Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

„Das ist das Land ihrer Vor­fahren. Und es gibt kein anderes Land, wo die Krim­ta­taren die Mehr­heit bilden.“ Gespräch mit Nadia Sokolenko

Es ist dunkel. Alle schlafen noch. Fremde Männer ver­schaffen sich gewaltsam Zutritt zum Haus und ent­führen den Ehe­mann, Vater, Sohn. Klingt wie aus einem Hor­ror­film, ist jedoch bit­tere Rea­lität: Seit 2014 sind solche Sze­na­rien an der Tages­ord­nung auf der Krim. Über ein Pro­jekt, das sich dieser Situa­tion annimmt und denen eine Stimme gibt, die ihre eigene momentan nicht nutzen können.

 

Ich stehe auf dem Pariser Platz in Berlin, vor mir elf offene rote Türen – eine Instal­la­tion, die auf die Umstände auf der Krim auf­merksam machen soll. Im Früh­jahr 2014 annek­tierte Russ­land die ukrai­ni­sche Halb­insel Krim nach einem bewaff­neten Ein­marsch durch Besat­zungs­mächte der Rus­si­schen Föde­ra­tion. Seitdem werden hun­derte Krim­ta­taren poli­tisch ver­folgt und gewaltsam inhaf­tiert, durch ein Ein­dringen in ihre pri­vaten Häuser in den frühen Mor­gen­stunden, allein auf­grund ihrer Natio­na­lität, nur weil sie so sind, wie sie sind.

Im Rahmen eines Prak­ti­kums bei der Ber­liner Tages­zei­tung taz habe ich mich zum ersten Mal mit der The­matik beschäf­tigt: Am 26. Februar 2022 – nur zwei Tage nach Russ­lands Angriff auf die Ukraine – wurde ich zu der Ver­an­stal­tung Ukraine, 5 Uhr mor­gens geschickt, deren Zweck sowohl Soli­da­ri­täts­be­kun­dung für die Ukraine war als auch Infor­ma­ti­ons­ver­brei­tung, was die Krim angeht. Neben den aus­ge­stellten roten Türen gab es dort Reden und die Geschichten der poli­ti­schen Gefan­genen und ihrer Fami­lien wurden geteilt. Bis zu diesem Zeit­punkt wusste ich sehr wenig über das besetzte Gebiet. Ich habe keine per­sön­liche Ver­bin­dung zu den öst­li­chen Län­dern. Meine Familie ist im Westen sozia­li­siert. Das aber, was dort an jenem kalten Win­tertag in Berlin erzählt wurde, ließ mich nicht mehr los: „Es ist sehr schwer, fast nicht aus­zu­halten, den Geschichten der poli­ti­schen Gefan­genen zuzu­hören. Es wird von der Mutter eines Ver­folgten berichtet, die bei dem Ein­dringen der rus­si­schen Sicher­heits­kräfte ohn­mächtig wurde. Es wird von Kin­dern berichtet, einem kleinen Mäd­chen, gerade einmal vier Jahre alt, und zwei Jungen, die Todes­angst ver­spürten, als die Ein­satz­kräfte in ihr Haus kamen. Es wird von der Familie eines poli­ti­schen Gefan­genen berichtet, der ver­spro­chen wurde, dass sie sich von dem Fest­ge­nom­menen noch ver­ab­schieden können, bevor er weg­ge­bracht würde, was jedoch nicht stimmte“, schrieb ich damals in meinem Artikel für die taz. Die Berichte über die Ver­haf­tungen waren also ebenso wenig aus­zu­halten, wie sie einen nicht mehr los­ließen. Und so kommt es auch, dass ich über ein Jahr später immer noch mit den Gedanken bei der Krim bin.

