Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Spa­zier­gang durch But­scha: Mate­ri­elle Zeu­gen­schaft in der mul­ti­plen Katastrophe

Der Mul­ti­media-Künstler Nikita Kadan kann als eine der kri­tischsten Stimmen der zeitgenössi­schen ukrai­ni­schen Kul­tur­land­schaft bezeichnet werden. In seiner his­to­rio­gra­phi­schen, prak­ti­schen und zugleich theo­re­tisch avan­cierten Arbeits­weise geht Kadan von Ort und Mate­rial der Zerstörung aus – und bezieht gleich­zeitig his­to­ri­sche oder kul­tur­po­li­ti­sche Kon­texte mit ein. Kann auf Erde, die in Blut getränkt ist, Neues ent­stehen? Model­lieren die Ver­bre­chen des Puti­nismus andere Gewalt­ver­bre­chen der Geschichte (Sta­li­nismus, Nazismus) neu? Welche Bedeu­tung kommt Doku­men­ta­tion und künst­le­ri­scher Refle­xion im Kon­text der exis­ten­zi­ellen kol­lek­tiven For­mu­lie­rung eines ukrai­ni­schen Erin­ne­rungs­ka­nons zu?

Die Autorin hat den Kyjiwer Künstler im November 2022 – prak­tisch und meta­tex­tuell – auf einem Spa­zier­gang durch But­scha begleitet: Das hybride Text­format greift den Spa­zier­gang als (his­to­rio­gra­phi­sche) Methode auf, in wel­cher sich mate­riell-archäo­lo­gi­sche und (kultur-)semiotische Stra­te­gien spiegeln.

 

Kyjiw—Butscha

 

Der Weg aus dem Kyjiwer Stadt­zen­trum nach But­scha führt über die Juriy Iljenko-Straße, die den Erin­ne­rungs­park Babyn Jar in zwei Abschnitte teilt, durch den nord­west­lich gele­genen Bezirk Syrets’: In Babyn Jar ereig­nete sich im Sep­tember 1941 eines der zah­len­mäßig größten Mas­saker an den ukrai­ni­schen Jüdinnen, Juden und anderen Min­der­heiten oder poli­ti­schen Gegner:innen der NS-Besatzer: Hier wurde deut­lich, dass so etwas wie der Holo­caust mög­lich war, hier ließen die sowje­ti­schen Macht­haber sys­te­ma­tisch alle Erin­ne­rungs­spuren an die fast 34 Tau­send Opfer des zwei­tä­gigen Mas­sa­kers mit dem Abraum einer nahe­lie­genden Back­stein­fa­brik über­fluten und – zumin­dest zeit­weise – ausradieren.

 

Das Taxi hüpft über unebenen Asphalt: Der Kie­fern­wald, der Kyjiw und die von rus­si­scher Besat­zung befreiten Vor­städte trennt, ist von Bar­ri­kaden, Hedge­hogs – Igel-ähn­liche Pan­zer­fallen aus Eisen – und teils ver­las­senen Mili­tärstel­lungen durch­setzt. Bei Horenka beginnen Dat­schen die Straße zu säumen: teils ver­bar­ri­ka­diert, teils zer­stört, teils not­dürftig instand­ge­setzt. “Dety” (Kinder) – jenes Wort, dem die ver­zwei­felte Hoff­nung auf einen letzten Hauch Mensch­lich­keit sei­tens der Angreifer ein­ge­schrieben ist, – prangt in großen Let­tern auf Mauern und Tor­ein­fahrten. Über diese Straße wären rus­si­sche Truppen im Früh­jahr 2022 nach Kyjiw gekommen, hätte die ukrai­ni­sche Armee den Okku­panten nicht erfolg­reich die Stirn geboten.

