Kurzdichtung in Kriegszeiten als Mittel der politischen Aufklärung und des Widerstandes: Bertolt Brechts “Kriegsfibel” und aktuelle russischsprachige Antikriegslyrik

Mit Beginn des vollumfänglichen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat die Weltgeschichte eine seit langem bekannte Wendung genommen: eine Diktatur konstruiert ein Bild der Überlegenheit des eigenen Volkes gegenüber anderen Völkern, schafft ein oder mehrere Feindbilder von benachbarten Ländern, legitimiert den Überfall auf diese Länder mit vermeintlicher Gutmütigkeit und führt ehrlose, menschenunwürdige Kriege, die anfangs nicht als Kriege benannt oder verharmlost werden. Auch innerhalb solcher Diktaturen existieren Menschen, die die politischen Rhetoriken des eigenen Landes und sein Verhalten anderen Ländern gegenüber verurteilen, enthüllen und Mitbürger:innen darüber aufklären, auch wenn sie damit ihre eigene Freiheit und das eigene Leben riskieren. So war es im Fall von Bertolt Brecht, der im Exil Stücke und Lyrik schrieb, die das NS-Regime und Hitlers Kriege kritisierten, wobei seine “Kriegsfibel” erst 1955 nach den langen Auseinandersetzungen mit Ämtern der DDR veröffentlicht wurde. So ist es im Fall einiger russischsprachiger Dichter:innen, die zum Teil aufgrund ihrer Verurteilung des Angriffskrieges ihr Land verlassen oder dort bleiben und gegen das Regime kämpfen, obwohl immer das Risiko besteht, wegen Landesverrats, Verbreitung von Fehlinformationen oder Diskreditierung russischer Streitkräfte verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe von bis zu 15 Jahren verurteilt zu werden.

Die “Kriegsfibel” untersucht und hinterfragt Methoden und Rhetoriken der Massenbeeinflussung (Heukamp 1985), entsprechend Brechts Konzepten des des “eingreifenden Schreibens”, die darauf abzielen, Leser:innen zur Reflexion und dadurch zum Handeln und zur Veränderung zu bewegen (Brecht 1967). Brechts Adressat:innen sind die Nachkriegsgenerationen, denen die Verantwortung zum Handeln obliegt (Brecht 1967).

Auch die heutige russischsprachige Antikriegslyrik möchte ihre Leser:innen dazu anregen, die Lügen der Propagandamedien zu erkennen, sich über die Gräueltaten der russischen Regierung und Armee im Klaren zu sein und der Gewalt aktiv entgegenzutreten (Russian Oppositional Arts Review 2022). Dadurch, dass die meisten Texte im Internet (noch immer) frei zugänglich sind, richtet sie sich an eine breite, internationale Leserschaft, die geschlossen womöglich etwas verändern kann.

Sowohl Brechts Fotoepigramme, als auch moderne russischsprachige Antikriegsgedichte, enthüllen politische Rhetoriken, setzen sich mit den in der Gesellschaft verbreiteten kriegsassoziierten Metaphern auseinander und klären über Kriegsereignisse und daraus resultierende gesellschaftliche Umstände auf. Obwohl sie über achtzig Jahre voneinander trennen, sind sie einander sehr ähnlich. Dieser Beitrag stellt diese Kontexte einander gegenüber, untersucht und vergleicht sie.

 

 

Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch”. Darstellung von Diktatoren und Aggressorländern

 

 

In Brechts Epigramm Nr. 1 und dem dazugehörigen Foto hält Hitler gestikulierend eine Rede vor unsichtbarem Publikum (Kienast 2001). Die Leser:innen werden angeregt, diese Rede aus zeitgenössischer Sicht zu betrachten, um durch die Belehrung des Epigramms einer erneuten ähnlichen politischen Entwicklung vorzubeugen. Der Mythos des selbstbestimmten, mächtigen, handelnden Führers (Kittstein 2012) wird durch die Doppeldeutigkeit von zwei literarischen Bildern enthüllt: des Weges und des Schlafes. “Der schmale Weg”, der die christliche Tugend symbolisiert und ins Paradies führt (Kienast 2001), wird in der Realität zum Weg in den Abgrund. Begleitet wird dieser Weg durch den für damalige Regierungstreue typischen Untergangspathos (“Wir werden weiter marschieren, // Wenn alles in Scherben fällt”). Bemerkenswert ist, dass der Untergangspathos auch in heutigen russischen regierungstreuen Kreisen zu finden ist, als eine sinngemäße Fortsetzung der Aussage von Vladimir Putin von 2018: “Wir werden als Märtyrer ins Paradies kommen und sie werden einfach abkratzen” (Reuters 2018). Die Formulierung “Im Schlafe” bezieht sich auf die Hervorhebung der “schlafwandlerischen Sicherheit” Hitlers in der Presse (Bohnert 1982) – dabei stammt die Formulierung (“Ich gehe mit traumwandlerischer Sicherheit den Weg, den mich die Vorsehung gehen heißt”) von ihm selbst (Domarus 1965). Durch all das wird Hitler “nicht als historisch handelnde Person, verantwortlich für sein Tun, sondern als anmaßender Schlafwandler” (Wöhrle 1997) und Irrationaler (Bohnert 1982) gezeigt, wobei seine Handlungen mehr von seinen Einflussnehmer:innen als von ihm selbst gesteuert wurden.