Die Ber­liner Ver­an­stal­tung letztes Jahr im Februar war Teil des Pro­jekts Crimea 5 am, das es sich zur Auf­gabe gemacht hat, das echte, all­täg­liche Leben auf der Krim zu zeigen. Kern des Pro­jekts war ein Thea­ter­stück, das in enger Zusam­men­ar­beit mit den Fami­lien der Betrof­fenen ent­standen ist. Die Inter­views mit den Fami­lien bil­deten die Basis für das Stück. Dieses wurde weiter mit his­to­ri­schen Fakten sowie visu­ellen Ele­menten unter­füt­tert. Urauf­ge­führt wurde es am 2. November 2021 in Kyjiw. Nadia Soko­lenko, Kura­torin des Pro­jekts und Per­for­mance Arts Pro­gramme Mana­gerin des Ukrai­nian Insti­tute, berichtet über die Hin­ter­gründe von Crimea 5 am und das Leid der krim­ta­ta­ri­schen Bevöl­ke­rung, das sie wäh­rend ihrer Arbeit mit­er­lebt hat.

Nadia Soko­lenko: Wir haben 2020 mit dem Pro­jekt in der Ukraine begonnen, zu einer Zeit, in der zwar Teile des Landes besetzt waren, aber noch kein voll­um­fäng­li­cher Krieg herrschte. Wir hatten das Gefühl, dass die Krim the­ma­tisch sehr unter­re­prä­sen­tiert war. Also wollten wir etwas ent­wi­ckeln, das der Situa­tion und den Men­schen, die dort auf­grund ihrer zivilen Akti­vi­täten ver­folgt und als Ter­ro­risten ange­klagt werden, Auf­merk­sam­keit gene­rieren würde.

Ich bin in Kyjiw geboren und auf­ge­wachsen. Ich habe keine Ver­bin­dungen zur Krim. Ich habe nur ange­fangen, an diesem Pro­jekt zu arbeiten, weil ich Pro­jekt­ma­na­gerin des Ukrai­nian Insti­tute bin. Das ist eine staat­liche Insti­tu­tion, die dem Außen­mi­nis­te­rium der Ukraine ange­glie­dert ist. Unsere Haupt­ak­ti­vität ist Kul­tur­di­plo­matie. Wir zielen darauf ab, kul­tu­relle Pro­jekte zu ent­wi­ckeln, die auf poli­ti­sche Themen auf­merksam machen.

Für Crimea 5 am haben wir schließ­lich elf Bür­ger­jour­na­listen por­trä­tiert, die ab 2015 auf der Krim ver­haftet wurden. Als wir unser Pro­jekt ins Leben riefen, waren sie ent­weder schon ver­ur­teilt oder sie war­teten noch in Unter­su­chungs­haft auf ihr Urteil. Wir haben im Pro­jekt aller­dings nicht die frü­heren Depor­ta­tionen der Krim­ta­taren in der Ukraine wäh­rend des Zweiten Welt­kriegs mit­ein­be­zogen. Ich bin mir nicht sicher, wie sie in den späten 1980ern, frühen 1990ern auf die Krim zurück­ge­kehrt sind. Doch es ist sehr wichtig zu ver­stehen, warum sie geblieben sind: Es war hart, als sie depor­tiert wurden. Sie hatten keine Zeit, ihre Sachen zu packen. Inner­halb weniger Minuten wurden sie in Eisen­bahn­wagen gesteckt. Diese Wagen wurden ursprüng­lich benutzt, um Tiere zu trans­por­tieren. Und jetzt nutzte man sie, um so viele Men­schen wie mög­lich nach Sibi­rien oder Usbe­ki­stan zu bringen. An Orte, die weit weg von der Ukraine, von der Krim waren. Die Krim­ta­taren waren nun gezwungen, ihr Leben anderswo zu arrangieren.

 

Nora Rau­schen­bach: Wie würden Sie denn die krim­ta­ta­ri­sche Iden­tität beschreiben mit dieser kom­plexen Geschichte?

 