 

An einem Novem­ber­sonntag fahre ich mit Nikita Kadan (*1982), einem der inter­na­tional meist­aus­ge­stellten ukrai­ni­schen Gegen­warts­künstler, nach But­scha: Kadan nimmt sich der über­se­henen oder bewusst ver­dun­kelten Spuren ver­gan­gener und gegen­wär­tiger Kata­stro­phen an – Spuren, die Kriege und Mas­sen­ge­walt in den sich mehr­fach über­la­gernden ukrai­ni­schen Trau­ma­to­po­gra­phien (Blood­lands) hin­ter­lassen haben. Sein Zugang zur Geschichte ist ein mate­ria­lis­ti­scher – ein prak­tisch-archäo­lo­gi­scher und zugleich theo­re­tisch-anspruchs­voller: Wie kann die Erin­ne­rung an zivi­li­sa­to­ri­sche Ver­bre­chen von ver­zerrter Poli­ti­sie­rung und Instru­men­ta­li­sie­rung befreit, wie kolo­niale Nar­ra­tive offen­ge­legt und über­wunden werden? Es sind solche his­to­ri­schen Ver­stri­ckungen, die sich bis in die Materie der Gegen­wart ziehen, die im Zen­trum des Œuvres des Kyjiwer Küns­ters stehen.

Der Weg nach But­scha. Fotos: Eli­sa­beth Bauer, November 2022.

But­scha-Bilder: dort, wo es passierte

 

Für die aus dem Aus­land ange­reiste Person geht es beim Besuch ukrai­ni­scher Kriegs­to­po­gra­phien wohl darum, das von Susan Sontag beschrie­bene, von Bil­dern ver­mit­telte “hypo­the­ti­sche gemein­same Erleben” (Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, 2003, S. 12) gegen ein reales Erleben ein­zu­tau­schen: mit eigenen Augen zu sehen, wo und wie die rus­si­schen Inva­soren gewütet haben, zu fixieren, welche blei­benden Spuren die Ver­bre­cher an diesem bestimmten und gleich­zeitig sym­bol­träch­tigen, die Geschichte model­lie­renden Ort hin­ter­lassen haben. Mit einer Gruppe inter­na­tio­naler Journalist:innen hatte ich zuvor bereits andere befreite Ort­schaften besucht. Wir sahen: aus­ge­brannte Haus­ge­rippe in Irpin’, den zer­störten Flug­hafen von Hostomel’, den Friedhof von But­scha – und eine kaum zu beschrei­bende, fra­gile All­täg­lich­keit in der indi­vi­du­ellen wie kol­lek­tiven his­to­ri­schen Katastrophe.

 

Kurz nachdem But­scha am 31. März 2022 befreit worden war, die uner­träg­liche Bru­ta­lität der rus­si­schen (Kriegs-)Verbrechen erkennt­lich wurden (Stand August 2022 ist die Zahl von 458 getö­teten Män­nern, Frauen und Kin­dern bekannt) und Bilder des Grauens einige Tage lang die Zei­tungs­seiten prägten, ent­schloss sich Kadan, sein Studio vor­über­ge­hend – über den Winter – nach But­scha zu ver­la­gern. “Du weißt ja, dass ich mit Bil­dern von Kata­stro­phen und kol­lek­tiven Trau­mata arbeite und im Prinzip weiß, dass diese zurück­kehren – in ganz ver­schie­denen his­to­ri­schen Kon­texten. Nach wie vor gibt es weder einen welt­weiten Kon­sensus noch eine Stra­tegie, die uns vor diesen Dingen beschützt”, sagt Kadan.

 

Anfang April twit­terte Eugene Finkel: “Als Genozid-For­scher bin ich ein Empi­rist. (…) Es gibt Hand­lungen, die Inten­tion ist da. Es ist so geno­zidal wie es nur sein könnte. Klar, ein­fach und für alle zu sehen.” Die foto­gra­fisch fest­ge­hal­tenen Anblicke bar­ba­ri­scher Gräu­el­taten scho­ckierten – schienen für einen Moment Raum und Zeit in Still­stand zu ver­setzen: Seit “But­scha” liegt der sys­te­ma­tisch ver­übte Mas­sen­mord an Zivilist:innen in aller Bru­ta­lität offen-sicht­lich vor den Augen der Welt – und es wurde seither viel­fach bestä­tigt, dass die in But­scha gese­hene Folter, Miss­hand­lung und Ermor­dung auch in anderen besetzten Dör­fern und Ort­schaften als fester Bestand­teil der rus­si­schen, geno­zi­dalen Kriegs­stra­tegie prak­ti­ziert werden.

