„Wenn Du an einem Ort sitzen bleibst, brütest Du auch nichts Vernünftiges aus.“

Interview mit dem russischen Schriftsteller Aleksandr Iličevskij

Aleksandr Iličevskij hat sich in den letzten Jahren als neue Stimme der russischen Literatur einen Namen gemacht. Der 1970 in der aserbaidschanischen Stadt Sumgait geborene Lyriker und Prosaautor verfolgte zunächst eine Karriere als Naturwissenschaftler, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Nach dem Studium der Mathematik und der theoretischen Physik an der Moskauer Lomonossow-Universität und einer Dozentur am Moskauer Institut für Physik und Technologie arbeitete er mehrere Jahre als Wissenschaftler in den USA und in Israel. 1998 kehrte er nach Russland zurück. Seither erschienen zahlreiche Lyrik-, Essay-, Erzählbände und Romane, die mit mehreren renommierten Preisen ausgezeichnet wurden. Seine vier letzten Romane Matiss (2006, Matisse), Pers (2009, Der Perser), Matematik (2011, Der Mathematiker) und Anarchisty (2012, Die Anarchisten) erschienen 2013 als Roman-Tetralogie in einem Band unter dem Titel Soldaty Apšeronskogo polka (Die Soldaten des Apscheroner Regiments). Seit 2013 lebt Iličevskij mit seiner Familie in Tel Aviv. Eines seiner letzten Bücher, Gorod zakata: Progulki po stene (2012, Stadt der untergehenden Sonne: Mauerspaziergänge), ist der Stadt Jerusalem gewidmet.

 

novinki: Die Tetralogie Soldaty Apšeronskogo polka (Die Soldaten des Apscheroner Regiments) bündelt Deine letzten großen Prosatexte. Welche Bedeutung hat der Titel?

 

Aleksandr Iličevskij: Im Apscheroner Regiment – einem Regiment der russisch-zaristischen Armee, das u.a. auf der Halbinsel Apşeron im heutigen Aserbaidschan eingesetzt war – diente ein gewisser Platon Korolev (so heißt auch mein Protagonist in Matisse), der als Nationalheld eine wichtige Rolle in Tolstojs Krieg und Frieden spielt. Das Apscheroner Regiment ist für mich aber vor allem das Symbol für eine immaterielle Festung, für die immateriellen Kräfte der Kultur und der Geschichte. Der Name der Tetralogie ergibt sich aus meinem Roman Der Perser (Pers), darin habe ich diesen Zusammenhang ausführlich dargelegt.

 

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Foto: Bali-Dana Singer

 

n.: Wenden wir uns dem ersten Roman der Tetralogie zu: Matisse ist das erste Deiner Bücher, das auf Deutsch erscheint. Worum geht es darin?

 