N.S.: Ich sehe die Krim­ta­taren als indi­gene Bevöl­ke­rung der Krim. Es war einmal ihr Land, über das sie ver­fügt haben. Dann wurde es annek­tiert und dem Rus­si­schen Reich ein­ge­glie­dert, vor circa 300 Jahren. Wir können sehen, wie die Menge an Krim­ta­taren von Jahr­hun­dert zu Jahr­hun­dert geschrumpft ist. 1944 waren schließ­lich so gut wie keine Krim­ta­taren mehr auf der Krim übrig. Wie bereits gesagt, sind die, die über­lebt haben, in den späten 80ern, frühen 90ern zurück­ge­kehrt. Aller­dings hat nie­mand dort auf sie gewartet oder sie unter­stützt. Es war schwierig für sie, eine Unter­kunft zu finden und anzu­mieten. Sie konnten nicht in die Häuser zurück­kehren, die ihre Fami­lien 1944 ver­lassen haben, denn die wurden jetzt von anderen Men­schen bewohnt. Außerdem war es fast unmög­lich für sie, Arbeit in dem Bereich zu finden, in dem sie aus­ge­bildet waren. Viele waren Ärzte, Inge­nieure … Sie mussten als Taxi-Fahrer oder als Lebens­mittel-Ver­käufer arbeiten. Sie brauchten das Geld, um sich ihre eigenen Häuser zu bauen. Denn nie­mand wollte sie neben sich wohnen haben. Es war eine sehr schwere Zeit, die sie auf’s Neue über­lebt haben. Sie haben es irgendwie geschafft, sich wieder auf der Krim nie­der­zu­lassen; sie wurden als indi­gene Bevöl­ke­rung aner­kannt. Das haben sie sich selbst erkämpft. Als Russ­land dann später die Krim besetzte, wollten sie nicht schon wieder ihre Heimat ver­lassen müssen. Sie hatten sich dort alles auf­ge­baut, hatten Häuser, Kinder, Fami­lien. Und als Men­schen, die in der Ukraine lebten, waren sie daran gewöhnt, öffent­lich demons­trieren zu können, öffent­lich zeigen zu können, was sie denken.

 

N.R.: Würden Sie sagen, dass es einen Zusam­men­halt unter den Krim­ta­taren gibt?

 

N.S.: Ja, ich würde sogar sagen, dass es einen großen Zusam­men­halt in der krim­ta­ta­ri­schen Gemeinde gibt. Sie ver­su­chen, sich gegen­seitig zu unter­stützen. Selbst in den 80ern und 90ern, als sie gerade erst wieder auf der Krim ange­kommen waren, gab es diesen Zusam­men­halt. Sie haben sich damals bei­spiels­weise ver­sam­melt, um gemeinsam kleine Häuser für die Fami­lien zu bauen.

 

N.R.: Das Pro­jekt heißt Crimea 5 am. Wofür steht dieses 5 am?

 

N.S.: Das bedeutet eine Menge. Am 24. Februar 2022 bin ich um fünf Uhr mor­gens auf­ge­wacht. Ich habe die Bomben in Kyjiw gehört. Das wie­derum hat mich in der Idee bestärkt, etwas über diese frühe Stunde zu machen. Inspi­riert wurden wir dadurch, dass die Ver­haf­tungen auf der Krim meist gegen fünf Uhr pas­sieren, mal etwas früher, mal etwas später, doch immer in den frühen Mor­gen­stunden, also zu einer Zeit, zu der man noch schläft, zu der man sehr ver­letz­lich ist. Außerdem bezieht sich die Uhr­zeit fünf Uhr mor­gens auf eine lang­jäh­rige sowje­ti­sche Tra­di­tion aus den 20er‑, 30er- und 40er-Jahren, als viele Men­schen ver­folgt und ver­haftet wurden, eben­falls zu dieser Uhrzeit.

 

N.R.: Der Titel trägt also viel Bedeu­tung in sich.

 

N.S.: Ja, auf jeden Fall. Ich weiß nicht, ob man diese Bedeu­tung ver­stehen kann. Aber wenn Sie an fünf Uhr mor­gens denken, sind Sie wach zu dieser Uhrzeit?

 

N.R.: Nor­ma­ler­weise nicht.

 

N.S.: Also stellen Sie sich vor, es ist fünf Uhr mor­gens und Sie schlafen. Und dann kommen irgend­welche Men­schen zu Ihrer Woh­nung und fangen an, sehr laut an die Tür zu häm­mern und zu schreien, dass Sie die Tür öffnen und sie her­ein­lassen sollen. Hätten Sie Angst?

 

N.R.: Natür­lich, das wäre schrecklich.

 

N.S.: Und genau das war unsere Idee: Auf­merk­sam­keit auf die Krim als Gebiet zu lenken, auf diese Uhr­zeit fünf Uhr mor­gens, und auch diese Angst vor den bewaff­neten Ein­satz­kräften zu zeigen.

