Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
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10099 Berlin

Im „Honig­land” Ukraine

In seinem Roman Graue Bienen schickt Andrij Kurkov den Imker Sergej aus dem Don­bass auf einen Road­trip durch die Ukraine – gemeinsam mit seinen Bie­nen­stö­cken, um sie vor dem Krieg zu retten. Kurkov braucht das Schlacht­feld nicht, um den­noch eine Geschichte über den Krieg zu erzählen.

 

Der schnee­be­deckte Boden, das men­schen­leere Dorf Malaja Sta­ro­gra­dovka und die Zone der gewalt­samen Aus­ein­an­der­set­zungen zwi­schen rus­si­schen Sepa­ra­tisten und ukrai­ni­schen Milizen haben eines gemeinsam: Sie alle sind grau. Dieses Grau färbt ab auf das Leben des in sich gekehrten Imkers Sergej, auf seinen ein­tö­nigen kräf­te­zeh­renden Win­ter­alltag, der sich auf­grund des feh­lenden Stroms kraft­auf­wendig gestaltet. Unter der ständigen Geräuschkulisse des Artil­le­rie­be­schusses, die längst schon Bestand­teil der „Stille” geworden ist, erle­digt Sergej täg­liche Rou­tinen, um das Wohl­ergehen seiner Bienen, aber auch das eigene Überleben zu sichern. Wenig nur unter­bricht den gere­gelten Tages­ab­lauf, und das Wenige scheint nicht an Ser­gejs Gleichmut zu rütteln. Ab und an besucht ihn Paška, sein eins­tiger Schul­ka­merad und heute poli­ti­scher Gegner. Aber nun, in dem ver­las­senen Dorf ohne Strom, Radio­emp­fang oder Ein­kaufs­mög­lich­keit brau­chen sie ein­ander, um wenigs­tens ein paar spärliche Worte wech­seln zu können.

Sergej und Paška, die beiden Früh­renter, stehen in Graue Bienen stell­ver­tre­tend für die ver­fein­deten Lager auf dem Schlacht­feld in der „Grauen Zone”. Das sind Gebiete, die sich in der Nähe der Front­linie befinden. In ihnen kommt es immer wieder zu Kampf­hand­lungen zwi­schen den Sepa­ra­tisten, der rus­si­schen Armee und aus­län­di­schen Söld­nern, die den Raum für sich bean­spru­chen, und den ukrai­ni­schen Streit­kräften, unter deren Kon­trolle das Land steht. Obwohl Kurkov die im Winter 2016 ein­set­zende Roman­hand­lung auf dem Don­bass-Kon­flikt auf­baut, fokus­siert das Buch die Grau­sam­keiten des Krieges nicht, son­dern schil­dert viel­mehr das all­täg­liche Leiden in den umkämpften Donezker Gebieten. Kurkov obser­viert das Leben der­je­nigen, die in den Kriegs­ge­bieten zurückgeblieben sind und nun zwi­schen den Fronten leben, wie im Fall von Sergej.

Der 1961 in Sankt Peters­burg gebo­rene Autor ist einer der bekann­testen und pro­duk­tivsten ukrai­ni­schen Gegen­warts­schrift­steller. Seine Werke ver­fasst Kurkov zumeist auf Rus­sisch. Auch Graue Bienen (Serye pčely) erschien 2018 in rus­si­scher Sprache. Obwohl sich sein Sergej als Ukrainer fühlt, scheint er sich schwer mit seinem ukrai­ni­sierten Namen Serhij Ser­hi­jovyč zu iden­ti­fi­zieren, bevor­zugt wei­terhin das rus­si­sche Sergej Ser­gejič. Sergej steht stell­ver­tre­tend für die Gruppe rus­sisch­spra­chiger Arbeitsmigrant_innen aus dem Indus­trie­sektor der Ost­ukraine und war selbst einst in den Koh­le­kraft­werken Inspektor für Arbeits­si­cher­heit. Wegen seiner Fein­staub­lunge und durch Bestechung der Ärztin aus der Poli­klinik wurde er als Inva­lide ent­lassen. Seit sich seine Frau von ihm trennte und mit der gemein­samen Tochter die Ost­ukraine in Rich­tung Win­nyzja ver­ließ, widmet er sich nur noch den Bienenvölkern. Stolz erin­nert er sich an den Besuch des Gou­ver­neurs, der ihn einst für seine Bie­nen­zucht auszeichnete.

