Ein Ort, kein Raum und ein Zimmer. Tamta Melaschwili am Zürichsee
Das vorliegende Gespräch mit Tamta Melaschwili entstand im Rahmen eines Pilotprojekts von Litradio Zürich. Das Format “ctrl. x” widmet sich den halbjährlich in Zürich weilenden “Writers in Residence” und bittet sie darum, einen literarischen Schnappschuss zu einem Ort in der Gaststadt zu erstellen. Das darauf aufbauende Gespräch findet am ausgewählten Ort statt. Tamta Melaschwili berichtet am Zürichsee über ihre Orte des Schreibens, das Verschwinden des Raums im Krieg und von den Frauen im literarischen Raum.
Tamta Melaschwili wurde 1979 in Ambrolauri, Georgien geboren. Nach dem Schulabschluss zog sie in die georgische Hauptstadt Tbilissi und begann, Internationale Beziehungen zu studieren. Sie brach das Studium ab und lebte daraufhin ein Jahr in Deutschland, wo sie zu schreiben anfing. 2008 schloss sie das Studium der Gender Studies an der Central European University in Budapest ab. Gegenwärtig lebt Tamta Melaschwili in Georgien und engagiert sich für Frauenrechte und Genderfragen. Sie forschte zu weiblicher Migration und veröffentlichte u.a. Georgian Women in Germany – Empowerment through Migration? Empowering Aspects of Female Migration (Saarbrücken 2009). Ihre ersten Erzählungen publizierte Melaschwili in einem Literaturportal, wovon einige in Anthologien aufgenommen wurden. Ihr Romandebüt Abzählen wurde mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2013 ausgezeichnet. Von Anfang Dezember 2014 bis Ende Mai 2015 ist Tamta Melaschwili Writer in Residence am Literaturhaus Zürich, wo sie an ihrem zweiten Roman arbeitet.
Auf novinki ist im April 2013 bereits ein Interview mit Tamta Melaschwili erschienen, das auf politische Aspekte und die Situation in Georgien fokussiert. Ausserdem findet man auf novinki eine Rezension ihres Erstlings Abzählen.
Tamta Melaschwili | Zürichsee
Aus dem Englischen von Nina Seiler.
Ich starte an der Bushaltestelle Bürkliplatz und überquere die Kreuzung bei grünem Licht. Jetzt bin ich auf der anderen Seite, der Seeseite.
Ich gehe an der Zürcher Blumenuhr vorbei, passiere die kleine Brücke und gehe durch die Allee, durch die Bäume. Ich erinnere mich an die Bäume. Sind sie grösser geworden?
Ich sehe die Bänke unter den Bäumen. Eine, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht. Sind sie schon hier gewesen, damals? Höchstwahrscheinlich. Sieben davon sind leer, verlassen. Ein Radfahrer mit seinem Fahrrad besetzt die eine Bank. Ich schaue auf seinen Rücken, sein Blick ist auf den See gerichtet. Höchstwahrscheinlich.
Ich bleibe stehen. Ich sehe den Brunnen, und dann ein rotes Backsteinhaus, das Rote Schloss. Ich erinnere mich an das Haus. All die konfus-verschwommenen Bilder von den Städten und Orten, an denen ich jemals war, sind plötzlich – weg. Sie sind verschwunden.
Mit einem leichten Beschämen erkenne ich den Ort. Nach zehn Jahren bin ich wieder hier, aber ohne ihn. Er, mein Zürichseegefährte, war ein unvermittelter Gast in meinem Leben. Und ich war dasselbe für ihn. Unsere Wege haben sich gekreuzt, um sich wieder zu verlieren.
Jetzt unter diesen Bäumen ist sein Gesicht viel weiter weg, und mein Blick ist auf den See gerichtet.
In diesen zehn Jahren haben wir nie versucht, uns zu erreichen. Und wir werden es nie tun.
Höchstwahrscheinlich.
novinki: Tamta Melaschwili, du bist als Writer in Residence zurück nach Zürich gekommen und beschreibst einen Ort, den du von deinem letzten Aufenthalt in Zürich vor zehn Jahren erinnerst. Im Moment sitzen wir im Kongresshaus direkt neben dem Roten Schloss. Aus dem Fenster sieht man den See und die Bäume.
Im literarischen Schnappschuss, den du uns vorlegst, eröffnen der Platz am Seeufer und das Rote Schloss einem Erinnerungsraum. Wie würdest du das Verhältnis von Ort und Erinnerung beschreiben?