But­scha: Zen­trum und Friedhof. Fotos: Eli­sa­beth Bauer, November 2022.

Wunde Kriegs­to­po­gra­phien: Geschichte wie­der­holt sich

 

Der Taxi­fahrer ver­lang­samt das Tempo. Babyn Jar – Symbol für den “Holo­caust durch Kugeln” – liegt hinter uns; But­scha – Symbol für die rus­si­sche Kriegs­stra­tegie sys­te­ma­ti­scher Folter, Ver­ge­wal­ti­gung und Mas­sen­mord – haben wir fast erreicht. “Hier kommt der Bahnhof, wo die Bahnen aus Kyjiw ankommen. Und das” – Nikita deutet in die andere Rich­tung – “war um 1900 eine Datschensiedlung.”

 

Auf der einen Seite von Dat­schen, Fich­ten­wald und Seen, auf der anderen von bour­geoisen Wohn­kom­plexen geprägt, hatte sich in But­scha in den letzten Jahren ein zwei­sei­tiger Wohl­stand in direkter Anbin­dung zur Haupt­stadt eta­bliert – “zwi­schen Evro-Remont [Euro-Repa­ratur] und Eli­ta­rismus”, erzählt Kadan. Jetzt ist der Wald um But­scha ver­mint, es werden immer noch Körper gefunden. Dass dieser einst beschau­liche Ort von einer Tra­gödie heim­ge­sucht werden würde, war vor rund andert­halb Jahren genauso undenkbar, wie die Vor­stel­lung, auf die Metro­pole Kyjiw könnten teils täg­lich – mit mili­tä­ri­scher Prä­zi­sion – Raketen und Droh­nen­schwärme niedergehen.

 

Wir fahren vorbei an einem kleinen Platz, in dessen Mitte sich eine ver­las­sene Grün­fläche befindet. “Dort stand ein Bul­gakov-Denkmal, denn auch er war mal in But­scha.” Michail Bul­gakov, ein aus Kyjiw gebür­tiger rus­si­scher Schrift­steller, der – ähn­lich wie Puschkin – der Ukraine kri­tisch gegen­über­stand und auch in seine Romane anti-ukrai­ni­sche Posi­tionen ein­webte, ließ auch in publi­zis­ti­schen Texten seiner Miss­ach­tung der ukrai­ni­schen Kultur und Sprache gegen­über freien Lauf – und trug dazu bei, dass über Jahr­zehnte hinweg russ­län­di­sche Nar­ra­tive über die Ukraine nicht nur in (post-)sowjetische Länder, son­dern auch in den Westen getragen wurden. Damit trage Bul­gakov, so die ver­brei­tete Mei­nung, eine Mit­schuld daran, dass im Namen des rus­si­schen Impe­ria­lismus Ver­bre­chen wie jene in But­scha verübt werden – und ein bru­taler Krieg gegen die ukrai­ni­sche Bevöl­ke­rung, ihre Kultur, Geschichte und Unab­hän­gig­keit geführt wird.

Kriegs­nor­ma­lität? “Es scheint, als habe das Leben gesiegt”

 

Mit­tags­zeit in But­scha: Im Orts­zen­trum werden auf einem Markt Gemüse, Obst, Honig­pro­dukte und Kurz­waren ver­kauft – vor allem Frauen und Männer im Ren­ten­alter schieben sich durch die Markt­zeilen. Kadan kauft einer Ver­käu­ferin eine selbst­ge­zo­gene Aloe Vera ab: “Die hat die Okku­pa­tion über­lebt”, sagt er.

 

Eine stäh­lerne, schmuck­lose Brücke führt vom Markt­platz aus über die mehr­glei­sige Bahn­trasse in den süd­li­chen Teil des Ortes – und auf die Vokzal’na [Bahnhofs-]Straße: Vor uns liegt eines jener Motive, die vor über einem Jahr in apo­ka­lyp­ti­schen Szenen um die Welt gingen. Teile aus­ge­brannter Fahr­zeug­wracks, Häu­ser­trümmer und auf der Straße mit ver­bun­denen Händen lie­gende leb­lose Körper säumten die wüste win­ter­graue Allee. An diesem Novem­ber­sonntag sind Spuren der Zer­stö­rung zwar unüber­sehbar, aber Auf­räum- und Wie­der­auf­bau­maß­nahmen haben die Straße berei­nigt, die Zeit hat – ober­fläch­lich nur – Wunden geheilt.

