Spaziergang durch Butscha: Materielle Zeugenschaft in der multiplen Katastrophe

Der Multimedia-Künstler Nikita Kadan kann als eine der kritischsten Stimmen der zeitgenössischen ukrainischen Kulturlandschaft bezeichnet werden. In seiner historiographischen, praktischen und zugleich theoretisch avancierten Arbeitsweise geht Kadan von Ort und Material der Zerstörung aus – und bezieht gleichzeitig historische oder kulturpolitische Kontexte mit ein. Kann auf Erde, die in Blut getränkt ist, Neues entstehen? Modellieren die Verbrechen des Putinismus andere Gewaltverbrechen der Geschichte (Stalinismus, Nazismus) neu? Welche Bedeutung kommt Dokumentation und künstlerischer Reflexion im Kontext der existenziellen kollektiven Formulierung eines ukrainischen Erinnerungskanons zu?

Die Autorin hat den Kyjiwer Künstler im November 2022 – praktisch und metatextuell – auf einem Spaziergang durch Butscha begleitet: Das hybride Textformat greift den Spaziergang als (historiographische) Methode auf, in welcher sich materiell-archäologische und (kultur-)semiotische Strategien spiegeln.

 

 

Kyjiw—Butscha

 

Der Weg aus dem Kyjiwer Stadtzentrum nach Butscha führt über die Juriy Iljenko-Straße, die den Erinnerungspark Babyn Jar in zwei Abschnitte teilt, durch den nordwestlich gelegenen Bezirk Syrets‘: In Babyn Jar ereignete sich im September 1941 eines der zahlenmäßig größten Massaker an den ukrainischen Jüdinnen, Juden und anderen Minderheiten oder politischen Gegner:innen der NS-Besatzer: Hier wurde deutlich, dass so etwas wie der Holocaust möglich war, hier ließen die sowjetischen Machthaber systematisch alle Erinnerungsspuren an die fast 34 Tausend Opfer des zweitägigen Massakers mit dem Abraum einer naheliegenden Backsteinfabrik überfluten und – zumindest zeitweise – ausradieren.

 

Das Taxi hüpft über unebenen Asphalt: Der Kiefernwald, der Kyjiw und die von russischer Besatzung befreiten Vorstädte trennt, ist von Barrikaden, Hedgehogs – Igel-ähnliche Panzerfallen aus Eisen – und teils verlassenen Militärstellungen durchsetzt. Bei Horenka beginnen Datschen die Straße zu säumen: teils verbarrikadiert, teils zerstört, teils notdürftig instandgesetzt. „Dety“ (Kinder) – jenes Wort, dem die verzweifelte Hoffnung auf einen letzten Hauch Menschlichkeit seitens der Angreifer eingeschrieben ist, – prangt in großen Lettern auf Mauern und Toreinfahrten. Über diese Straße wären russische Truppen im Frühjahr 2022 nach Kyjiw gekommen, hätte die ukrainische Armee den Okkupanten nicht erfolgreich die Stirn geboten.

 

An einem Novembersonntag fahre ich mit Nikita Kadan (*1982), einem der international meistausgestellten ukrainischen Gegenwartskünstler, nach Butscha: Kadan nimmt sich der übersehenen oder bewusst verdunkelten Spuren vergangener und gegenwärtiger Katastrophen an – Spuren, die Kriege und Massengewalt in den sich mehrfach überlagernden ukrainischen Traumatopographien (Bloodlands) hinterlassen haben. Sein Zugang zur Geschichte ist ein materialistischer – ein praktisch-archäologischer und zugleich theoretisch-anspruchsvoller: Wie kann die Erinnerung an zivilisatorische Verbrechen von verzerrter Politisierung und Instrumentalisierung befreit, wie koloniale Narrative offengelegt und überwunden werden? Es sind solche historischen Verstrickungen, die sich bis in die Materie der Gegenwart ziehen, die im Zentrum des Œuvres des Kyjiwer Künsters stehen.