Tamta Melaschwili: Nun, ich denke, dass Orte und Erinnerung sehr stark miteinander verbunden sind, zumindest für mich. Einige Erinnerungen sind an Orte gekoppelt, wie in dem Beispiel, von dem ich geschrieben habe. Ich war vor zehn Jahren hier, aber es war damals viel wärmer. Ich glaube, es war Juni. Als ich vor einem Monat wieder hier vorbeikam, hatte ich das seltsame Gefühl, dass ich mich an den Ort erinnere. Dann erst erkannte ich das Rote Schloss. Ich erinnerte mich an das Haus, es ist sehr schön. Und danach kamen die Erinnerungen.
n.: Haben Orte, die Erinnerungen hervorrufen, etwas Spezielles an sich? Ist es ein Zufall – etwa wie die flüchtige Bekanntschaft, die du beschreibst –, dass gerade das Rote Schloss und die Bank am Seeufer deine Erinnerung stimulieren? Oder gibt es hier etwas, das den Ort besonders tief in dein Gedächtnis einschreibt?
T.M.: In diesem Fall war es wohl der Ort selbst. Als wir vor zehn Jahren in Zürich waren, haben wir auch andere Orte besucht, aber an sie kann ich mich nicht erinnern.
n.: Was könnte der Grund dafür sein?
T.M.: Wahrscheinlich, weil ich den Ort so schön fand. Allgemein denke ich aber, dass Orte oder der Raum selbst nicht für sich existieren. Es ist vielmehr deine Wahrnehmung des Raums, die sich in die Erinnerung gräbt.
n.: Du beschreibst den Ort aus deiner jetzigen Perspektive, während du dich in der Erinnerung zehn Jahre zurückversetzt. Ist es immer noch derselbe Ort für dich, oder hat sich die Stadt verändert?
T.M.: Der Ort ist derselbe geblieben, abgesehen von den Bäumen – ich glaube, sie sind grösser geworden. Irgendwo habe ich noch ein Foto, auf dem ich auf einem Ast sitze. Ich habe mir die Bäume jetzt angeschaut und gedacht, dass das unmöglich ist. (lacht) Aber ich habe Zürich so schön wiedergefunden, wie es vor zehn Jahren war.
n.: Was sind die Schreibszenarien, die für deine aktuelle Arbeit fruchtbar sind? Wie beeinflussen die konkreten Orte, an denen du arbeitest und lebst, dein Schreiben? Was kannst du aus dieser Perspektive über Zürich sagen im Vergleich zu anderen Orten, an denen du gelebt hast?
T.M.: Ich glaube, dass für mich dieser Ort hier der beste ist, um zu schreiben. Ich bin eine Writer in Residence und arbeite an meinem zweiten Roman. Der Prozess des Schreibens ist ein ganz anderer als bei Abzählen. Abzählen habe ich vor vier Jahren geschrieben, im Sommer. Dieser Text war mein Protest gegen Krieg und Gewalt. Es war ein sehr starker Ausdruck meiner Gefühle, meiner Wut, die ich damals hatte. Und irgendwie lief der Schreibprozess teilweise unbewusst ab. Heute bin ich ruhiger, bewusster. Deshalb scheint mir hier der richtige Ort zum Schreiben zu sein.
n.: Also denkst du, dass verschiedene Bücher unterschiedliche Orte haben, an denen sie entstehen, oder wo sie geschrieben werden sollten?
T.M.: Vielleicht. Ich denke vor allem, dass Kreativität verschiedene Modi einnehmen kann.
n.: Hast du denn mit deinem zweiten Roman bereits angefangen, bevor du nach Zürich kamst?
T.M.: Nein. Ich habe alle Notizen erstellt, bevor ich herkam. Dann bin ich am 8. Dezember hier angekommen und am 10. habe ich angefangen zu schreiben. (lacht) Ein solches Vorgehen ist sehr ungewöhnlich für mich, aber es ist auch für mich selbst spannend zu sehen, wie ich das mache. Es ist eine interessante Schreiberfahrung.
n.: Du schreibst also einfach jeden Tag, oder hast du einen genauen Plan, wann du was schreiben willst?