 

Als er im Sommer in But­scha war, sei es heiß und sti­ckig gewesen – man habe die Prä­senz der Ver­bre­chen noch spüren können. “Jetzt ist es anders – es scheint, als habe das Leben gesiegt”, sagt Kadan. Die Straße ist gesäumt von ver­schie­den­ar­tigen frei­ste­henden Häu­sern: Über­reste ein­fa­cher Holz­häus­chen, moderne Ein­fa­mi­li­en­häuser. Kadan deutet auf die Ruine einer kleinen Villa: “Ein bour­geoises Haus – sie gingen zual­ler­erst in solche Gebäude.” Er erin­nert an ein rus­si­sches Graf­fiti, das viel­fach in den sozialen Medien geteilt worden war: “Wer hat euch erlaubt schön zu leben?”

‘The Shadow on the Ground I‑IV’ (Koh­le­zeich­nungen), gepostet auf Nikita Kadans Insta­gram-Seite, 11.–13. März 2022.

But­scha lesen: Spa­zier­gang als Methode

 

Im Zuge des großen rus­si­schen Angriffs­kriegs ver­wan­delten sich Häu­ser­fronten, Tore und Mauern in kom­mu­ni­ka­tive Zei­chen­sys­teme, wobei Worte wie “DETY” oder “LJUDY” (Men­schen) von rus­si­schen Mili­tärs sehend igno­riert, ihre Bedeu­tung aus­ge­höhlt, mal­trä­tiert, atta­ckiert wurde. Künstler-Bezeuger Kadan greift diese Worte, die sich auch in anderen befreiten Dör­fern ver­breitet finden, auf: Sie bilden das iko­ni­sche Zen­trum auf düs­teren Koh­le­zeich­nungen, auf denen ukrai­ni­sche Felder, Dorf­mo­tive oder schwarze Sonnen – in abs­tra­hierter Reduk­tion – die zweite Bild­ebene bilden. Kadan gibt den Worten nicht nur ihre Bedeu­tung, den Men­schen ihre Stimme wieder; sie ent­blößen gleich­zeitig jene Bedeu­tungs­ebene, die die rus­si­schen Besatzer den Worten gewaltsam ein­schreiben.

 

Spa­zier­gang – Sich­tung, Doku­men­ta­tion, Aus­gra­bung – erweist sich in Kadans Kunst­praxis nicht nur als Dokumentations‑, son­dern viel­mehr als exis­ten­zi­elle Erin­ne­rungs­ar­beit. Erde, Stein, Straße oder Haus sind mit trau­ma­ti­schen Erfah­rungen und Erin­ne­rungen besetzt, die frei­ge­legt und reak­tua­li­siert, oder auch ver­drängt oder ver­gessen werden können. In ihrer Summe bilden sie ein archi­vi­sches “Erin­ne­rungs­depot” (Aleida Ass­mann: Erin­ne­rungs­räume – Formen und Wand­lungen des kul­tu­rellen Gedächt­nisses, 2018) des Krieges.

 

Bilder agieren, insis­tieren rhe­to­risch ver­ein­fa­chend, schreibt Sontag – redu­zieren die Rea­lität zu einer Abs­trak­tion, die es mit Geschichte(n) und Erin­ne­rungen anzu­rei­chern gilt. Auch wenn ein­zelne durch die Medi­en­räume mäan­dernde But­scha-Bilder zwei­fels­ohne zu Bil­di­konen geworden sind, so ist die Wir­kung, die sie – Aus­schnitte einer apo­ka­lyp­ti­schen Wirk­lich­keit – im endlos rau­schenden Medi­en­strom erzielen, doch eher flüchtig. Kadan greift – eben­falls zu Memes gewor­dene – Kata­stro­phen­bilder auf und kon­fron­tiert sie mit anderen (his­to­ri­schen) Spuren und Nar­ra­tiven, um die ihnen inne­woh­nenden his­to­ri­schen Kon­ti­nui­täten frei­zu­legen oder zu rekonstruieren.