A.I.: Um die literarische Analyse der Schicksale jener Generation, deren Jugend mit dem Zusammenbruch der UdSSR, mit einem Zeitenbruch zusammenfiel. Menschen, die um das Jahr 1970 herum geboren sind, unterscheiden sich von denen, die man unter normalen Umständen ihre Altersgenossen nennen würde. Sie befanden sich damals auf dem Kamm eines Tsunamis, ihre Entwicklung vollzog sich parallel zu dieser turbulenten Zeit, sie waren das erste Gelalle einer postsowjetischen Epoche, ihre Bewegung verlief einzigartig – entlang der Welle. Beim Versuch, ein Schema der Romanhandlung zu skizzieren, ergibt sich ungefähr Folgendes: Der Protagonist Korolev, ehemaliges Heimkind, Absolvent und Doktorand der elitären Moskauer Physikalisch-Technischen Hochschule, sieht sich durch die Zumutungen der Gegenwart dazu gezwungen, seine wissenschaftliche Tätigkeit zu vernachlässigen. Er muss häufig wechselnde Jobs annehmen und beginnt darüber nachzudenken, was er eigentlich ist: Mensch oder Maschine, tot oder lebendig, betrogen oder aussortiert. Schließlich gibt er seine Arbeit auf, verlässt seine Wohnung im Zentrum Moskaus und lebt von nun als Obdachloser. Dieses Herausfallen aus der Gesellschaft erweist sich für ihn als wohl einzige Option, als letzte Möglichkeit, dem geistigen Tod zu entgehen. Dabei agiert Korolev in erster Linie für sich selbst, und erst dieses Wissen um seine eigene Vereinzelung rettet ihn. Sein Beispiel kann also nicht verallgemeinert werden. Seine Flucht – wohl weniger eine Flucht als eine Absage an die korrosive Wirklichkeit – geschieht um des inneren Friedens willen. Sie bildet das Fundament, auf dem eine neue Realität, das „Reich Gottes auf Erden“, wenn man so will, geschaffen werden muss. Korolev wird nicht einfach zum Obdachlosen, sondern zum pilgernden Wanderer, zu einem Menschen, der es sich zur Aufgabe macht, mit Leib und Leben zu einer Erkenntnis der Welt vorzudringen. Der Mensch ist das Maß aller Dinge, richtig? Also vermisst mein Protagonist mit seinen Schritten, mit seinem Körper Moskau, sein Vaterland, sein Leben, Gott.
Es fällt mir schwer, diese Vorgehensweise analytisch zu erklären. Hier kommt eher ein gewisses Familienerbe zum Tragen: Meine Urgroßmutter machte sich zu Fuß auf den Weg nach Jerusalem, kam an und kehrte nie zurück. Mein Urgroßvater Mytrofan Koroka reiste während des Krieges durch die besetzten Gebiete Aserbaidschans – wohin er in den 1930er Jahren ins Exil verbannt worden war –, um sich in seiner Heimat, dem Dörfchen Kozievka in der Nähe von Charkov, der Partisanenbewegung anzuschließen. Und mein anderer Urgroßvater, väterlicherseits, wanderte im Jahr 1916 nach Amerika aus, wohin er zwei Jahre unterwegs war. Dem lässt sich noch hinzuzufügen: Wenn Du an einem Ort sitzen bleibst, brütest Du auch nichts Vernünftiges aus. Die Hälfte der Moskauer Bevölkerung hat eine fragmentierte Vorstellung von der Stadt, sie existiert nur in einzelnen Flecken, in Bezirken rund um die Metrostationen.

 

n.: In welchem Zusammenhang steht diese fragmentierte Vorstellung von der Stadt mit der Suche des Protagonisten?

 

A.I.: In der Stadt existierte kein kohärentes Bild von ihr selbst. Nicht nur in der Stadt, sondern im ganzen Land dominierte nur eine zerrissene Vorstellung vom russischen Raum und vom Staatsgebilde. Eine zu große Entfernung vom Zentrum hat Russland übrigens immer schon zum Feudalismus verleitet und verleitet es heute noch dazu: So etwa, wenn die Vasallen der Macht für ihre Unterordnung einen Blankoscheck für Regierungsmacht auf lokaler Ebene erhalten.
Unser Land ist heute – bei einer Bevölkerungsdichte, die nicht viel höher ist als in der Sahara – räumlich und mental isoliert wie noch nie. Mein Held versucht, den Raum in einen Zusammenhang zu bringen, indem er ihn durch seinen eigenen Körper und sein Bewusstsein erfährt. Und das ist auch der Grund, weshalb er erst die ganze Stadt mit seinen Bahnen durchzieht und dann in den unerforschten Teil Moskaus hinabsteigt. Der nächste Schritt bei seinem Versuch, zu einem Bewusstsein der Epoche zu gelangen, ist die Entscheidung, die Hauptstadt zu verlassen und seine Daseinsfunktion – die er darin sieht, die Heimat für sich zu einem Ganzen zusammenzufügen und intellektuell zu erfassen – auf die südlichen Gegenden Russlands auszuweiten. Daher sucht Korolev im Vagabundieren nach einem vollständigen Bewusstsein von der Realität. Er ist kein Flüchtling. Reisen bedeutet für ihn Handlung, ist für ihn der Einstieg in den Raum der Tat.

 

n.: Welchen Stellenwert nimmt Matisse innerhalb der Roman-Tetralogie ein?

 

A.I.: Die vier Geschichten haben zwar unterschiedliche Sujets, doch sie gehen allesamt von Helden mit einer gleichen Lebensweise aus, es sind ähnliche Typen: Ein in der einen oder anderen Hinsicht erfolgloser Held entscheidet sich an irgendeinem Punkt seines Lebens für eine radikale Veränderung seines Schicksals. In der Asche und den Ruinen seines bisherigen Lebens findet er die Kraft für ein neues, ganz und gar anderes Leben. Matisse ist chronologisch betrachtet der erste Roman im Zyklus, er führt diese Grundidee in die Gesamtkomposition des Bandes ein.