T.M.: Ich habe keinen konkreten Plan, aber ich schreibe jeden Morgen. Ich beginne bei meinem Morgenkaffee zu schreiben. Ich bin sehr produktiv am Morgen, wie sich herausgestellt hat. (lacht)
n.: Im Nachwort zu Abzählen erwähnst du zwei Schreibsituationen, die auf dein literarisches Schaffen Einfluss nahmen. Die erste ist ein sehr restriktives Szenario, in dem beinahe kein Raum zum Schreiben besteht: Während des Kriegs in Georgien, in deinen Teenagerjahren, durftest du kein Papier und keine Stifte verschwenden, weshalb du schliesslich in die gebrauchten Physikhefte deines Onkels schriebst, zwischen Formeln und Übungen. Analog dazu nennst du die verlassene Wohnung, wo du Abzählen schriebst, eine „Schreibzelle“, einen eingegrenzten und limitierten Raum. Den Ort, wo du wieder zu schreiben begonnen hast, nachdem du es während des Studiums zwischenzeitlich aufgegeben hattest, nennst du im Gegensatz dazu einen Raum der Freiheit – ein ruhiges und fremdes Städtchen zwischen Deutschland und der Schweiz. Dass offene Räume kreatives Schaffen fördern, hört man oft, aber was ist mit den limitierten Räumen? Gibt es noch eingegrenzte Räume, die dein Schaffen beeinflussen?
T.M.: Es war der eingegrenzte Raum, der während des Schreibens von Abzählen auf mich gewirkt hat. Du erwähnst die „Schreibzelle“. Ich glaube, für dieses Buch war die „Schreibzelle“ der richtige Ort zum Schreiben. Denn es handelt von einer Konfliktzone, vom Leben der Teenager in dieser Konfliktzone; es geht um Krieg. Der Krieg selbst schränkt den Raum der Menschen auf eine sehr dramatische Weise ein.
n.: In diesem Umfeld, wo der Krieg – physisch und psychologisch – den kompletten Raum einnimmt, scheinen aber die Protagonistinnen in Abzählen ihre eigenen Räume zu erschaffen. Sie tanzen in verlassenen Häusern, rauchen dort Zigaretten und führen Gespräche übers Erwachsenwerden. Für Zknapi aber schlägt der kriegsdurchzogene Raum fatal zurück, als sie mit gestohlener Babynahrung für ihren Bruder über ein Minenfeld zu entkommen versucht.
Welche Rolle spielen verschiedene Ausprägungen des Raums in Abzählen?
T.M.: Es gibt nur einen Raum, und der wird vom Krieg verschlungen. Ich habe das persönlich durchgemacht. 2008, während des Augustkriegs, war ich mit meiner Schwester in unserer Heimatstadt. Ihr Sohn war damals etwa drei Monate alt. Als der Krieg begann, wurden nahe gelegene Ortschaften bombardiert, wir konnten die Explosionen hören. Wir waren zu Hause, als plötzlich dieses Militärflugzeug über uns hinwegflog. Wir brachen in Panik aus. Wir rannten vom Haus weg, durch den Garten und zu einem anderen Gebäude, um uns dort im Untergeschoss zu verstecken. Es war dieselbe Distanz, derselbe Raum wie damals, als ich hier aufwuchs. Ich hatte die ersten sechzehn Jahre meines Lebens hier verbracht. Der Garten war derselbe, die Bäume waren dieselben, die Gebäude ebenso. Aber plötzlich, während des Rennens, fühlte ich, dass es überhaupt keinen Raum mehr gab, keinen Ort. Deshalb war mein Roman auch ein Protest dagegen, keinen Raum zu haben, gegen das, was die Menschen während eines Kriegs durchleben.
n.: Die Struktur von Abzählen dreht sich stets im Kreis, von Mittwoch über Donnerstag zu Freitag, bis der tödliche Freitagabend der Kriegsgeschichte ein Ende setzt. Diese zerstückelte Zeitstruktur, ebenfalls ein eigentliches Abzählen, scheint die Tage aufzulösen. Sie reisst den chronologischen Ablauf unwiederbringlich auseinander. Die Handlungen können nicht mehr stimmig zusammengefügt werden. Wie bist du auf dieses zyklische Erzählen gekommen, und welchen Effekt hattest du dabei im Sinn?