Den­noch ist es auch eine sehr schöne Uhr­zeit. Die Krim ist ja eine Halb­insel, sie ist also so gut wie überall von Wasser umgeben. Und wenn man am Strand ist und die Sonne auf­gehen sieht, ist das wun­der­schön. Aber wenn wir jetzt über fünf Uhr mor­gens reden, denken wir nicht an die Natur. Wir denken nur noch an die Gefahr.

 

N.R.: Hat sich für die Krim­ta­taren etwas ver­än­dert seit dem Über­fall auf die Ukraine im Februar 2022?

 

N.S.: Ja. Eine Menge Men­schen ver­su­chen, die Krim zu ver­lassen. Das Zusam­men­leben dort hat sich auch sehr ver­än­dert. Den Fri­seur zum Bei­spiel, zu dem man immer gegangen ist, gibt es auf einmal nicht mehr. Gleich­zeitig kommen mehr Leute aus der rus­si­schen Armee auf die Krim. Da die Krim von Russ­land annek­tiert wurde, müssen die Krim­ta­taren nach rus­si­schem Recht zum Militär. Auf der anderen Seite gibt es auch Krim­ta­taren, die die Krim ver­lassen, um sich der ukrai­ni­schen Armee anzu­schließen und die Ukraine zu beschützen und die besetzten Gebiete zu befreien.

Einige Krim­ta­taren bleiben aber auch, da ihre Bin­dung zu dem Land stärker ist. Das ist das Land ihrer Vor­fahren. Und es gibt kein anderes Land, wo die Krim­ta­taren die Mehr­heit bilden.

 

N.R.: Sie haben vorhin gesagt, dass Sie mit dem Pro­jekt diesem wenig bekannten Thema mehr Auf­merk­sam­keit ver­schaffen wollten. Haben Sie das geschafft?

 

N.S.: Haben wir das geschafft? Ich denke nicht in dem Maß, in dem wir es uns erhofft hatten. Aber wir haben defi­nitiv ein paar der Ziele erreicht. Neben Shows in der Ukraine und in Deutsch­land hatten wir auch welche in War­schau und in London. Außerdem war einer der Prä­sen­tie­renden ein ehe­ma­liger Diplomat, was auch nochmal Auf­merk­sam­keit auf uns gezogen hat.

 

N.R.: Warum haben Sie die Geschichten der Krim­ta­taren durch Kunst erzählt? Wie ver­halten sich Kunst und Politik zueinander?

 

N.S.: Bei dem Pro­jekt sollte es eigent­lich nicht um Politik gehen, son­dern darum, unseren eigenen ukrai­ni­schen Dis­kurs über die Krim zu führen, denn selbst in der Ukraine, aber vor allem in anderen Län­dern, domi­nieren immer noch die Nar­ra­tive der Rus­si­schen Föde­ra­tion. Unsere Idee war es, unsere ukrai­ni­sche Sicht auf die Dinge zu teilen. Einige Per­sonen aus west­li­chen Län­dern würden frei­lich auch das als Pro­pa­ganda sehen. Aber unsere Idee war eher, den Men­schen, die das alles gerade durch­leben müssen, eine Stimme zu geben, sie durch das Thea­ter­stück ihre Geschichten erzählen zu lassen – und nicht über die krim­ta­ta­ri­sche Posi­tion zu spre­chen oder die ukrai­ni­sche Politik. Und, was ich an unseren Stü­cke­schrei­bern sehr zu schätzen weiß, ist, dass sie nicht die Rea­lität der Men­schen ändern. Sie haben das Stück also nicht pro Ukraine geschrieben, um eine bestimmte Seite auf­zu­zeigen. Sie haben ver­sucht, alle Facetten der aktu­ellen Situa­tion abzubilden.

 

N.R.: Ich ver­stehe, aber etwas muss ja nicht par­tei­isch sein, um ein poli­ti­sches Thema zu ver­han­deln, oder?