 

“Sieh her, sagen die Fotos, so sieht das aus. Das alles richtet der Krieg an – und auch das hier. Der Krieg zer­trüm­mert, läßt bersten, reißt auf, weidet aus, ver­sengt, zer­stü­ckelt. Der Krieg rui­niert.” (Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, 2003, S. 14)

Mit Nikita Kadan in But­scha, Voksal’na Straße. Fotos: Eli­sa­beth Bauer, November 2022.

Mate­ri­elle Zeu­gen­schaft: “Dieser Mensch lebte in seiner Malerei”

 

Kadans Methode, sich der Kriegs­rea­lität auf Ebene des all­täg­li­chen Lebens, der gefun­denen Objekte, die (his­to­ri­sche) Kriegs­er­fah­rung an sich tragen, anzu­nä­hern, ist nicht neu: “Ich habe 2014 ange­fangen, solche Dinge wie Trümmer, geschmol­zenes Glas oder Metall­frag­mente zu sam­meln – und arbeite bis heute so”, erzählt er. “Ich arbeite mit Mate­rial, bin inter­es­siert an der Idee mate­ri­eller Zeu­gen­schaft.” Wenn er damals in die Ost­ukraine fahren musste, fährt er heute nach But­scha, Hostomel’ oder Izjum. Mehr­fach schon brauchte er von seiner Woh­nung aus nur wenige Straßen weiter zu gehen, als es zu hef­tigen Ein­schlägen in Kyjiw gekommen war – noch bevor man die Haupt­stadt mit schüt­zender Luft­ab­wehr ausstattete.

 

Die unbe­kannte Geschichte hinter den Haus­resten auf der Voksal’na Straße erin­nert an die Zer­stö­rung anderer ukrai­ni­scher Künstler:innen-Nachlässe: etwa an das der ukrai­ni­schen Volks­künst­lerin Marija Pry­ma­chenko (1808–1997) gewid­mete Museum, das bereits am zweiten Tag der umfas­senden Inva­sion in Ivankiv zer­stört wurde. Kadan aber denkt an das tra­gi­sche Schicksal des Werks einer anderen Ver­tre­terin der ukrai­ni­schen naiven Malerei bzw. “Out­sider Art”: Polina Rayko (1928–2004), die erst als 69-Jäh­rige zu malen begann, dann aber ihr gesamtes Haus in Oleschky bei Cherson in Malerei – bio­gra­phi­sche Ele­mente, folk­lo­ris­ti­sche Sym­bolik – hüllte.

 

Vjačeslav Mašyns’kyj, ein Cher­soner Künstler, der Raykos Haus restau­riert und die Polina Rayko-Stif­tung gegründet hatte, küm­merte sich um den Schutz des Haus­mu­seums – selbst noch unter rus­si­scher Okku­pa­tion. “Man hatte ver­sucht ihn zu eva­ku­ieren”, erzählt Kadan. “Er sagte: ‘Ich bleibe hier bis alles vorbei ist.’ ” Im Sommer 2022 ver­schwand Mašyns’kyj – auf seiner Dat­scha fand man nur noch Spuren von Blut. Als weite Teile Cher­sons infolge des rus­si­schen Anschlags auf den Kachovka-Damm von den schlam­migen Was­ser­massen des Dnipro über­schwemmt wurden, ver­sanken auch Raykos Wand- und Decken­ma­le­reien im ver­gif­teten Fluss­wasser – und wurden teils bis zur Unkennt­lich­keit beschä­digt.