Mit der Bloßstellung des Diktators und des Regimes durch literarische Bilder beschäftigt sich auch das Gedicht von Ivan Stavisskij, das er auf seinem Facebook-Profil veröffentlicht hat:

 

 

Свято-саблезубая столица!

Не устала кровью веселиться?

Пропиши гулять по новым водам

Философским ржавым пароходам

И танцуй под грохот барабана

В шапито блатного балагана.

Ты ещё наплачешься, дурёха,

Как посадишь на кол скомороха…

Иван Стависский

Heilige Säbelzahnhauptstadt,

Bist du nicht müde davon, dich blutig zu amüsieren?

Schreib vor, neue Gewässer zu befahren,

Mit dem verrosteten Philosophenschiff,

Und tanz zum Donner der Trommel

Im bestechlichen Zirkus.

Dummes Ding, du wirst noch genug weinen,

Sobald du den Kasper aufspießt.

Ivan Stavisskij

 

 

In beiden Gedichten werden irreale Welten als Ausgangsumgebungen erstellt: der Schlaf und der Zirkus. Die “Kasper”-Metapher ist genauso abwertend, wie die Bloßstellung von Hitlers konstruierten Führerfigur. Während Schlaf auf die Verantwortungslosigkeit Hitlers hindeutet, impliziert der Zirkus die Absurdität und die Unmenschlichkeit des Krieges und des korrumpierten Machtapparats. Durch die Säbelzahnmetapher und die Betonung der Bestechlichkeit wird die Regierung, für die symbolisch die Hauptstadt steht, als gierig, korrupt und barbarisch dargestellt. Stavisskij äußert außerdem die Hoffnung, dass die Machthaber:innen – die für Krieg und Terror Verantwortlichen – Putin irgendwann “aufspießen” und ihre Unterstützung der Regierung sowie ihre eigenen verhängnisvollen Handlungen erkennen und bereuen werden.

 

 

 

Im letzten Vierzeiler der “Kriegsfibel”, der aus dem Epilog von Brechts Theaterstück “Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui” von 1941 stammt, wird Hitler bereits in eine imaginäre historische Distanz gerückt, um Aufklärung und die Aufarbeitung der Vergangenheit zu fordern – mit dem Ziel, dass eine menschenverachtende Diktatur wie diese sich in Zukunft nicht wiederholen könne. Es gilt, gefährliche politische Anmaßungen und die Bildung disinformativer Ideologien in keinem System zuzulassen. Die für die Zukunft wichtige “Erkenntnis, dass ein dritter Weltkrieg keine Sieger kennen wird” (Heukenkamp 1985), gibt das Epigramm den Leser:innen mit auf den Weg in die Zukunft, der das Potential hat, Abgründe zu vermeiden.

In vergleichbarer Weise wird das Putin-Regime in einem Gedicht von Alexei Bayer, im umfangreichen Online-Projekt “No war – poety protiv vojny“ (Dichter:innen gegen den Krieg) veröffentlicht, in eine historische Perspektive gesetzt und seinerseits als Wiederholung des sowjetischen Schreckensregimes dargestellt:

 

 

Их царь — ублюдочная мразь

Чекистская висит там вонь

Где между ситцевых берез

Валялся розовый их конь

Им с дымных белых яблонь дань

Уже уплачена вдвойне

И просыпается Рязань

Сегодня по уши в войне

Алексей Байер

Ihr Zar ist ein bescheuerter Dreckskerl,

Da stinkt es nach Tscheka,

Wo unter Baumwollbirken

Ihr rosa Pferd rumgelegen hat.

