des Winterwolfs ist leiser geworden. | Die Wölfe verlassen das Land“, heißt es in den ersten Entwürfen zu dem Gedicht Enigma, das in seiner endgültigen Fassung zwischen 1966 und 1967 entstand und eines ihrer letzten veröffentlichten Gedichte bleiben sollte. Zusammen mit den Wölfen, die durch die frühen Fassungen streichen, wird auch der ursprüngliche Titel Auf der Reise nach Prag weichen. Die Zeilen lichten sich; was stehen bleibt, wird umfangen von einer an den Katastrophen ermüdeten Sprachlosigkeit, die leere Zukunft geschaut hat: „Nichts wird mehr kommen.“ Eine Musik spielt noch, die sagt: „Du sollst ja nicht weinen. Sonst | sagt | niemand | etwas.“
Past forward. Dieser Tage ist es still in Berlin. Das Feuilleton hebt an, sich der „Urkatastrophe der Moderne“ (Jens Jessen) zu vergewissern. Wir schlagen die Bücher auf. Ach, ahoj, Europa: so viel verheert, so viel versunken auch.
von Janika Rüter
Literatur:
Bachmann, Ingeborg: Ein Ort für Zufälle. Mit dreizehn Zeichnungen von Günter Grass. Berlin 1968.
Bachmann, Ingeborg: Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen. Edition und Kommentar von Hans Höller. Frankfurt am Main 1998.
Albrecht, Monika/Göttsche, Dirk (Hg.): Bachmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2013.
Literatur-Verein i:b: http://www.ingeborg-bachmann.cc