Die Bie­nen­zucht genießt tra­di­tio­nell einen hohen Stel­len­wert in der Ukraine. Das Land gehört zu den größten Honig­pro­du­zenten Europas, feiert all­jähr­lich am 19. August das Honig­fest und kann mit der welt­weit ersten Bie­nen­zucht-Schule auf­warten, dem Petro-Pro­ko­povyč-Institut für Imkerei. Von alters her besitzt die Biene eine hohe Sym­bol­kraft, auf die Kurkov in seinem Roman anspielt. Im sla­wi­schen Raum steht sie für Emsig­keit und Fleiß. So sin­niert der kind­lich-naive Sergej immer wieder über das Imker­da­sein, die Bedeu­tung von Honig und Wachs für den Men­schen. Imker sein heißt für ihn, Krisen meis­tern zu können. Nicht zuletzt des­halb ver­sucht er, das Überleben seiner Bie­nen­stämme im Krieg zu sichern.

Der Reiz des Romans besteht in genau diesem Kon­trast zwi­schen den ver­hee­renden Zerstörungen des Krieges und der unauf­ge­regten Orga­ni­siert­heit der Bienenvölker. Ser­gejs Leben mit den Bienen plät­schert so trotz der Kämpfe ruhig dahin, bis er im Früh­jahr über­ra­schend mit den Bienen auf­bricht. Aus der intro­spek­tiven Beob­ach­tung eines Imkers wird ein aktiver Road­trip. Sergej ver­staut seine sechs Bie­nen­stöcke in einem alten Schi­guli und landet dann unter Umwegen auf der annek­tierten Krim. Dort herrscht eine auf den ersten Blick fried­li­chere Atmosphäre, die aller­dings von rus­si­scher Seite erzwungen wird, wie sich bald am Schicksal einer tata­ri­schen Familie her­aus­stellen soll. In anderen Lan­des­teilen dagegen wird Sergej selbst immer wieder ange­feindet, weil man ihn für einen Sepa­ra­tisten hält. Die Front reist immer mit ihm und den Bienen.

Kurkov, der unter anderem in seinem Ukrai­ni­schen Tage­buch (Dnevnik Maj­dana) von 2014 zu aktu­ellen poli­ti­schen Ereig­nissen und dem Krieg in der Ukraine Stel­lung nahm, schrieb mit Graue Bienen einen klas­si­schen Anti­kriegs­roman. Es geht ihm nicht um die Kriegs­er­eig­nisse selbst oder die detail­lierte Schil­de­rung von Kämpfen. Viel­mehr stellt er anhand der Bienen dar, wie Mensch und Tier im Krieg leiden, wie sie sich den­noch anpassen und selbst im Krieg ver­su­chen, Nor­ma­lität her­zu­stellen. Die Bienen bilden so den Gegen­part zum Chaos der Kämpfe: Sie schwärmen fried­lich aus, kehren wieder zurück und über­tönen mit ihrem Summen den Lärm bezie­hungs­weise die „Stille” der Artil­lerie. Dass auch sie eines Tages ergrauen könnten wie die Land­schaft ringsum, das ist der Alp­traum des Imkers Sergej, gegen den er sich mit seinem Road­trip stemmt.

 

Kurkow, Andrej: Graue Bienen. Aus dem Rus­si­schen von Johanna Marx und Sabine Gre­bing. Zürich: Dio­genes Verlag, 2019, 445 S.

 

Wei­ter­füh­rende Links:

http://prokopovich.com.ua/

https://www.stadtbienen.org/imkern-ukraine/