Ihnen ist der Tribut von weißen, qualmigen Apfelbäumen

schon doppelt gezahlt.

Und Rjasan‘ wacht heute auf,

Im Krieg bis über die Ohren.

Alexei Bayer

 

Putin wird direkt beleidigt, ohne dies in indirekten Anspielungen zu verstecken. Die Referenz auf die Tscheka, das 1917 bis 1922 existierende Sicherheitsorgan, dessen Ziel die Beseitigung der Opposition war, weist auf offensichtliche Parallelen zur früheren Geschichte des Landes hin. Dadurch wird deutlich, dass Russland zu einer Diktatur wird, in der, wie in früheren Zeiten, Proteste und politisch unerwünschte Tätigkeiten unterdrückt werden. Die Betonung des Wortes “heute” fordert die Leser:innen zum Vergleich der geschichtlichen Ereignisse auf und verstärkt den Eindruck, dass im heutigen Russland genau das passiert ist, wovor Brecht gewarnt hat.

 

 

 

Schützer und heilende Zahnfüllung. Kritik an der Selbstdarstellung der Aggressorländer

 

In den Nachbemerkungen zu Brechts Epigramm Nr. 6 wird angemerkt, dass der Überfall auf Norwegen als eine Schutzmaßnahme gegen einen Angriff Englands propagiert wurde. Das Epigramm stellt den aufoktroyierten Krieg bildhaft als Kontrast zum friedlichen Land dar und kulminiert in dem Satz, der die „Verteidigungslüge“ offenbart: “Der Schützer tauchte auf im Schutz der Nacht”.

 

 

Наша страна — это пушка.

Наша страна — это бомба.

Наша страна — это топ,

А вашу страну вы считаете вашей

по чьей-то ошибке огромной.

Наша страна — это бомба.

Наша страна — это пушка.

В дырке прогнившей Европы — целебная пломба,

А всё что вы видели — это превьюшка.

Brickspacer x Lado Kvataniya x Noize MC

Unser Land ist eine Kanone.

Unser Land ist eine Bombe.

Unser Land ist top,

Und euer Land bezeichnet ihr als euer wegen jemandes riesigen Fehlers.

Unser Land ist eine Bombe.

Unser Land ist eine Kanone.

Im Loch des verfaulten Europas ist es die heilende Zahnfüllung,

Und alles, was ihr gesehen habt, war eine Voraufführung.

Brickspacer x Lado Kvataniya x Noize MC

 

Diese Zeilen von Brickspacer, Lado Kvataniya und Noize MC, die auf einem NFT-Marktplatz auch als Musikvideo veröffentlicht wurden, um Spenden für ukrainische Geflüchtete zu sammeln, richten sich gegen eine sehr ähnliche Rhetorik von Putin, die den Angriff auf die Ukraine mit dem vermeintlichen Schutz von Donezk, Luhansk, der Krym und der dazugehörigen Bevölkerung gegen Diskriminierung sowie mit der Entnazifizierung und Demilitarisierung der Ukraine begründet hat (Putin 2022). Für den angeblichen Schutz steht die Metapher des Heilens, die Krankheit und eine Veränderungsabsicht impliziert. Geheilt werden soll das “verfaulte Europa” – eine in Russland derzeit populäre Propagandametapher –, das eine Zahnfüllung benötige. Auch diese Zeilen führen vor, dass Feindschaft und Bedrohung suggeriert werden, um so den Angriff als Schutzmaßnahme zu legitimieren.

 

 

Brüdermetaphorik als Äußerung der Solidarität mit und Verurteilung von Handlungen der Regierung 

 

 

Ein durchgehendes Motiv der “Kriegsfibel” ist die Brüdermetaphorik. Je nach Epigramm werden unterschiedliche Gruppen als Brüder bezeichnet, wodurch unterschiedliche Zusammenhänge sichtbar gemacht werden.

 

 

 

 

 

Im Epigramm Nr. 33 nennt ein durch einen sowjetischen Soldaten getöteter deutscher Soldat dessen Kameraden resp. Volksgenossen “Brüder”, wodurch im Hinweis auf die potentielle Solidarität der unterdrückten sozialen Gruppe der Bauern die von der Führung propagierte Feind- und Gegnerschaft in Frage gestellt wird. Der einzige Feind ist die Regierung selbst, gegen den die einfache Bevölkerung aller Länder in “Bruderschaft” zusammenhalten soll.