Der Weg nach Butscha. Fotos: Elisabeth Bauer, November 2022.

Butscha-Bilder: dort, wo es passierte

 

Für die aus dem Ausland angereiste Person geht es beim Besuch ukrainischer Kriegstopographien wohl darum, das von Susan Sontag beschriebene, von Bildern vermittelte „hypothetische gemeinsame Erleben“ (Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, 2003, S. 12) gegen ein reales Erleben einzutauschen: mit eigenen Augen zu sehen, wo und wie die russischen Invasoren gewütet haben, zu fixieren, welche bleibenden Spuren die Verbrecher an diesem bestimmten und gleichzeitig symbolträchtigen, die Geschichte modellierenden Ort hinterlassen haben. Mit einer Gruppe internationaler Journalist:innen hatte ich zuvor bereits andere befreite Ortschaften besucht. Wir sahen: ausgebrannte Hausgerippe in Irpin‘, den zerstörten Flughafen von Hostomel‘, den Friedhof von Butscha – und eine kaum zu beschreibende, fragile Alltäglichkeit in der individuellen wie kollektiven historischen Katastrophe.

 

Kurz nachdem Butscha am 31. März 2022 befreit worden war, die unerträgliche Brutalität der russischen (Kriegs-)Verbrechen erkenntlich wurden (Stand August 2022 ist die Zahl von 458 getöteten Männern, Frauen und Kindern bekannt) und Bilder des Grauens einige Tage lang die Zeitungsseiten prägten, entschloss sich Kadan, sein Studio vorübergehend – über den Winter – nach Butscha zu verlagern. „Du weißt ja, dass ich mit Bildern von Katastrophen und kollektiven Traumata arbeite und im Prinzip weiß, dass diese zurückkehren – in ganz verschiedenen historischen Kontexten. Nach wie vor gibt es weder einen weltweiten Konsensus noch eine Strategie, die uns vor diesen Dingen beschützt“, sagt Kadan.

 

Anfang April twitterte Eugene Finkel: „Als Genozid-Forscher bin ich ein Empirist. (…) Es gibt Handlungen, die Intention ist da. Es ist so genozidal wie es nur sein könnte. Klar, einfach und für alle zu sehen.“ Die fotografisch festgehaltenen Anblicke barbarischer Gräueltaten schockierten – schienen für einen Moment Raum und Zeit in Stillstand zu versetzen: Seit „Butscha“ liegt der systematisch verübte Massenmord an Zivilist:innen in aller Brutalität offen-sichtlich vor den Augen der Welt – und es wurde seither vielfach bestätigt, dass die in Butscha gesehene Folter, Misshandlung und Ermordung auch in anderen besetzten Dörfern und Ortschaften als fester Bestandteil der russischen, genozidalen Kriegsstrategie praktiziert werden.

Butscha: Zentrum und Friedhof. Fotos: Elisabeth Bauer, November 2022.

Wunde Kriegstopographien: Geschichte wiederholt sich

 

Der Taxifahrer verlangsamt das Tempo. Babyn Jar – Symbol für den „Holocaust durch Kugeln“ – liegt hinter uns; Butscha – Symbol für die russische Kriegsstrategie systematischer Folter, Vergewaltigung und Massenmord – haben wir fast erreicht. „Hier kommt der Bahnhof, wo die Bahnen aus Kyjiw ankommen. Und das“ – Nikita deutet in die andere Richtung – „war um 1900 eine Datschensiedlung.“

 

Auf der einen Seite von Datschen, Fichtenwald und Seen, auf der anderen von bourgeoisen Wohnkomplexen geprägt, hatte sich in Butscha in den letzten Jahren ein zweiseitiger Wohlstand in direkter Anbindung zur Hauptstadt etabliert – „zwischen Evro-Remont und Elitarismus“, erzählt Kadan. Jetzt ist der Wald um Butscha vermint, es werden immer noch Körper gefunden. Dass dieser einst beschauliche Ort von einer Tragödie heimgesucht werden würde, war vor rund anderthalb Jahren genauso undenkbar, wie die Vorstellung, auf die Metropole Kyjiw könnten teils täglich – mit militärischer Präzision – Raketen und Drohnenschwärme niedergehen.

