Sergej Lebedev, die Insel und der Giftmord

Steckt hinter Goethes Spruch „Wo viel Licht ist, ist starker Schatten“ mehr Wahrheit, als wir dachten? Sergej Lebedevs Spionagethriller Das perfekte Gift hat vielleicht eine Antwort auf diese Frage. Er widmet sich den toxischen Momenten sowjetischer Wissenschaftsgeschichte von Stalin bis Putin.

 

Chemie ist eine der wichtigsten Naturwissenschaften. Sie hilft uns, die Welt besser zu verstehen. Sie unterstützt uns beim Umweltschutz, sie bekämpft Krankheiten und schützt uns vor Viren. Chemie bildet die Grundlage für neue Innovationen. Ohne Chemie wäre unsere Welt eine andere. Was aber wäre, wenn dieses Wissen zum Schlechten genutzt wird? Wenn sich die Münze der Chemie wendet und auf der anderen Seite eine manipulative Tötungsmaschinerie zu sehen ist, die keine Grenzen kennt?

Sergej Lebedevs Roman Das perfekte Gift stellt genau diese Fragen. Er verfolgt den ehemaligen sowjetischen Chemiker Kalitin auf dessen Flucht in den Westen. Sein in den 1990er Jahren entwickeltes Nervengift wird für den Mord an ehemaligen Geheimagenten verwendet. Dabei greift Lebedev Bilder auf, die den Leser_innen mehr als bekannt vorkommen dürften. Seine Anspielungen auf reale Ereignisse in Putins Russland, auf die Funktionsweise des russischen Staates, auf Mechanismen von Diktatur und Terror, der vor Giftanschlägen nicht zurückschreckt, lassen sich nahezu parallel in der Zeitung verfolgen.

Lebedevs Roman erschien 2020 in Russland unter dem Titel Debütant (russ. Debjutant). Ein Jahr später wurde die deutsche Übersetzung Das perfekte Gift von Franziska Zwerg veröffentlicht. „Debütant“, so nennt der Chemiker Kalitin seine Geheimwaffe aus dem Labor, seine „beste Kreation“.

Lebedev wurde 1981 in Moskau als Sohn einer Geologenfamilie geboren. Viele seiner Romane galten dem russischen Regime als heikel, vor allem seine Thematisierung der Geschichte des Gulags. 2017 diagnostizierte Lebedev, dass Russland mittlerweile „krank vor Angst“ sei, dass die Vorstellungen über „Gut und Böse“ zerfallen würden, die menschlichen Beziehungen gestört seien. Im Roman heißt es dementsprechend über den Protagonisten: „Kalitin wusste, dass er nicht einfach nur spezifische, in Ampullen verpackte Mordwaffen erzeugt hatte. Er hatte Angst erzeugt. Ihm gefiel der paradoxe, aber einleuchtende Gedanke, dass Angst das beste Gift ist. Die beste Vergiftung ist jene, bei der sich jemand selbst vergiftet.“

Kalitin, eine der Hauptfiguren des Romans, ist ein Chemie-Genie, ein ambitionierter Wissenschaftler, ein Faustus. Mit einem Zitat aus Goethes Faust rahmt denn auch Lebedev seinen Roman. Kalitin verbrachte seine Kindheit in einer geschlossenen Stadt, die nur mit Sondergenehmigung besucht werden durfte, auf der Karte nicht auffindbar war und von einem hohen Zaun geschützt wurde. Der Junge kommt dort unter die Fittiche seines Onkels Igor. Schnell wird ihm klar, dass es im Akademikerstädtchen die zivile Forschung gibt und eine andere, eine exklusive, mächtige. Zu ihr gelangt man durch das dritte Portal des Instituts, in den inneren Kreis. Dort widmen sich Onkel und Neffe den Geheimnissen der Chemie. Dort lernt er alles über das Töten mit Gift, sein Spezialgebiet, und wenig über das Licht der Heilung, an das er aber dennoch glaubt.

Das perfekte Gift beginnt mit einer fiktiven Mordszene. Nach der Auflösung der Sowjetunion wird ein ehemaliger KGB-Agent, der in den Westen übergelaufen ist und sich dort seit Jahrzehnten versteckt, eliminiert. Die Mordwaffe, ein Nervengift, kann nicht zurückverfolgt werden. Spätestens hier dürfte den Leser_innen auffallen, dass der vom Geheimdienst geplante Mordauftrag auf reale Ereignisse anspielt, denn den meisten sollten die Namen Aleksej Nawalny und Sergej Skripal bekannt sein. Beide kamen durch ein schwer nachweisbares Nervengift fast ums Leben. Ersterer ist ein Oppositionspolitiker, letzterer ein KGB-Überläufer.

In dreiundzwanzig Romankapiteln wechselt Lebedev zwischen den Lebensgeschichten zweier Männer. Der nunmehr im Westen lebende Kalitin wird von Šernjov verfolgt, einem skrupellosen Folterknecht des russischen Geheimdienstes. Seinem Verfolger Šernjov ist er durchaus ähnlich. Beide sind auf ihre Weise ohne Skrupel, machtgierig und paranoid. Beide wissen aber auch, dass das, was sie tun, sie innerlich vergiftet.

Lebedev beschreibt eingängig, wie die geschlossene Stadt und das Versuchsgelände als Insel funktionieren, von der Kalitin rückblickend sagt, dass ihr „herrliches Epos“ für ihn unvollendet bleiben muss. Das Bild der Insel scheint wie ein Bild von einer isolierten Gemeinschaft, die an reale Orte in der Sowjetunion erinnert. Ein Beispiel ist das Gulag-System, in dem nicht nur politische Gegner_innen festgehalten wurden, sondern auch die wissenschaftliche Elite des Landes. Ein anderes Beispiel sind die geschlossenen Wissenschaftsstädtchen und geheimen Testgelände. Für Lebedev sind diese deformierten „Inseln“ Orte, an denen sich die Sowjetunion selbst reproduziert, auch nach ihrem Verfall. Orte, an denen es weder Moral noch Ideologie gibt – geben kann. Dem Autor gelingt es, anhand dieser einen „Insel“ im Roman nicht nur eine Linie von Stalin zu Putin zu ziehen, sondern auch die russische Geschichte des 20. Jahrhunderts darin subtil einzubinden: den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, die Konzentrationslager der Nazis, die Schlacht von Stalingrad, den Kalten Krieg, die Reaktorkatastrophe von Čornobyl’, die Auswirkungen der Perestrojka, den Krieg im Kaukasus. Dazu meint die belarussische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Svetlana Aleksijevič anerkennend auf dem Bucheinband, Lebedev schreibe „nicht über die Vergangenheit, das hier ist unsere Gegenwart“. Dafür muss der Name Putin im Roman nicht einmal genannt werden. Seine Präsenz ist dennoch allenthalben zu spüren. Lebedevs Roman bietet einen atmosphärisch unheimlichen Blick in ein System, dessen perfektes Gift Angst und Paranoia sind.

 

Lebedew, Sergej: Das perfekte Gift. Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2021, 256 S.

 

Weiterführende Links:

Interview mit Sergej Lebedev: „Krank vor Angst“. In: Süddeutsche Zeitung v. 19.11.2017.

https://www.sueddeutsche.de/kultur/vortrag-krank-vor-angst-1.3755760 (Letzter Zugriff: 10.01.2023)

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