T.M.: Als ich den Text schrieb, habe ich nicht darauf geachtet. Jetzt denke ich, dass ich auch damit den eingegrenzten Raum des Kriegs zeigen wollte, indem ich mich auf diese drei Tage beschränkte. Auch die Sätze sind ziemlich kurz, was wiederum auf die Gefühle der Menschen verweist, auf ihre Anspannung, und wie sie unter solchen Umständen traumatisiert werden. Du empfindest die Dinge ganz anders als normalerweise. Es war die schlimmste Erfahrung, die ich je gemacht habe.
n.: Ninzo und Zknapi, die beiden jugendlichen Protagonistinnen in Abzählen, verbindet eine enge Freundschaft und gleichzeitig eine Rivalität in Bezug auf ihre jeweilige physische Entwicklung. Ihr ungleicher Wettlauf dahin, endlich eine erwachsene Frau zu werden, scheint aber irgendwie in der Luft zu schweben: Es gibt keinen Platz mehr in der kriegsversehrten Gegend für junge Frauen. Gerade die Attraktivität der frühreifen Ninzo in den Augen der ‚anderen’ Soldaten befördert sie ins soziale Niemandsland zwischen den Fronten. Dennoch scheint dieser Wettstreit der beiden Mädchen um die Geschlechternorm ihre letzte Verbindung zu einer vom Krieg verschonten, normalen Gesellschaft zu sein.
T.M.: Auch in einer Konfliktzone sind Mädchen immer noch Mädchen. Frauen sind immer noch Frauen. Wenn sie in einer friedlichen Gegend wohnen würden, wäre es dasselbe. Ninzo wäre für die Männer sogar noch attraktiver. Der Geschlechteraspekt ist aber auch im Krieg immer noch vorhanden. Ich wurde bereits mehrere Male gefragt, warum ich ausgerechnet Jugendliche als Protagonistinnen wählte. Wahrscheinlich hängt es damit zusammen, dass ich selbst ein prä-Teenager war, als der Bürgerkrieg anfing; ich war elf Jahre alt.
n.: Virginia Woolf schreibt, dass „ein Zimmer für sich selbst“ zu haben, also wörtlich und bildlich gesprochen über Raum zum Arbeiten zu verfügen, eines der essentiellsten Erfordernisse für Schriftstellerinnen ihrer Zeit war, als der literarische Kanon und die Schriftstellerei noch stark männlich geprägt waren. Gibt es heute noch ein Bedürfnis nach eigenen Räumen für Frauen in der literarischen Welt? Wenn ja, wie würden diese aussehen? Welche Art von Frauenräumen schwebt dir vor?
T.M.: Ja, ich glaube, es gibt noch immer ein Bedürfnis nach einem eigenen Raum. Es hat sich aber vieles im positiven Sinne verändert. Woolf schrieb ihren Text ja vor fast hundert Jahren, und mittlerweile sind Frauen in einer besseren Position. In Georgien etwa, um ein einfaches Beispiel zu geben, gibt es ein Verlagshaus, das jährlich die fünfzehn besten Kurzgeschichten publiziert. Vor acht oder zehn Jahren waren vielleicht zwölf Männer und drei Frauen vertreten. Heute hat sich die Statistik verändert, weibliche und männliche Autor_innen sind gleichermassen präsent. In Georgien haben Frauen nun tatsächlich ihre eigene Stimme, es gibt viele gute Dichterinnen, und einige junge Frauen, die zu schreiben angefangen haben, sind wirklich vielversprechend. Deshalb bin ich sehr optimistisch, sogar im Fall von Georgien. (lacht) Natürlich hat sich auf globaler Ebene einiges getan, aber es gibt immer noch regionale Unterschiede.
n.: Hast du spezifische Erfahrungen als Frau in der literarischen Welt, innerhalb des Literaturbetriebs gemacht? Gab es irgendwelche Ereignisse, bei denen du dachtest, das wäre nun anders für einen männlichen Autor?
T.M.: Ich hatte ein Erlebnis als feministische Autorin. Das war ziemlich lustig. Als Abzählen veröffentlicht wurde, erhielt ich viel positives Feedback. Es gibt einen einflussreichen Literaturkritiker in Georgien, der das Buch mochte und mich dafür sehr lobte. Doch dann erwähnte ich in einem Interview, dass es ein feministisches Buch sei und ich selbst eine feministische Autorin. Daraufhin wurde er richtig aggressiv, weil er etwas gelobt hatte, das sich als feministisch herausstellte.
n.: Er fühlte sich in die falsche Ecke gedrängt?
T.M.: Genau. Er versuchte zu polemisieren, worin genau der Roman feministisch sei. Man teilte ihm mit, dass die Autorin es selbst gesagt habe.
n.: Tamta Melaschwili, vielen Dank für das Gespräch. Wir wünschen weiterhin gutes Schaffen in Zürich!
Das Interview führten Stefanie Heine und Nina Seiler für Litradio.
Gekürzt und übersetzt aus dem Englischen von Nina Seiler.
Fotos von Stefanie Heine.
Audiobeitrag: ctrl. x: Zürichsee | Rotes Schloss auf litradio.net