 

 

Im Vierzeiler Nr. 60, in dem das mit Majuskeln geschriebene “ICH” die Leser:inen zur Identifikation auffordert, wird mithilfe der Brudermetapher ebenfalls die von der Propaganda suggerierte Feindschaft zwischen den Völkern als Lüge enttarnt und durchgestrichen.

 

 

Auch Epigramm Nr. 55, das mit Doppelungen sowohl im Foto als auch im Text arbeitet, kann als ein “versteckter Aufruf zu internationaler Solidarität gegen Ausbeutung und Unterdrückung” (Knopf 2001) gelesen werden. Alle Soldaten sind Brüder in dem Sinne, dass sie die Sehnsucht nach einem friedlichen, menschenwürdigen Leben verbindet (Bohnert 1982). Allein die blinde Unterwerfung unter bzw. Übernahme der Ideologie trägt Schuld an den Grausamkeiten, die einfache Menschen einander im Krieg zufügen.

 

 

Брат брату:

закрой рты-то.

Макушкой соляного столба –

немого стыда –

чувствовать всплохи взрывов,

затылком смотреть на белую землю соли,

красную землю

крови и предательства.

Не оборачиваться.

Ольга Маркитантова

Bruder zu Bruder:

schließ doch die Munde.

Mit der Spitze der Salzsäule –

der stummen Scham –

Explosionen spüren,

mit dem Genick auf die weiße Salzerde schauen,

auf die Rote Erde des Blutes und des Verrats.

Sich nicht umdrehen.

Olga Markitantova

 

 

Wie in Brechts Vierzeiler kommen auch in diesem in einer dem Angriffskrieg gewidmeten Sonderausgabe der Online-Zeitschrift “Oblaka” publizierten Gedicht der belarusischen Dichterin und Literaturwissenschaftlerin Olga Markitantova Schuld- und Schamgefühle zum Vorschein. Das Gedicht spricht Gefühle, auf die der Bruderbegriff hindeuten könnte, nur indirekt aus und suggeriert das Schweigen und die Starrheit; nur Scham und Verrat als legitime Gefühle bezüglich des Krieges werden direkt benannt. Überwiegend, unter anderem in der Poesie, ist das Streben zu beobachten, sich von Mitbürger:innen, die am Krieg beteiligt sind oder den Krieg befürworten, abzugrenzen und sie nicht als Brüder anzusprechen oder zu bemitleiden. Aktuell kommen zwei Extreme zum Ausdruck: die pauschale Verurteilung des russischen Volkes, ungeachtet etwaiger ablehnender Haltungen zum Krieg und gesellschaftspolitischen Einflussmöglichkeiten, und strikte Distanzierung von den am Krieg Beteiligten, den Krieg Befürwortenden und indirekt Mithelfenden (z.B. lokale Politiker:innen, Steuerzahler:innen). Im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist die Brüdermetapher nach Brechts Vorbild verpönt. Sie wird als durch die sowjetische Ideologie kontaminiert und von ukrainischer Seite als Anmaßung gesehen, da mit der als kolonial zu bewertenden Metapher des “kleineren Bruders” jahrzehntelang Unterdrückung legitimiert wurde. Außerdem wird Belarus mit Russland assoziiert und die Bevölkerung beider Länder als am Krieg mitschuldig angesehen, weil der belarusische Präsident Alexander Lukashenka sein Land im Krieg gegen die Ukraine mitwirken lässt. Daher ist eine Benutzung der Brudermetaphorik für viele Kritiker:innen des Krieges aus Russland und Belarus moralisch unangemessen. Dieses Gedicht, in dem die Forderung nach Schweigen als Zurechtweisung des einen selbsternannten Bruders durch den anderen zu verstehen ist, erläutert diese verhängnisvolle Situation.