Kul­tu­reller Genozid: Kriegs­stra­tegie der gezielten Auslöschung

 

“Ich lebe in einer Zone fort­lau­fend ver­übten Mas­sen­mords und der Zer­stö­rung der all­täg­li­chen und natür­li­chen Umwelt. But­scha – das ist ein Ort des gezielten Mas­sen­mordes”, sagt Nikita Kadan, in den Trüm­mern des ehe­ma­ligen Künst­ler­hauses ste­hend. “Dieser Krieg kann als Genozid bezeichnet werden und das ist keine Über­trei­bung. Wir können uns die Defi­ni­tion Raphael Lem­kins ansehen – But­scha war eine Bühne des Geno­zids. Diese klei­neren Städte – But­scha, Irpin’, Hostomel’, Borod­janka – haben den Angriff der rus­si­schen Armee abge­wehrt, sie haben Kyjiw beschützt. Die Leben dieser getö­teten Men­schen waren der Preis, der für mein Leben gezahlt wurde.”

 

Wird ein bestimmter Teil des (im)materiellen kul­tur­his­to­ri­schen Gedächt­nisses gezielt und mit der Inten­tion zer­stört, einer Gruppe ihre eigene Kul­tur­ge­schichte, ihr Recht auf Exis­tenz zu ent­ziehen, kann mit Raphael Lemkin, der den juris­ti­schen Begriff “Genozid” geprägt hat, von “kul­tu­rellem Genozid” gespro­chen werden: Für Lemkin “war das Wesen des Völ­ker­mords kul­tu­reller Natur – ein sys­te­ma­ti­scher Angriff auf eine Gruppe von Men­schen und ihre kul­tu­relle Iden­tität; ein Ver­bre­chen, das sich gegen die Dif­fe­renz selbst richtet.” (Leora Bilsky, Rachel Klags­brun: “The Return of Cul­tural Geno­cide?”, Euro­pean Journal of Inter­na­tional Law, Vol. 29, Issue 2, 05/2018.)

 

Der kul­tu­relle Aspekt wurde in der Völ­ker­mord­kon­ven­tion zwar aus­ge­spart, doch werden die sys­te­ma­ti­sche Zer­stö­rung des kul­tu­rellen ukrai­ni­schen Erbes zusammen mit den doku­men­tierten Akten ziel­ge­rich­teter Tötung, Folter, Ver­ge­wal­ti­gung und Ver­schlep­pung unter For­schenden als Belege her­an­ge­zogen, dass im Falle der rus­si­schen Aggres­sion gegen die ukrai­ni­sche Nation die Inten­tion von Genozid nach der UN-Kon­ven­tion vor­liegt. Dass die geno­zi­dale Inten­tion untrennbar mit der rus­sisch-impe­ria­lis­ti­schen Kriegs­füh­rung ver­bunden ist, schreibt auch die For­scherin und Autorin Daria Tsym­ba­lyuk: “Impe­ria­lismus, ein­schließ­lich des rus­si­schen Impe­ria­lismus, agiert durch Aus­lö­schung.” Die Zer­stö­rung (nicht nur) der mensch­li­chen Lebens­um­welt in der Ukraine sei keine gewalt­same Ein­zel­geste, so Tsym­ba­lyuk, son­dern ziehe sich sys­te­ma­tisch “durch Zeit und Raum”.

Koh­le­zeich­nungen ‘Ljudy’ / ‘Men­schen’ und ein Graf­fiti in Hostomel’, gepostet auf Nikita Kadans Insta­gram-Seite, 15. Juli 2023 (1, 3) und 12. Mai 2022.

His­to­rio­gra­phi­sche Methode: Erde und Trümmer spre­chen für sich

 

Wir biegen ein in die Jabl­uns’ka, dann in die Jarem­chuk-Straße, kreuzen eine brach­lie­gende Bau­fläche: Von Rake­ten­split­tern zer­ris­sene Blech­zäune, schwarz­klaf­fende Fens­ter­höhlen, Dächer, die erst auf den zweiten Blick erkenn­bare fein­ge­spren­kelte Narben auf­weisen kreuzen unseren Weg. Ein fast sur­real anmu­tender Hoch­haus­wald kommt in Sicht: Die zehn­sto­ckigen Wohn­kom­plexe aus den 2010er Jahren fallen wohl unter Kadans zuvor erwähnte Kate­gorie “Evro-Remont” – die Auf­schrift “Mil­le­nium State” prangt auf einem der grauen Wohn­blocks, eine ste­rile – gest­rige – Wohn­idylle versprechend.