 

Wir fahren vorbei an einem kleinen Platz, in dessen Mitte sich eine verlassene Grünfläche befindet. „Dort stand ein Bulgakov-Denkmal, denn auch er war mal in Butscha.“ Michail Bulgakov, ein aus Kyjiw gebürtiger russischer Schriftsteller, der – ähnlich wie Puschkin – der Ukraine kritisch gegenüberstand und auch in seine Romane anti-ukrainische Positionen einwebte, ließ auch in publizistischen Texten seiner Missachtung der ukrainischen Kultur und Sprache gegenüber freien Lauf – und trug dazu bei, dass über Jahrzehnte hinweg russländische Narrative über die Ukraine nicht nur in (post-)sowjetische Länder, sondern auch in den Westen getragen wurden. Damit trage Bulgakov, so die verbreitete Meinung, eine Mitschuld daran, dass im Namen des russischen Imperialismus Verbrechen wie jene in Butscha verübt werden – und ein brutaler Krieg gegen die ukrainische Bevölkerung, ihre Kultur, Geschichte und Unabhängigkeit geführt wird.

 

Kriegsnormalität? „Es scheint, als habe das Leben gesiegt“

 

 

Mittagszeit in Butscha: Im Ortszentrum werden auf einem Markt Gemüse, Obst, Honigprodukte und Kurzwaren verkauft – vor allem Frauen und Männer im Rentenalter schieben sich durch die Marktzeilen. Kadan kauft einer Verkäuferin eine selbstgezogene Aloe Vera ab: „Die hat die Okkupation überlebt“, sagt er.

 

Eine stählerne, schmucklose Brücke führt vom Marktplatz aus über die mehrgleisige Bahntrasse in den südlichen Teil des Ortes – und auf die Vokzal’na Straße: Vor uns liegt eines jener Motive, die vor über einem Jahr in apokalyptischen Szenen um die Welt gingen. Teile ausgebrannter Fahrzeugwracks, Häusertrümmer und auf der Straße mit verbundenen Händen liegende leblose Körper säumten die wüste wintergraue Allee. An diesem Novembersonntag sind Spuren der Zerstörung zwar unübersehbar, aber Aufräum- und Wiederaufbaumaßnahmen haben die Straße bereinigt, die Zeit hat – oberflächlich nur – Wunden geheilt.

 

Als er im Sommer in Butscha war, sei es heiß und stickig gewesen – man habe die Präsenz der Verbrechen noch spüren können. „Jetzt ist es anders – es scheint, als habe das Leben gesiegt“, sagt Kadan. Die Straße ist gesäumt von verschiedenartigen freistehenden Häusern: Überreste einfacher Holzhäuschen, moderne Einfamilienhäuser. Kadan deutet auf die Ruine einer kleinen Villa: „Ein bourgeoises Haus – sie gingen zuallererst in solche Gebäude.“ Er erinnert an ein russisches Graffiti, das vielfach in den sozialen Medien geteilt worden war: „Wer hat euch erlaubt schön zu leben?“

The Shadow on the Ground I-IV‘ (Kohlezeichnungen), gepostet auf Nikita Kadans Instagram-Seite, 11.-13. März 2022.