 

N.S.: Also ich denke, dass Pro­pa­ganda sehr weit ver­breitet ist in der Ukraine und in Russ­land. Manchmal fühlt es sich so an, als ob es um das Erschaffen einer neuen Rea­lität, einer fal­schen Rea­lität, geht, die mit der Wirk­lich­keit nichts mehr zu tun hat. Und in unserem Fall bin ich mir sicher, dass nichts kon­stru­iert wurde oder falsch ist. Es geht mehr darum, das all­täg­liche Leben der Men­schen auf der Krim zu zeigen. Gerade jetzt kann Kunst sehr leicht poli­tisch auf­ge­fasst werden. Gerade jetzt kann alles, was mit der Ukraine zu tun hat, als etwas Poli­ti­sches ver­standen werden.

 

N.R.: In Deutsch­land ist das anders. Hier geht es nor­ma­ler­weise nicht so sehr darum, die Rea­lität zu ver­zerren. Sicher, es gibt auch ten­den­ziöse Kom­men­tare oder Medi­en­häuser, die nicht so seriös arbeiten, aber im Großen und Ganzen ist es doch nichts im Ver­gleich zu Russland…

 

N.S.: Ich würde eher sagen, dass das aus­län­di­sche Ver­ständnis von der Ukraine und der ukrai­ni­schen Geschichte immer noch sehr durch Russ­land geprägt ist. Selbst jetzt noch werden wir oft als eine Nation zusam­men­ge­fasst. Und in der Sowjet­union, seit Stalin, war das Haupt­nar­rativ ein pro­rus­si­sches. Man musste die rus­si­sche Sprache lernen. Wir haben angeb­lich nur eine rus­si­sche Avant­garde. Oft­mals wird gar nicht unter­schieden zwi­schen Ukrai­nern, Russen und Bela­russen. Daher ist es umso wich­tiger für uns, dass die Men­schen unsere Stimmen hören. Und in diesem Fall die Krim­ta­taren zu Wort kommen lassen und wissen, dass sie nicht gezwungen wurden, Inter­views zu geben oder etwas Bestimmtes zu sagen. Ihnen wurde nichts dik­tiert, sie wurden nicht ter­ro­ri­siert, es war eine sichere Umge­bung. Es gab auch Fami­lien, die abge­lehnt haben, mit uns zu spre­chen, und das ist in Ord­nung. Wenn man Men­schen sieht, die in einem besetzten Gebiet öffent­lich über ihr Leben spre­chen, ist es oft so, dass sie dazu gezwungen werden. Bei uns nicht. Des­wegen ist es auch keine Propaganda.

 

N.R.: Ich ver­stehe, was Sie meinen. Für mich ist der Begriff „poli­tisch“ aller­dings nicht unbe­dingt gleich­zu­setzen mit Propaganda.

 

N.S.: Okay. Aber finden Sie es ver­tretbar, wenn Kunst poli­tisch ist?

 

N.R.: Ja, finde ich schon. Gibt es in der Ukraine denn ein Ver­ständnis davon, was gerade auf der Krim geschieht, oder wird alles vom Krieg überschattet?

 

N.S.: Es gibt schon ein Ver­ständnis, ja, und es gibt alle mög­li­chen Orga­ni­sa­tionen, auch in den sozialen Medien, die Infor­ma­tionen ver­breiten, eben­falls geführt von Bürgerjournalist:innen. Sie posten etwa Infor­ma­tionen über Ver­haf­tungen, die immer noch auf der Krim pas­sieren. Also, es ist viel­leicht nicht alles bekannt, aber es gibt doch ein all­ge­meines Verständnis.

 

N.R.: Und was für Reak­tionen haben Sie auf das Pro­jekt bekommen, sowohl in der Ukraine als auch im Rest von Europa?

 

N.S.: Ich finde es sehr inter­es­sant, dass viele Leute, die nichts über die Krim­ta­taren wussten, durch unser Pro­jekt Infor­ma­tionen bekamen und jetzt mehr über die Situa­tion wissen. Oder auch, dass Men­schen anfangen, sich mit der Situa­tion aus­ein­an­der­zu­setzen. Denn oft inter­es­siert man sich erst für ein Thema, wenn man einen Bezug dazu hat. Nachdem ich mich mit dem Pro­jekt ver­traut gemacht habe, wurde es auch sehr per­sön­lich. Und ich habe gesehen, dass diese Form der Per­for­mances wirk­lich funk­tio­niert für das Publikum, da es eben nicht nur um tro­ckene Fakten ging, son­dern jede:r Zuschauer:in eine künst­le­ri­sche Erfah­rung hatte. Das ändert das Ver­ständnis gegen­über der Situation.