 

n.: Deine Protagonisten geraten also nicht als Opfer äußerer Umstände an den Rand der Gesellschaft, im Gegenteil, sie entziehen sich der sozialen Sphäre bewusst und freiwillig. Wie und wo finden sie ein „neues, ganz und gar anderes Leben“? Ist das Vagabundieren für Korolev eine reale und auch geistige Alternative, obwohl oder gerade weil das Leben auf der Straße für ihn eine direkte Konfrontation mit den offenen Wunden der russischen postsowjetischen Gesellschaft darstellt?

 

A.I.: Korolev trifft im Grunde die Wahl zwischen seiner inneren Welt und der Außenwelt, die zutiefst korrumpiert und jeglicher Zukunft beraubt ist. Sein Motiv ähnelt den Motiven der frühchristlichen Wüstenväter, die mit Hilfe eines weltabgeschiedenen, zurückgezogenen Lebens die Möglichkeit suchten, Trost in einer zukünftigen brüderlichen Existenz mit ihresgleichen zu finden. Korolev wird sich darüber klar, welche Schwierigkeiten er bei der Verwirklichung seiner Träume hat, aber er versteht, dass die Zivilisation selbst gerade mit der Fähigkeit des Menschen begann, zu ertragen und zu träumen.

 

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Foto: Aleksandr Iličevskij

 

n.: Das Reisen – oder besser gesagt, die Fortbewegung zu Fuß, das Vagabundieren und Umherwandern – stellt für alle Deine Helden ein geradezu existenzielles Prinzip, ein Erfahrungs- und Überlebensprinzip dar. Welche Bedeutung hat eigentlich die Reise (zu Fuß) in Deinem eigenen Leben und für Dein Schreiben?

 

A.I.: Ich liebe es zu reisen. Mein Reisen ist allerdings von der Sesshaftigkeit wie vom Vagabundieren gleichermaßen weit entfernt. Zudem muss berücksichtigt werden, dass die Hälfte meiner Ortswechsel durch äußere Umstände bedingt war und nicht durch eine innere Notwendigkeit. Natürlich gibt es keinen größeren Genuss, als loszugehen und ausgerüstet mit einem naturwissenschaftlichen, exakt-erfassenden Blick die Landschaft zu lesen, zu entziffern, sich ein halbes Jahr, sagen wir mal, auf eine Reise an die untere Wolga vorzubereiten und dann schließlich Chasarien mit eigenen Augen zu sehen. Ist man zu Fuß unterwegs, sieht man vieles anders, denn nur dann ist der Mensch ernsthaft mit der Lehre des Protagoras konfrontiert: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“, denn nur zu Fuß kann der Raum mit dem Körper durchmessen werden. Das Ergebnis dieser Konfrontation und des Zusammenwirkens von Raum und Körper kann einzigartig sein. Überhaupt denke ich, dass der Mensch verpflichtet ist, ein klares körperliches Fundament in dieser Welt zu haben – ähnlich wie die Schäfer im Alten Israel, einschließlich des Psalmensängers David, die genau wussten, wie viele Tageswege sie sich von dem einen oder anderen Ende des Landes entfernt befanden, und die beispielsweise in der Lage waren, ihre Herden so von Jerusalem nach Jerichow zu bringen, dass die Tiere sich den gesamten Tag über im Schatten einer Schlucht oder eines Hügel befanden und nicht in der prallen Sonne leiden mussten. So, wie in der alten Welt Entfernungen über Tageswege berechnet wurden, so sollte der Raum des modernen Menschen gerade mittels Körper und Fortbewegung zu Fuß mit der Lebenszeit ins Verhältnis gesetzt werden.
Was die Schriftstellerei betrifft, so sind, wie mir scheint, sowohl die Reise als auch die Literatur in erster Linie Forschungskategorien, darin sind sie einander verwandt und helfen einander, indem sie sich gegenseitig befruchten.