Butscha lesen: Spaziergang als Methode

 

Im Zuge des großen russischen Angriffskriegs verwandelten sich Häuserfronten, Tore und Mauern in kommunikative Zeichensysteme, wobei Worte wie „DETY“ oder „LJUDY“ (Menschen) von russischen Militärs sehend ignoriert, ihre Bedeutung ausgehöhlt, malträtiert, attackiert wurde. Künstler-Bezeuger Kadan greift diese Worte, die sich auch in anderen befreiten Dörfern verbreitet finden, auf: Sie bilden das ikonische Zentrum auf düsteren Kohlezeichnungen, auf denen ukrainische Felder, Dorfmotive oder schwarze Sonnen – in abstrahierter Reduktion – die zweite Bildebene bilden. Kadan gibt den Worten nicht nur ihre Bedeutung, den Menschen ihre Stimme wieder; sie entblößen gleichzeitig jene Bedeutungsebene, die die russischen Besatzer den Worten gewaltsam einschreiben.

 

Spaziergang – Sichtung, Dokumentation, Ausgrabung – erweist sich in Kadans Kunstpraxis nicht nur als Dokumentations-, sondern vielmehr als existenzielle ErinnerungsarbeitErde, Stein, Straße oder Haus sind mit traumatischen Erfahrungen und Erinnerungen besetzt, die freigelegt und reaktualisiert, oder auch verdrängt oder vergessen werden können. In ihrer Summe bilden sie ein archivisches „Erinnerungsdepot“ (Aleida Assmann: Erinnerungsräume – Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 2018) des Krieges.

 

Bilder agieren, insistieren rhetorisch vereinfachend, schreibt Sontag – reduzieren die Realität zu einer Abstraktion, die es mit Geschichte(n) und Erinnerungen anzureichern gilt. Auch wenn einzelne durch die Medienräume mäandernde Butscha-Bilder zweifelsohne zu Bildikonen geworden sind, so ist die Wirkung, die sie – Ausschnitte einer apokalyptischen Wirklichkeit – im endlos rauschenden Medienstrom erzielen, doch eher flüchtig. Kadan greift – ebenfalls zu Memes gewordene – Katastrophenbilder auf und konfrontiert sie mit anderen (historischen) Spuren und Narrativen, um die ihnen innewohnenden historischen Kontinuitäten freizulegen oder zu rekonstruieren.

 

„Sieh her, sagen die Fotos, so sieht das aus. Das alles richtet der Krieg an – und auch das hier. Der Krieg zertrümmert, läßt bersten, reißt auf, weidet aus, versengt, zerstückelt. Der Krieg ruiniert.“ (Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, 2003, S. 14)

Mit Nikita Kadan in Butscha, Voksal’na Straße. Fotos: Elisabeth Bauer, November 2022.

Materielle Zeugenschaft: „Dieser Mensch lebte in seiner Malerei“

 

Kadans Methode, sich der Kriegsrealität auf Ebene des alltäglichen Lebens, der gefundenen Objekte, die (historische) Kriegserfahrung an sich tragen, anzunähern, ist nicht neu: „Ich habe 2014 angefangen, solche Dinge wie Trümmer, geschmolzenes Glas oder Metallfragmente zu sammeln – und arbeite bis heute so“, erzählt er. „Ich arbeite mit Material, bin interessiert an der Idee materieller Zeugenschaft.“ Wenn er damals in die Ostukraine fahren musste, fährt er heute nach Butscha, Hostomel‘ oder Izjum. Mehrfach schon brauchte er von seiner Wohnung aus nur wenige Straßen weiter zu gehen, als es zu heftigen Einschlägen in Kyjiw gekommen war – noch bevor man die Hauptstadt mit schützender Luftabwehr ausstattete.

 

Die unbekannte Geschichte hinter den Hausresten auf der Voksal’na Straße erinnert an die Zerstörung anderer ukrainischer Künstler:innen-Nachlässe: etwa an das der ukrainischen Volkskünstlerin Marija Pry­ma­chenko (1808-1997) gewidmete Museum, das bereits am zweiten Tag der umfassenden Invasion in Ivankiv zerstört wurde. Kadan aber denkt an das tragische Schicksal des Werks einer anderen Vertreterin der ukrainischen naiven Malerei bzw. „Outsider Art“: Polina Rayko (1928-2004), die erst als 69-Jährige zu malen begann, dann aber ihr gesamtes Haus in Oleschky bei Cherson in Malerei – biographische Elemente, folkloristische Symbolik – hüllte.