 

 

 
Kinder als potentielle Soldaten und Soldaten als Söhne
 

 

Das erblindete Kind auf dem Foto zu Epigramm Nr. 51 besitzt zwei Nationalitäten, eine japanische und eine amerikanische. Auf den ersten Blick besteht das Epigramm nur aus Verneinungen, die als Synekdochen für sehenswerte Bestandteile der Welt und ihre Bedeutung für jeden einzelnen Menschen stehen (Kienast 2001). Symbolisch wird in dieser Verneinungskette sowohl jedes einzelne Leben, als auch die Welt im Ganzen dargestellt. Der einzelne Mensch, der als Teil der großen Welt unbedeutend zu sein scheint, wird durch die Aufzählung dessen, was er von der Welt nie im Leben sehen wird, für Leser:innen doch sichtbar. Es wird nahegelegt, dass die nationalen, geographischen und kulturellen Grenzen überwindbar sind, wohingegen physische Beeinträchtigungen nicht rückgängig gemacht werden können und die Zukunft der Betroffenen auf Lebenszeit zerstört ist. Angesichts der Beeinträchtigung verliert es an Bedeutung, welche Nationalität das Kind hat, wessen Landes Himmel es sieht und ob es ihn im friedlichen oder kriegerischen Zustand sieht. Der Vierzeiler zeigt in der Wiederholung zugleich die “Austauschbarkeit” (Bohnert 1982) potentieller Opfer von Kriegen und, dass diese für jeden Beteiligten unvermeidbar eine persönliche Niederlage bedeuten.

 

 

Единственный твой сынок,

защитник, помощник, друг,

с вокзала придёт без ног,

обнимет тебя без рук,

наполнит стакан без дна,

без глаз оглядит подвал

и скажет: была война,

и я её проиграл.

Вера Павлова

Dein einziger Sohn,

Beschützer, Helfer, Freund,

wird vom Bahnhof ohne Beine kommen,

dich ohne Arme umarmen,

das Glas ohne Boden auffüllen,

den Keller ohne Augen betrachten

und sagen: es war ein Krieg

und ich habe ihn verloren.

Vera Pavlova

 

Auch das im Russian Oppositional Arts Review erschienene Kurzgedicht von Vera Pavlova basiert auf einer durchgehenden Wiederholung. Das Oxymoron wird benutzt, um in jeder Zeile Erwartungsbrüche auszulösen und desillusionierend zu wirken. Auch hier wird die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, dass die Kriege nicht im Interesse des Volkes geführt werden und sich auf viele kleine Schicksale der Menschen dramatisch auswirken. Die letzten zwei Zeilen stellen die Pointe dieses Kurzgedichts dar und deuten darauf hin, dass man als Normalsterblicher in Kriegen nur verliert, unabhängig davon, für wen man kämpft. Das Gedicht spricht zu Soldatenmüttern und lässt sich als Appell an sie lesen, sich mit Kämpfenden auf beiden Seiten zu solidarisieren und den Krieg nicht zu bejubeln, sondern an Einzelschicksale zu denken, die sich bei ihren Söhnen (und Töchtern) wiederholen könnten.

 

 
“Schuldig ohne Schuld”. Soldaten als Opfer
 

 

Unübersehbar ist die Solidarität Brechts mit seinen Volksgenossen, die an der Front kämpfen, sei es aus unreflektierter Gehorsamkeit dem Regime gegenüber, aus Zwang oder zum Schutze der eigenen Heimat. Die Soldaten werden in vielen Epigrammen als Opfer des Willens der Machthabenden dargestellt; die Siege Deutschlands erscheinen “als Niederlagen des deutschen Volkes” (Kienast 2001). Als “willfährige Mittäter” sind Soldaten zugleich Opfer der Regierungspolitik (Heukenkamp 1985).

 

 

Mit Angst, jenem vom Regime zutiefst verachteten Gefühl, und nicht mit Heldentum oder Vaterlandsliebe (Bohnert 1982) werden die Handlungen der Piloten in Epigramm Nr. 15 begründet. Die meiste Angst vor ihnen müssen wiederum Frauen und ihre Kinder haben, die schutzloseste Gruppe der Gesellschaft.

 

 

Epigramm Nr. 30 stellt mithilfe des zugeordneten Bildes sechs Oberbefehlshaber des Dritten Reiches als “Mörder” dem Volk gegenüber. Es wird klargestellt, dass die Oberbefehlshaber keine Helden sind, sondern diejenigen, die auf Kosten von Menschenleben ihre Ziele erreicht haben. Hier wird der Heldenmythos entlarvt und gefordert, dass “wir”, “Autor und Leser” (Kienast 2001), Diktaturen zukünftig nicht mehr zulassen dürfen.