 

N.R.: Haben Sie das auch als Feed­back sei­tens des Publi­kums bekommen?

 

N.S.: Irgendwie schon, ja. Ich habe nicht jedes Feed­back gehört, aber die Reak­tionen, die ich mit­be­kommen habe, haben mir das Gefühl gegeben, dass sich unsere Mühe aus­ge­zahlt hat.

 

N.R.: Was ist eine Sache, die Ihnen aus der Arbeit am Pro­jekt am meisten im Kopf geblieben ist, viel­leicht eine Geschichte, ein Bild oder ein Gefühl?

 

N.S.: Dieser Gemein­schafts­sinn unter den Krim­ta­taren, also wie sie sich gegen­seitig unter­stützen, wie sie mit­ein­ander ver­bunden sind und was für einen Ein­fluss das auch auf unser Team hatte. Auf einmal waren es nicht mehr nur ein paar Per­sonen, auf einmal waren es mehr als 100 Men­schen, die da etwas auf die Beine gestellt haben.

 

N.R.: Wir haben jetzt viel über Crimea 5 am gespro­chen. Könnten Sie noch einmal zusam­men­fassen, warum das Pro­jekt für Sie so wichtig ist?

 

N.S.: Ich glaube, für mich ist es wegen der Men­schen so wichtig. Einige von ihnen sind noch in Unter­su­chungs­haft, andere sind schon ver­ur­teilt und im Gefängnis, wieder andere leben noch auf der Krim. Wir müssen diesen Teil der Rea­lität zeigen, wie es den Men­schen auf der Krim wirk­lich geht. Und wir sollten uns auch bewusst machen, dass es um Men­schen geht. Denn wenn wir immer nur über Zahlen reden, wie viele Men­schen in But­scha getötet wurden, wie viele Men­schen auf der Krim ver­haftet wurden, dann lassen wir dabei außer Acht, wer diese Men­schen eigent­lich sind und was sie durch­ma­chen mussten. Ein Pro­jekt wie unseres lässt einen mehr über die Men­schen und ihre indi­vi­du­ellen Schick­sale erfahren. Und wenn man die Men­schen hinter den Zahlen sieht, fängt man auch an, seine Ein­stel­lung zu ändern. Weil man eben nicht mehr nur an die Zahlen denkt, son­dern an die per­sön­li­chen Geschichten.

Einer der Helden unseres Pro­jekts, Nariman Dzhe­lial, ist ein pro­fes­sio­neller Jour­na­list und Poli­tik­wis­sen­schaftler. Bevor er 2021 ver­haftet wurde, gab er viele Inter­views, war auf ver­schie­denen Kon­fe­renzen. Dort hat er dar­über gespro­chen, dass Russ­land die Gesetze umschreibt, um Men­schen auf der Krim ver­haften zu können. Und nicht nur auf der Krim, in Russ­land selbst auch. Ihnen ist es ver­boten, Wörter wie „Krieg“ zu benutzen. Dafür könnten sie ange­klagt werden. Diese Ver­fol­gungen von Krim­ta­taren, die einst ange­se­hene Bürger waren, ist nur ein kleiner Teil von dem, was Russ­land gerade macht. Zwar ist es nicht so gewaltsam wie die Ver­bre­chen in But­scha, aber den­noch bedeutsam, denn diese Men­schen gehören auch zur Ukraine. Und sie leiden und sie sind trau­ma­ti­siert durch die Beset­zung und den Krieg der Rus­si­schen Föderation.

Das Gespräch wurde am 19. Mai via Zoom geführt.

Bei den Bil­dern im Bei­trag han­delt es sich um Screen­shots eines Nach­rich­ten­bei­trags des ukrai­ni­schen Nach­rich­ten­sen­ders TSN über die Pre­miere der Kunst­ak­tion Crimea 5 am vom 3. November 2021 sowie Screen­shots zweier ani­mierter Kurz­vi­deos, ver­öf­fent­licht auf der Insta­gram-Seite des Pro­jekts.