 

Vjačeslav Mašyns’kyj, ein Chersoner Künstler, der Raykos Haus restauriert und die Polina Rayko-Stiftung gegründet hatte, kümmerte sich um den Schutz des Hausmuseums – selbst noch unter russischer Okkupation. „Man hatte versucht ihn zu evakuieren“, erzählt Kadan. „Er sagte: ‚Ich bleibe hier bis alles vorbei ist.'“ Im Sommer 2022 verschwand Mašyns’kyj – auf seiner Datscha fand man nur noch Spuren von Blut. Als weite Teile Chersons infolge des russischen Anschlags auf den Kachovka-Damm von den schlammigen Wassermassen des Dnipro überschwemmt wurden, versanken auch Raykos Wand- und Deckenmalereien im vergifteten Flusswasser – und wurden teils bis zur Unkenntlichkeit beschädigt.Kultureller Genozid: Kriegsstrategie der gezielten Auslöschung

 

„Ich lebe in einer Zone fortlaufend verübten Massenmords und der Zerstörung der alltäglichen und natürlichen Umwelt. Butscha – das ist ein Ort des gezielten Massenmordes“, sagt Nikita Kadan, in den Trümmern des ehemaligen Künstlerhauses stehend. „Dieser Krieg kann als Genozid bezeichnet werden und das ist keine Übertreibung. Wir können uns die Definition Raphael Lemkins ansehen – Butscha war eine Bühne des Genozids. Diese kleineren Städte – Butscha, Irpin‘, Hostomel‘, Borodjanka – haben den Angriff der russischen Armee abgewehrt, sie haben Kyjiw beschützt. Die Leben dieser getöteten Menschen waren der Preis, der für mein Leben gezahlt wurde.“

 

Wird ein bestimmter Teil des (im)materiellen kulturhistorischen Gedächtnisses gezielt und mit der Intention zerstört, einer Gruppe ihre eigene Kulturgeschichte, ihr Recht auf Existenz zu entziehen, kann mit Raphael Lemkin, der den juristischen Begriff „Genozid“ geprägt hat, von „kulturellem Genozid“ gesprochen werden: Für Lemkin „war das Wesen des Völkermords kultureller Natur – ein systematischer Angriff auf eine Gruppe von Menschen und ihre kulturelle Identität; ein Verbrechen, das sich gegen die Differenz selbst richtet.“ (Leora Bilsky, Rachel Klagsbrun: „The Return of Cultural Genocide?“, European Journal of International Law, Vol. 29, Issue 2, 05/2018.)

 

Der kulturelle Aspekt wurde in der Völkermordkonvention zwar ausgespart, doch werden die systematische Zerstörung des kulturellen ukrainischen Erbes zusammen mit den dokumentierten Akten zielgerichteter Tötung, Folter, Vergewaltigung und Verschleppung unter Forschenden als Belege herangezogen, dass im Falle der russischen Aggression gegen die ukrainische Nation die Intention von Genozid nach der UN-Konvention vorliegt. Dass die genozidale Intention untrennbar mit der russisch-imperialistischen Kriegsführung verbunden ist, schreibt auch die Forscherin und Autorin Daria Tsymbalyuk: „Imperialismus, einschließlich des russischen Imperialismus, agiert durch Auslöschung.“ Die Zerstörung (nicht nur) der menschlichen Lebensumwelt in der Ukraine sei keine gewaltsame Einzelgeste, so Tsymbalyuk, sondern ziehe sich systematisch „durch Zeit und Raum“.

Kohlezeichnungen ‚Ljudy‘ / ‚Menschen‘ und ein Graffiti in Hostomel‘, gepostet auf Nikita Kadans Instagram-Seite, 15. Juli 2023 (1, 3) und 12. Mai 2022.