 

 

Epigramm Nr. 45, verfasst zum Foto eines Grabes, an dem der Handschuh des Bestattungsoffiziers in den Himmel weist, kehrt zum ursprünglichen Zweck des Epigramms (Didi-Hubermann 2011) – der Grabinschrift –, zurück. Das Epigramm appelliert an das allgemein bekannte Verständnis der Gerechtigkeit, für derer Gewährleistung Gott verantwortlich ist: Dementsprechend hat Gott die Morde amerikanischer Soldaten bestraft (Kienast 2001), den Verstorbenen wird aber die Bitte in den Mund gelegt, die Vorgesetzten zu bestrafen, die sie geschickt haben, um andere zu töten. Somit wird der vertraute Glaube an Gottes Bestrafung enthüllt, “um dahinter die ökonomischen Kräfte und Klassenantagonismen zu erhellen” (Grimm 1969), sowie um die Notwendigkeit der Übernahme eigener Verantwortung über Generationsgrenzen hinweg hervorzuheben. Das Epigramm zusammen mit dem Foto stellt jedoch den “Komplex eines vereinfachten Schuld- und Sühnedenkens” dar (Kienast 2001). Die Bestrafung der Vorgesetzten kann zwar den Teufelskreis der Tötungen auf eine neue Ebene heben, ihn zu brechen ist aber nur möglich, wenn die Vorgesetzten, die den Teufelskreis auch ausgelöst haben, nicht mehr zu hohen Posten zugelassen werden. Der Tod und der Bruch des Vertrauens auf Gottes Bestrafung fungiert in diesem Epigramm als “Aufforderung zur Revolution” (Bohnert 1982) und zur Eigenverantwortung.

 

 

 

Die auf dem Foto zum Epigramm Nr. 64 gezeigten Soldaten sind nicht nur erschöpft vom Kämpfen, sondern vom Leben (Kienast 2001), das oft durch “kämpfen” metaphorisiert wird. Sie – und diese vier Soldaten stehen pars pro toto für die gesamte Wehrmacht (Bohnert 1982) – haben den Kampf um das eigene Leben, eigene Ziele und eigenen Wohlstand für das Kämpfen für die NS-Ideologie geopfert – und sind zu Mitteln in den Händen der Vorgesetzten geworden. Gleichzeitig äußert es die Hoffnung, dass die Welt im Kreis von Entstehen und Erlöschen des Lebens etwas Neues und Besseres schafft, wenn das Alte untergeht (Kienast 2001). Für das Neue, das Zukünftige, wird, wie auch andere Epigramme deutlich machen, die Initiative und die Eigenverantwortung der Nachfahren benötigt.

 

Man kann die Epigramme Brechts auch als Engführung zweier parallel geführter Kriege interpretieren: des äußeren Kriegs gegen die Sowjetunion und die Westalliierten und des inneren Kriegs gegen das deutsche Volk (Knopf 2001). Einerseits macht Brecht die Opferrolle der in den Krieg involvierten Bürger:innen des Aggressorlandes sichtbar, andererseits stellt er “den Krieg als katastrophale Folge zu geringen Widerstands in großen Teilen der Welt” (Heukenkamp 1985) dar, was einander widerspricht und weitere Fragen aufwirft. In vielen Epigrammen lässt sich aber auch der Aufruf an die Nachkriegsgenerationen erkennen, ähnlichen politischen Entwicklungen vorzubeugen.

 

 

Oбнуление народа

Разрисует узорами мартовский снег

Юных воинов кровь, без вины виноватых.

Повелел их на мясо пустить “человек”.

Был великий народ – стал великий каратель.

Мы идём через ноль. Мы идём через смерть.

Тот, кто это вершит, душу дьяволу продал.

Этой глупой войне оправдания нет.

Обнуленье страны, обнуленье народа…

Мария Волощук

Annullierung des Volkes

Es wird der Märzschnee mit Mustern bemalt

Vom Blut junger Kämpfer, schuldig ohne Schuld.

Ein “Mensch” hat befohlen, sie zur Schlachtung zu schicken.

Es war ein großes Volk – es wurde zum großen Bestrafer.

Wir gehen durch null. Wir gehen durch den Tod.

Alle, die es begehen, haben die Seele dem Teufel verkauft.

Dieser blöde Krieg hat keine Rechtfertigung.