 

2019 hob Kadan in einem auf der Kul­tur­platt­form Arterri­tory ver­öf­fent­lichten Inter­view den his­to­rio­gra­phic turn als ihn beein­flus­sende Kunst­strö­mung hervor – und ver­wies auf zwei Schlüs­sel­texte: Kurator Dieter Roel­straete schrieb 2009, dass die aktu­ellen Zeiten nach einer Kunst­strö­mung riefen, die die Kunst­welt als ein his­to­ri­sches Ganzes ver­stehe und die Not­wen­dig­keit auf­zeige, immer schon das “grö­ßere Bild” zu denken; über den Blick in die Geschichte die Gegen­wart wie auch die Zukunft zu “exka­vieren”. Hal Foster beob­ach­tete einen “an-archi­vi­schen Impuls”, der die Auf­merk­sam­keit auf “obskure Spuren” statt “abso­lute Ursprünge” lenke.

 

Die his­to­rio­gra­phi­sche Methode, die er daraus ablei­tete, zieht sich als Kon­ti­nuum durch Kadans Schaffen in Kriegs- und Kri­sen­zeiten. “Viel­leicht möchte ich selbst ein Instru­ment sein, ein Mittel, dessen Mate­rial genutzt werden kann, um zu bezeugen; viel­leicht möchte ich die Erde oder das geschmol­zene Glas für sich spre­chen lassen. In diesem Sinne bin ich einer der Agents.” Kadan hört tief in den Boden, in das Mate­rial hinein – und setzt es in neue, oft wider­sprüch­liche Kon­texte. Dabei geht es dem Künstler-Bezeuger um eine kri­ti­sche Hin­wen­dung zu den Trüm­mern der Ver­gan­gen­heit im Benjamin’schen Sinne: um eine (Re-)Imaginierung von Geschichte und Zukunft, um ihr “Auf­blitzen” in der Gegenwart.

 

In seiner Arbeit Shelter II (2023) rea­li­sierte Kadan im Auf­trag des Cas­tello di Rivoli für die Aus­stel­lung “Artists in A Time of War” eine Neu­auf­lage des Shelter I (2015), in dem der Künstler die Geschichte des beschä­digten Donetsker Geschichts­mu­seums reflek­tiert hatte: ein wür­fel­ar­tiger Schutz­raum, einer­seits mit Metall­betten, in denen Pflanzen ein­ge­setzt sind, ande­rer­seits mit einer bewach­senen Bar­ri­kade aus Auto­reifen, Glas und davor dra­pierten aus­ge­stopften Rehen aus­ge­stattet. Nun schuf er wieder einen Kubus mit hori­zontal ein­ge­zo­gener Decke: unten ist der Raum in Erd­wände mit einer zen­tral plat­zierten, aus der Erde ragenden schwarzen Hand gefasst, wäh­rend oben die Schutz­funk­tion des “Shel­ters” durch eine dicht­ge­sta­pelte Bücher­wand sym­bo­li­siert wird. “Shelter II” ver­eint zwei populär gewor­dene Bilder des Krieges in einer raum­fas­senden Instal­la­tion: das Bild einer Hand einer ver­gra­benen Frau in But­scha, das ent­stand, als die Mas­sen­gräber ent­deckt worden waren, und das emble­ma­ti­sche Bild einer Schutz­wand aus Büchern.

‘Shelter II’, 2022–2023 (boos, soil, bronze, wood, metal, plaster). Quelle: nikitakadan.com/i/shelter-ii/.

“NORM”: Refle­xionen in einem Moment höchster Dringlichkeit

 

Wie repro­du­ziert und nor­miert sich die Kata­strophe – auf kol­lek­tiver, all­täg­li­cher Ebene? Diese Frage stand in der Aus­stel­lung “NORM” im Zen­trum, die Kadan Ende Mai 2023 in seiner Kyjiwer Woh­nung ein­rich­tete. Die Apart­ment­aus­stel­lung sollte eine Alter­na­tive neben die fast zeit­gleich eröff­nete Kunst­schau Jak ty? (Wie geht es dir?) setzen, die sich im Ukrai­ni­schen Haus auf vier Etagen vor­nahm, ein umfas­sendes Bild künst­le­ri­schen Schaf­fens in Zeiten des großen Krieges zu zeichnen – in dieser Dimen­sion ein ein­ma­liger Versuch.