Historiographische Methode: Erde und Trümmer sprechen für sich

 

Wir biegen ein in die Jabluns’ka, dann in die Jaremchuk-Straße, kreuzen eine brachliegende Baufläche: Von Raketensplittern zerrissene Blechzäune, schwarzklaffende Fensterhöhlen, Dächer, die erst auf den zweiten Blick erkennbare feingesprenkelte Narben aufweisen kreuzen unseren Weg. Ein fast surreal anmutender Hochhauswald kommt in Sicht: Die zehnstockigen Wohnkomplexe aus den 2010er Jahren fallen wohl unter Kadans zuvor erwähnte Kategorie „Evro-Remont“ – die Aufschrift „Millenium State“ prangt auf einem der grauen Wohnblocks, eine sterile – gestrige – Wohnidylle versprechend.

 

2019 hob Kadan in einem auf der Kulturplattform Arterritory veröffentlichten Interview den historiographic turn als ihn beeinflussende Kunstströmung hervor – und verwies auf zwei Schlüsseltexte: Kurator Dieter Roelstraete schrieb 2009, dass die aktuellen Zeiten nach einer Kunstströmung riefen, die die Kunstwelt als ein historisches Ganzes verstehe und die Notwendigkeit aufzeige, immer schon das „größere Bild“ zu denken; über den Blick in die Geschichte die Gegenwart wie auch die Zukunft zu „exkavieren“. Hal Foster beobachtete einen „an-archivischen Impuls“, der die Aufmerksamkeit auf „obskure Spuren“ statt „absolute Ursprünge“ lenke.

 

Die historiographische Methode, die er daraus ableitete, zieht sich als Kontinuum durch Kadans Schaffen in Kriegs- und Krisenzeiten. „Vielleicht möchte ich selbst ein Instrument sein, ein Mittel, dessen Material genutzt werden kann, um zu bezeugen; vielleicht möchte ich die Erde oder das geschmolzene Glas für sich sprechen lassen. In diesem Sinne bin ich einer der Agents.“ Kadan hört tief in den Boden, in das Material hinein – und setzt es in neue, oft widersprüchliche Kontexte. Dabei geht es dem Künstler-Bezeuger um eine kritische Hinwendung zu den Trümmern der Vergangenheit im Benjamin’schen Sinne: um eine (Re-)Imaginierung von Geschichte und Zukunft, um ihr „Aufblitzen“ in der Gegenwart.

 

In seiner Arbeit Shelter II (2023) realisierte Kadan im Auftrag des Castello di Rivoli für die Ausstellung „Artists in A Time of War“ eine Neuauflage des Shelter I (2015), in dem der Künstler die Geschichte des beschädigten Donetsker Geschichtsmuseums reflektiert hatte: ein würfelartiger Schutzraum, einerseits mit Metallbetten, in denen Pflanzen eingesetzt sind, andererseits mit einer bewachsenen Barrikade aus Autoreifen, Glas und davor drapierten ausgestopften Rehen ausgestattet. Nun schuf er wieder einen Kubus mit horizontal eingezogener Decke: unten ist der Raum in Erdwände mit einer zentral platzierten, aus der Erde ragenden schwarzen Hand gefasst, während oben die Schutzfunktion des „Shelters“ durch eine dichtgestapelte Bücherwand symbolisiert wird. „Shelter II“ vereint zwei populär gewordene Bilder des Krieges in einer raumfassenden Installation: das Bild einer Hand einer vergrabenen Frau in Butscha, das entstand, als die Massengräber entdeckt worden waren, und das emblematische Bild einer Schutzwand aus Büchern.

Shelter II‘, 2022-2023 (boos, soil, bronze, wood, metal, plaster). Quelle: nikitakadan.com/i/shelter-ii/.