Annullierung des Landes, Annullierung des Volkes…

Mariya Vološčuk

 

Im Gedicht von Marija Vološčuk aus dem Online-Projekt “No war – poety protiv vojny” wird ähnlich wie bei Brecht betont, dass die Soldaten sich schuldig machen, ohne eine eigene Entscheidung getroffen zu haben. Zwischen Soldaten und Regierung bzw. Vorgesetzten wird auch hier differenziert, mehr noch, die Machthabenden und Vorgesetzten werden durch die Verwendung des Wortes “Mensch” in Anführungszeichen entmenschlicht. Das Volk als Gemeinschaft, die durch das gemeinsame Leiden unter dem Regime des eigenen Landes zusammengehalten wird und dennoch ein Mittel für verbrecherische Kriege der Staatsoberhäupter sein kann, wird entwertet: Das Recht des Volkes, auf seine Kultur und Geschichte stolz zu sein, wird ihm seit Kriegsbeginn verwehrt. Zudem wird angedeutet, dass Menschen, die sich aktiv am Krieg beteiligen, eine Wahl haben und diese, wenn sie moralische Grundsätze dafür opfern, auch getroffen haben. Ähnlich wie bei Brecht wird hier die Geburt einer neuen Generation beschrieben, deren Potential es besser zu machen. Durch das massenhafte Sterben im Zuge des Krieges wird die Annulierung herbeigeführt: Das russische Volk muss von null anfangen, um sein Ansehen und seinen Platz in der Weltgemeinschaft wiederzuerlangen.

 

Die russische Lyrik konzentriert sich tendenziell auf Scham, Schuld, Unverzeihlichkeit und das Verfluchen von Machthabenden. Nur zwei der in dieser Arbeit behandelten russischsprachigen Gedichte sehen Soldaten – egal, an welcher Seite sie kämpfen, – als Opfer.

 

 

Russischsprachige Antikriegslyrik – eine weitere „Kriegsfibel“ mit einem besseren Lerneffekt?
 

 

Durch die Diskrepanz zwischen ästhetischer Darstellung der Kampfhandlungen und dem Grauen des Krieges in Bildern, zwischen Nähe und Distanz, sollten Leser:innen durch Brechts “Kriegsfibel” dazu bewogen werden, sich mit dem Krieg auseinanderzusetzen und politische Verantwortung zu übernehmen (Solte-Gresser 2011). Jedes Fotoepigramm stellt ein “Produktions-Protokoll” (Kienast 2001) dar, in dem das Bild und die geschichtlichen Ereignisse erst durch die Beschreibung und darauffolgende Analyse eine allgemein gültige Aussage bekommen. Die Geschichte wird dadurch für Leser:innen als Erfahrungs- und Deutungsprozess und nicht als Reihe von Fakten zugänglich gemacht (Kienast 2001). Brecht macht deutlich, dass die Vermeidung von Kriegen ohne die – widerständige – Tätigkeit Einzelner unmöglich ist (Heukenkamp 1985). Die in der Arbeit behandelte russischsprachige Kurzlyrik hingegen stellt fest, dass die Anzahl dieser Einzelnen bislang nicht ausgereicht, um eine ähnliche politische Entwicklung zu vermeiden. Mithilfe einer mit den Brecht’schen Epigrammen vergleichbaren Topik prophezeien die neuen russischsprachigen Gedichte eine historische Schuld, die eine lange Aufarbeitung benötigen wird, und geben Emotionen und Gedanken Ausdruck, die nach Ausweitung des Krieges ausgesprochen werden mussten. Zukünftig werden diese Gedichte, genau wie Brechts Epigramme, Zeugnisse sein für eine Situation, in der man – wieder einmal – das Lernen lernen und die Mitverantwortung für die Zukunft der Gesellschaft übernehmen muss.

 

Anmerkung zur deutschen Übertragung: Alle Übersetzungen russischer Antikriegsgedichte ins Deutsche wurden von Nune Arazyan angefertigt. Orthographie und Interpunktion von Originalgedichten wurden übernommen.

 

 

Primärliteratur:

Bayer, Alexei: Ih car‘ — ubljudočnaja mras‘ , URL: https://nowarpoetry.com/authors/alexei-bayer/ (letzter Zugriff: 03.09.2022).

Brecht, Bertolt: Kriegsfibel. Hg. von Berlau, Ruth. Frankfurt am Main 1978.

Brickspacer; Lado Kvataniya; Noize MC: Fake Video. SuperRare, 24.06.2022, URL: https://superrare.com/0xb932a70a57673d89f4acffbe830e8ed7f75fb9e0/fake-video-35517 (letzter Zugriff: 04.09.2022).