 

n.: Lass uns kurz bei diesen Kategorien bleiben: Mir scheint, dass die Reise in Deiner Prosa ein wichtiges Meta-Sujet darstellt und zugleich eine Art innerer Motor der Texte ist, der die Helden wie auch die Erzählung selbst in unbestimmter und unendlicher Bewegung hält.

 

A.I.: Ich habe verschiedene Bücher über verschiedene Reisen geschrieben – über aufwändige Reisen, über Reisen, die zu wilden Naturorten oder ins Dickicht der Stadt führen. Natürlich bestimmt das Motiv der Reise nicht nur den Inhalt, sondern auch die Dynamik des Erzählens. Die Abfolge einzelner Momente einer Reise bildet zugleich die Erzählstruktur, die von einem Anfang zu einem Ende führt – aber das kann ja jedes Mal anders verlaufen. Beispielsweise sind etwa die Erfahrungen von zwei Monaten, während derer ich in Jerusalem gelebt habe, in das Buch Stadt des Sonnenuntergangs eingeflossen. Dagegen machen die 7500 Kilometer, die ich per Auto durch den europäischen Teil Russlands zurückgelegt habe, darin nur einen Absatz aus. Alles hängt von der Sinndichte ab, die einen Raum prägt. Der reisende Mensch ist wie die Nadel eines Schallplattenspielers, wenn er durch die Landschaft streunt und ihre besondere Musik herauszieht.

 

n.: In Deinen Texten sind die Wahrnehmung der Landschaft und das Nachdenken über den Raum eng miteinander verbunden, daher sind sie manchmal gar nicht so einfach zu lesen. Der Leser muss oft hochkonzentriert sein, um sich nicht im Text zu verlieren. Einige Kritiker sprechen in diesem Zusammenhang von einer „neuen Komplexität“ in der russischen Literatur.

 

A.I.: Neue Komplexität? Ich persönlich schreibe aufs Geratewohl. Ich habe nie darüber nachgedacht, was in der russischen Literatur vor sich geht, insbesondere in den letzten Jahren, seitdem die Politik die ganze Kultur verdunkelt. Ich bin von Ausbildung und Beruf her theoretischer Physiker und dies hat meinen Horizont und mein Bewusstsein stark beeinflusst. Der Eindruck, den die Lektüre meiner Bücher möglicherweise hinterlässt, ist vielleicht weniger Komplexität als eine besondere Spezifik meiner Texte, und einige kann man tatsächlich dem Genre der wissenschaftlichen Literatur, genauer gesagt, einer „erforschenden“ Literatur zuordnen.

 

n.: Die Besonderheit Deiner Texte ergibt sich doch auch aus der Spannung zwischen einem metaphysischen, geradezu sakralen Sprachverständnis einerseits und einer naturwissenschaftlichen Wahrnehmung andererseits. Steht beides nicht zu sehr im Widerspruch?

 

A.I.: Das biologische Leben basiert auf dem „Metabolismus“ (Stoffwechsel, Anm. N.W.) von Texten. Die DNA ist ein großer Text, den zu lesen und zu interpretieren die Menschheit noch lernen muss. Ganz ähnlich basiert die Kultur auf einer Praxis der Auswahl und Kanonisierung von „Texten“. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Die Texte wachsen mit den in ihnen enthaltenden Gedanken an, auf dieser Textbasis entstehen neue Texte, die sich als wissenschaftliche Zitationen oder intertextuelle weiterentwickelte Bezüge erweisen; dies gilt sowohl für die Kultur wie auch für den digitalen Bereich der Zivilisation, in dem sich ja ähnliche Prozesse nachvollziehen lassen. Letztlich gründet die Zivilisation als Teilhaberin an der Schöpfung des Universalismus vollständig auf Wörtern und Zahlen (die im Kern ebenfalls Wörter sind, aber etwas andere) sowie auf Redewendungen (kommunikativen Erscheinungen).
In diesem Zusammenhang möchte ich gerne einen wichtigen Satz aus dem Talmud in Erinnerung bringen, welcher besagt, dass die Welt nichts weiter ist als eine Geschichte, die irgendjemandem erzählt wurde. Also, aus meiner Sicht besteht hier kein Widerspruch. In beiden Fällen – Natur und Kultur – geht es um die Zuordnung und die Zusammenarbeit ähnlich angeordneter, aus verschiedenen Materialien bestehender und miteinander verbundener Strukturen.