 

“Mir fiel auf, dass viele ukrai­ni­sche Künstler:innen ange­fangen hatten, auch mit Trüm­mern zu arbeiten”, sagt Künstler-Kurator Kadan. Die in der Woh­nung ver­sam­melten Arbeiten seien nicht nur Selbst­pro­pa­ganda – sie ent­hielten alle Ele­mente von Zeu­gen­schaft: viel­stimmig, schmerz­er­füllt. “Wenn all diese Men­schen auf Trüm­mern leben, haben sie ein ethi­sches Recht, sich an diese Trümmer zu wenden. Wir bezeugen die glei­chen Ver­bre­chen. Es sind Refle­xionen in einem Moment höchster Dring­lich­keit – aber es sind gebro­chene Reflexionen.”

 

Unmög­lich, die inak­zep­table “Nor­ma­lität” rus­si­schen Ter­rors zu bezeugen, ohne dabei die his­to­ri­schen Par­al­lelen in der ukrai­nisch-euro­päi­schen Kul­tur­ge­schichte zu sehen. “In dieser Zeit des Krieges geht es viel um Muta­tion – um tiefe Ver­än­de­rung der Per­sön­lich­keit. Aber wir tragen unsere Erfah­rungen, unsere Wis­sens­spei­cher der Ver­gan­gen­heit weiter, auch weil sie Teil unserer Iden­ti­täten sind: kom­pli­zierte, viel­schich­tige Iden­ti­täten.” Anstatt immer nur Sub­jekt zu sein das schreit, könne man selbst zum Beweis­ob­jekt werden, “von einer objekt­ori­en­tierten Onto­logie aus­gehen”, so Kadan.

Spuren in Irpin’ und But­scha (1+3) und Koh­le­zeich­nung ‘Dety’ / ‘Kinder’, gepostet auf Nikita Kadans Insta­gram-Seite, 18. Mai 2023 und 16. November 2022.

Mate­ri­elle Erin­ne­rung: Die tiefen Risse bleiben

 

Wie die rus­si­schen Ver­bre­chen nach – und bis zu – dem ukrai­ni­schen Sieg erin­nert, wie nach­er­zählt und auf­ge­ar­beitet werden, hängt nicht nur, aber auch von kri­ti­schen künst­le­ri­schen Posi­tionen wie der Nikita Kadans ab. “But­scha wird erneuert werden – die Frage ist, wie sich die Stadt zu ihrem Status als Erin­ne­rungsort ver­halten wird”, sagt Kadan auf dem Weg vom voll­kommen zer­störten Ein­kaufs­zen­trum “Epi­zentr” am äußersten Rand But­schas zurück in den Orts­kern. “Viele Spuren sind an der Ober­fläche, aber die tiefen Risse bleiben.” Selbst wenn die größten Zer­stö­rungen ver­steckt oder besei­tigt würden, die Ober­fläche rege­ne­riert sei, blieben viele mate­ri­ellen Wunden zurück. “Mate­rial bewahrt die Erin­ne­rung und es gibt Tech­no­lo­gien, mit denen sie gelesen werden können. Irgend­wann werden wir auf ato­marer Ebene wohl alles lesen können.”

 

Dem kri­ti­schen Mate­ria­listen Kadan geht es um die Ver­tei­di­gung des kom­plexen Lebens gegen die Gefahr sim­pli­fi­zie­render Bina­rismen – gegen die ver­gif­tende Gewalt des rus­si­schen Faschismus. “Unter diesen Bedin­gungen Kunst zu machen bedeutet auch, für sein Recht zu kämpfen, kom­plex und mul­ti­di­men­sional zu sein.” Bevor offi­zi­elle Denk­mäler gebaut werden, müsse Zeit für die ernst­hafte Refle­xion dar­über ver­gangen sein, was hier und andern­orts pas­siert ist, sagt er.

Das Bei­trags­bild zeigt ein zer­störtes Gar­ten­zen­trum in But­scha, auf­ge­nommen im November 2022 von der Autorin.