Markitantova, Olga: Brat bratu . In: Oblaka, URL: https://www.oblaka.ee/journal-new-clouds/ukraina-solidarnost/поэты-разных-стран-антивоенные-стихи/ (letzter Zugriff: 05.09.2022).

Pavlova, Vera: Edinstvennyj tvoj synok . In: Russian Oppositional Arts Review, 2. Ausgabe, 24.06.2022, URL: https://roar-review.com/94d1da5396a24841a9df42e8d7e74da2 (letzter Zugriff: 06.09.2022).

Stavisskij, Ivan: Svjato-sablezubaja stolica!! . Facebook-Post, 01.07.2022, URL: https://www.facebook.com/stavisskij/posts/pfbid0q5aZvLvt7QWbjXz26XvRAT6ywV4ukZQfswfEr1waFHGxbtmaWeJzmLiU35NriPvHl (letzter Zugriff: 03.09.2022).

Vološčuk, Marija: Obnulenije naroda . In: No War Poetry, URL: https://nowarpoetry.com/authors/mariya-voloschuk/ (letzter Zugriff: 07.09.2022).

 

 

Sekundärliteratur:

Bohnert, Christiane: Brechts Lyrik im Kontext. Zyklen des Exils. Königstein/Taunus 1982.

Brecht, Bertolt: Notizen zur Philosophie 1929-1941. In: Hauptmann, Elisabeth (Hg.): Bertolt Brecht. Gesammelte Werke. Schriften zur Politik und Gesellschaft. Bd. 20, Frankfurt am Main 1967.

Didi-Hubermann, Georges: Wenn die Bilder Position beziehen. München 2011.

Domarus, Max: Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. Band I: Triumph. Zweiter Halbband: 1935-1938. München 1965.

Grimm, Reinhold: Marxistische Emblematik. Zu Bertolt Brechts “Kriegsfibel”. In: von Heydebrand, Renate; Just, Klaus Günther (Hg.): Wissenschaft als Dialog. Studien zur Literatur und Kunst seit der Jahrhundertwende. Stuttgart 1969.

Heukenkamp, Ursula: Den Krieg von unten ansehen. Über das Bild des zweiten Weltkrieges in Bertolt Brechts “Kriegsfibel”. In: Weimarer Beiträge, Bd. 31. Berlin/Weimar 1985.

Kienast, Welf: Kriegsfibelmodell. Autorschaft und “kollektiver Schöpfungsprozess” in Brechts “Kriegsfibel”. Göttingen 2001.

Kittstein, Ulrich: Das Lyrische Werk Bertolt Brechts. Stuttgart 2012.

Knopf, Jan: Brecht-Handbuch. 2, Gedichte. Stuttgart 2001.

Solte-Gresser, Christiane: Textbilder und Bildtexte im Angesicht des Unsagbaren. Autopoetische Dimensionen in Brechts Fotoepigrammen, Spiegelmans “Comix” und Herta Müllers Gedichtcollagen. In: Hölte, Achim (Hg.): Comparative Arts. Universelle Ästhetik im Fokus der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Heidelberg 2011.

Wöhrle, Dieter: Von der Notwendigkeit einer “Kunst der Betrachtung”: Bertolt Brechts “Kriegsfibel” und die Gestaltung von Text-Bild-Beziehungen. In: Hecht, Werner (Hg.): Alles was Brecht ist … : Fakten – Kommentare – Meinungen – Bilder. Frankfurt am Main 1997.

 

 

Weiterführende Links:

Russian Oppositional Arts Review. URL: https://roar-review.com/About-ROAR-a00d35f461bd4bd48f2d0d1502b0e93e (letzter Zugriff: 22.08.2023).

Reuters: “Aggressors Will Be Annihilated,We Will Go to Heaven as Martyrs”, Putin Says. In: The Moscow Times, 19.10.2018, URL: https://www.themoscowtimes.com/2018/10/19/aggressors-will-be-annihilated-we-will-go-to-heaven-as-martyrs-putin-says-a63235 (letzter Zugriff: 17.09.2022).

Die transkribierte Rede von Putin über die Gründe der sogenannten “Sondermilitäroperation” siehe hier: o. A.: Путин объявил о начале военной операции в Донбассе. Вот расшифровка его речи. In: Paperpaper.ru, 24.02.2022, URL: https://paperpaper.ru/putin-obyavil-o-nachale-voennoj-operac/ (letzter Zugriff: 17.09.2022).

 

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