 

n.: Deine Prosatexte leben stark von ihrer bildhaften, visuell-metaphorischen Schichtung. Du selbst hast von Meta-Metaphorismus gesprochen und in diesem Zusammenhang häufig den russischen (vor einigen Jahren in Köln verstorbenen) Dichter Aleksej Parščikov als wichtiges Vorbild genannt. Kannst Du kurz Eure Beziehung beschreiben?

 

A.I.: Es ist schwierig, das analytisch zu erklären. Am besten hat Aleksej Parščikov selbst unser Verhältnis in Worte gefasst. In einem Brief schrieb er mir: „Wir beide betrachten die Dinge gleich, nur hat jeder von uns eine eigene Art und Weise, darüber zu schreiben.“

 

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Foto: Nina Weller

 

n.: Du hast die gegenwärtige Verdunkelung der russischen Kultur erwähnt, die mentale Isolierung Russlands. Ist dies auch der Grund dafür, warum Du letztes Jahr mit Deiner Familie nach Israel ausgewandert bist?

 

A.I.: Ich habe schon lange davon geträumt, nach Israel zu ziehen. Vor 25 Jahren, als ich mich noch mit Physik beschäftigte, war ich bereits als Doktorand des Weizmann-Instituts dort. Ich erinnerte mich danach oft an das Gefühl der engen Verbindung von Altertum und Gegenwart, das mich anzog. Ich bin für die südliche Landschaft sehr empfänglich, denn ich bin selbst auf der Apscheroner Halbinsel im sowjetischen Süden geboren. Auch wenn ich es sehr schätzte, habe ich das Leben in Moskau und im Moskauer Umland, was Klima und Landschaft betrifft, immer als unnatürlich wahrgenommen.
Israel ist ein unendlicher Quell für die Reflexion und Wahrnehmung der Kultur, der Zivilisation überhaupt. In der Gegenwart dieses Staates verbinden sich kulturelles Wissen, Geschichte und Zukunft. Israel ist die Wiege der westlichen Zivilisation, die alle Dynamiken der Weltgeschichtsbewegung in sich aufnimmt und aufnehmen wird. Und ich hoffe, dass diese Wiege zu einer Festung wird. Kaum jemand wird bestreiten wollen, dass das jüdische Volk der christlichen Zivilisation nicht nur alle wichtigen Schlüsselfiguren einer neuen Religion mitgab, sondern auch die Grundlagen eines Ethikkodexes, zu dem auch die Heiligkeit des Gesetzes gehört – die Grundlage jeder Demokratie, der Feind jeder Tyrannei.
Was Russland betrifft, ganz gleich, was dort geschieht, es bleibt die Aufgabe des Schriftstellers, in seiner Sprache zu denken und damit einen Samen für die Zukunft zu pflanzen, einen Samen im Sinne einer neuen Blütezeit. Die Literatur besteht letztlich genauso aus Buchstaben wie auch die DNA aus „Buchstaben“ besteht. Die Literatur ist also der Speicher für die Erbinformation des kulturellen Bewusstseins. Und die Aufgabe des Schriftstellers ist vor allem eine schützende. Seine Aufgabe besteht darin, für zukünftige Generationen Sinn zu bewahren und neue Bedeutungen hervorzubringen. Damit beschäftige ich mich in Israel, wo ein Zehntel der Bevölkerung dieselbe Sprache spricht, in der ich schreibe.

 

n.: Betrachtest Du Dich selbst als russisch-jüdischen Autor?

 

A.I.: Das ist eine ernste Frage, vor allem angesichts der Tatsache, dass das jüdische Volk in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein neues Stadium der Formierung einer neuen nationalen Identität zu durchleben begann und zwar in einem seit der Zweiten Tempelperiode nicht dagewesenen Ausmaß. Gegenwärtig bildet sich in Israel eine neue ethnische Legierung heraus, deren Entwicklung erst über mehrere Generationen abgeschlossen sein wird. Deshalb fällt es mir nicht leicht, auf deine Frage entschieden zu antworten. Umso mehr, als in Zukunft die nationalen Grenzen immer durchlässiger werden. Vorläufig kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass ich ein Schriftsteller bin, der in Israel auf Russisch schreibt, und dass es mir überhaupt nicht gleichgültig ist, wie mein Werk in diesem Land, das ich nun als Heimat betrachte, aufgenommen wird.