 „NORM“: Reflexionen in einem Moment höchster Dringlichkeit

 

Wie reproduziert und normiert sich die Katastrophe – auf kollektiver, alltäglicher Ebene? Diese Frage stand in der Ausstellung „NORM“ im Zentrum, die Kadan Ende Mai 2023 in seiner Kyjiwer Wohnung einrichtete. Die Apartmentausstellung sollte eine Alternative neben die fast zeitgleich eröffnete Kunstschau Jak ty? (Wie geht es dir?) setzen, die sich im Ukrainischen Haus auf vier Etagen vornahm, ein umfassendes Bild künstlerischen Schaffens in Zeiten des großen Krieges zu zeichnen – in dieser Dimension ein einmaliger Versuch.

 

„Mir fiel auf, dass viele ukrainische Künstler:innen angefangen hatten, auch mit Trümmern zu arbeiten“, sagt Künstler-Kurator Kadan. Die in der Wohnung versammelten Arbeiten seien nicht nur Selbstpropaganda – sie enthielten alle Elemente von Zeugenschaft: vielstimmig, schmerzerfüllt. „Wenn all diese Menschen auf Trümmern leben, haben sie ein ethisches Recht, sich an diese Trümmer zu wenden. Wir bezeugen die gleichen Verbrechen. Es sind Reflexionen in einem Moment höchster Dringlichkeit – aber es sind gebrochene Reflexionen.“

 

Unmöglich, die inakzeptable „Normalität“ russischen Terrors zu bezeugen, ohne dabei die historischen Parallelen in der ukrainisch-europäischen Kulturgeschichte zu sehen. „In dieser Zeit des Krieges geht es viel um Mutation – um tiefe Veränderung der Persönlichkeit. Aber wir tragen unsere Erfahrungen, unsere Wissensspeicher der Vergangenheit weiter, auch weil sie Teil unserer Identitäten sind: komplizierte, vielschichtige Identitäten.“ Anstatt immer nur Subjekt zu sein das schreit, könne man selbst zum Beweisobjekt werden, „von einer objektorientierten Ontologie ausgehen“, so Kadan.

Spuren in Irpin‘ und Butscha (1+3) und Kohlezeichnung ‚Dety‘ / ‚Kinder‘, gepostet auf Nikita Kadans Instagram-Seite, 18. Mai 2023 und 16. November 2022.

 Materielle Erinnerung: Die tiefen Risse bleiben


Wie die russischen Verbrechen nach – und bis zu – dem ukrainischen Sieg erinnert, wie nacherzählt und aufgearbeitet werden, hängt nicht nur, aber auch von kritischen künstlerischen Positionen wie der Nikita Kadans ab. „Butscha wird erneuert werden – die Frage ist, wie sich die Stadt zu ihrem Status als Erinnerungsort verhalten wird“, sagt Kadan auf dem Weg vom vollkommen zerstörten Einkaufszentrum „Epizentr“ am äußersten Rand Butschas zurück in den Ortskern. „Viele Spuren sind an der Oberfläche, aber die tiefen Risse bleiben.“ Selbst wenn die größten Zerstörungen versteckt oder beseitigt würden, die Oberfläche regeneriert sei, blieben viele materiellen Wunden zurück. „Material bewahrt die Erinnerung und es gibt Technologien, mit denen sie gelesen werden können. Irgendwann werden wir auf atomarer Ebene wohl alles lesen können.“

Dem kritischen Materialisten Kadan geht es um die Verteidigung des komplexen Lebens gegen die Gefahr simplifizierender Binarismen – gegen die vergiftende Gewalt des russischen Faschismus. „Unter diesen Bedingungen Kunst zu machen bedeutet auch, für sein Recht zu kämpfen, komplex und multidimensional zu sein.“ Bevor offizielle Denkmäler gebaut werden, müsse Zeit für die ernsthafte Reflexion darüber vergangen sein, was hier und andernorts passiert ist, sagt er.


Das Beitragsbild zeigt ein zerstörtes Gartenzentrum in Butscha, aufgenommen im November 2022 von der Autorin.


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