© 2020 Vivo film, maze pictures, Piano

Seelensuche: Abel Ferraras Film „Siberia“ löst den Topos vom Territorium

Auf den diesjährigen Internationalen Filmfestspielen Berlin 2020 (Berlinale) feierte Siberia von Abel Ferrara Weltpremiere. Im Film unternimmt ein männliches Ich, gespielt von Willem Dafoe, eine Fahrt durch die Schneelandschaften Sibiriens und begibt sich so auf eine Reise in die Tiefen der Seele, der Erinnerung und des Unbewussten. Das Durchqueren des Grenzraums Sibirien ist zugleich Grenzübertritt in ein persönliches Jenseits des Protagonisten.

Warum trägt ein amerikanischer Film, dessen Schauplatz trotz Husky-Schlitten unverkennbar die Alpen sind, und dessen Story sich auf die durchaus bildgewaltige Visualisierung der (Männer)Phantasie eines alternden Egoisten, der sich eigenbrötlerisch aus der Welt zurückgezogen hat, beschränkt, den Namen „Siberia“?

 

In der Berlinale-Pressekonferenz antwortet Ferrara auf eine Frage zum Titel ziemlich unbestimmt: Er wüsste eigentlich nicht, wie es zu diesem Titel gekommen sei. Für einen Amerikaner bedeutete Sibirien Exil, Kälte, Einsamkeit. Dann wendet er sich an die beiden russischen Darstellerinnen: Vielleicht wüssten sie als Russinnen ja eine bessere Antwort. Darauf antwortet nur die eine, dass sie keine genauere Definition bräuchte, da sie schon wüsste, was „Sibirien“ bedeutet. Auch wenn diese Aussagen des Regisseurs und der Darstellerinnen äußerst vage klingen, so scheint doch der Titel den Schlüssel für das Verständnis des Films zu geben, der von vielen als sujetlos chaotisch, ohne roten Faden oder in seiner narrativen Syntax kontingent kritisiert wird.

 

Hat man einen gewissen Überblick über die Mythopoetik Sibiriens, und weiß, dass sie nicht nur in der russischen Literatur, sondern auch in den meisten europäischen Literaturen präsent und produktiv ist (weil Sibirien für Gesamteuropa seit dem 16. Jahrhundert ein wichtiger Entdeckungs-, Kolonisations- und Verbannungsraum war), so ist man im Bilde darüber, dass sich in den Sibirientexten, welche größtenteils Reisen – sei es Verbannung, Expedition, Migration oder einfach Versetzung – beschreiben, ein Narrativ entwickelt und etabliert hat, in welchem Sibirien als Grenzraum, als liminaler Raum im Sinne Victor Turners und Außengrenze nicht nur Russlands, sondern des Raums des Menschen, der Kultur und des Irdischen an sich fungiert. Seit Avvakum und bis Šalamov und darüber hinaus werden Verbannungen nach Sibirien als Passage, als Grenzübertritt in ein irdisches Jenseits, als symbolischer Tod erzählt und die Rückkehr – wenn es sie gibt – als eine Art Wiederauferstehung.

 

Aus dieser Perspektive betrachtet, lässt sich ganz einfach erkennen, dass Ferraras Film genau so eine Geschichte erzählt, dass er die vorhandene Mythopoetik – die er persönlich vielleicht gar nicht bewusst kennt – nutzt, um Sibirien, die Fahrt des Protagonisten mit den Schlittenhunden durch die Schneelandschaft als Reise in die Tiefen der Seele, der Erinnerung und des Unbewussten, d.h. in ein persönliches Jenseits zu inszenieren. Damit buchstabiert er quasi einen Dialog ganz am Anfang des Films aus, wo die Aussagen „Meine Seele ist in mir“ und „Die Seele ist außerhalb, du musst sie suchen“ einander gegenübergestellt werden. So verstanden, erklärt sich auch die letzte Szene, über die viele im Publikum gelacht haben. Am Ende der Schlittenreise kehrt der Protagonist zum Ausgangspunkt zurück: Zu einer Hütte in den Bergen über der Baumgrenze, in der der Protagonist als Wirt früher Gästen aus der ganzen Welt, deren Sprachen er bei weitem nicht immer verstand (genau wie die meisten im Publikum, da es dafür keine Untertitel gibt), ausgeschenkt hat. Aber er findet die Hütte nur zerstört bzw. niedergebrannt und die Reste mit Schnee bedeckt vor. Er macht sich ein kleines Feuer und übernachtet mit seinen Hunden in den Trümmern, als der Peru-Indianer, der schon am Anfang der Geschichte als erster zu Besuch kam, wieder auftaucht und zwei dicke Fische zum Essen mitbringt. Den einen Fisch grillen und essen sie zusammen, dann schläft der Protagonist ein. Als er wieder aufwacht, ist der Peruaner verschwunden; nur der zweite Fisch liegt noch in einer Schüssel. Und auf einmal beginnt dieser Fisch – ebenfalls in einer unverständlichen Sprache – zu sprechen. Der Protagonist läuft hin, fühlt sich angesprochen, sein Blick richtet sich hinunter zu dem Fisch und von dort hinauf in den blauen, leicht wolkigen Himmel über den Bäumen und den Berggipfeln, der sich in dieser Einstellung wie ein Deckenfresko einer barocken Kirche ausnimmt. So endet der Film: Die Passage des Protagonisten durch seine Erinnerungen und sein Unbewusstes ist an ihr Ziel gekommen. Die irdische Unbehaustheit, die mit der Zerstörung der letzten Unterkunft besiegelt wurde, ist zu Ende.

 

Foto: © 2020 Vivo film, maze pictures, Piano

 

Weiterführende Links

Siberia auf berlinale.de

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