 

n.: Was denkst Du über die gegenwärtige Situation in Israel?

 

A.I.: Die Situation in Israel ist kompliziert, da kommen zu viele unterschiedliche und mehrdeutige Aspekte zusammen. Israel ist in die tragische Situation des Krieges hineingeboren und in die Notwendigkeit des Fortbestands des Volkes. Daran wird es sich nie gewöhnen. Der vom Staat Israel praktizierte Kampf gegen den Terrorismus ist die Hauptkampflinie im Antiterrorkampf der ganzen westlichen Welt. Doch die inneren Probleme des Landes, die den Krieg begleiten, müssen schnell geregelt werden, es muss möglichst bald zu einem Frieden mit den Palästinensern kommen. Ohne jeden Zweifel sind nachbarschaftliche Toleranz und Milde, gegenseitige Akzeptanz und Freundlichkeit die wichtigsten Aspekte für eine Regulierung der Situation.

 

n.: Im November letzten Jahres warst Du Stipendiat im Literarischen Colloquium Berlin. Welche Eindrücke hast Du vom gegenwärtigen Berlin?

 

A.I.: Berlin hat mir gut gefallen, es ist eine klare und schnittige, bequeme und freundliche Stadt. Ich bin der Leitung des LCB sehr dankbar, dass mir die Gelegenheit geboten wurde, eine Zeit lang in Wannsee zu leben und zu arbeiten. Die Ruhe und die Abgeschiedenheit, die Möglichkeit für neue Begegnungen, Gespräche und Auftritte – all das ist das LCB.
Ich war gerade während der Feierlichkeiten anlässlich des 25. Jahrestags des Mauerfalls in Berlin. Das Phänomen der Teilung Deutschlands interessiert mich sehr, deshalb bin ich den Spuren dieses historischen Ereignisses in der Stadt gefolgt. Als erstes bin ich natürlich zum Checkpoint Charlie gegangen, zu dem Ort, an dem mein Lieblingsroman Der Spion, der aus der Kälte kam beginnt und endet. Die besondere Symbolik dieser Tage bestand für mich aber darin, dass zur gleichen Zeit in Russland der Versuch einer Restaurierung der Sowjetunion wieder an Fahrt gewann.

 

n.: Woran arbeitest Du derzeit?

 

A.I.: Erst kürzlich ist mein Band Sprava nalevo (Von rechts nach links) beim Verlag AST erschienen. Es handelt sich um eine Sammlung kurzer Texte – Essays, Erzählungen, Reisebeschreibungen und Skizzen zu ganz unterschiedlichen Themen: von der Quantenfeldtheorie bis zur Zoologie und Literatur. Und zum Jahresende möchte ich meinen nächsten großen Roman über die nahe Zukunft fertig schreiben.

 

n.: Vielen Dank für das Gespräch.

 

In Kürze erscheinen in deutscher Übersetzung Iličevskijs Romane Matisse (Verlag Matthes & Seitz, übersetzt von Valerie Engler und Friederike Meltendorf) und Der Perser (Suhrkamp Verlag, übersetzt von Andreas Tretner).Das Interview wurde von Nina Weller geführt und aus dem Russischen übersetzt.

 

Werke von Aleksandr Iličevskij (Auswahl):

Lyrikbände:
Slučaj (1996 / 2000)
Ne-zrenie (1999 / 2001)
Volga meda i stekla (2004)

Essay- und Erzählsammlungen:
Butylka Klejna (2005)
Dožd dlja Danai (2005)
Guš-Mulla (2005 / 2008)
Penie izvestnjaka (2008)
Gorod zakata: Progulka po stjenije (2012)
Sprava nalevo (2015)

Romane:
Samson na solnce (1998)
Neft’ / Mister Neft. Drug (1998 / 2008)
Dom v meščere (1999)
Aj-Petri (2005)
Matiss (2006)
Pers (2009 / 2012)
Matematik (2011)
Anarchisty (2012)
Orfiki (2013)
Soldaty Apšeronskogo polka (2013. Matiss, Pers, Matematik, Anarchis

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