Auf europäischen Spuren durch den Donbas

Wie europäisch ist der Donbas? Dieser Frage geht ein Dokumentarfilm des ukrainischen Regisseurs Kornii Hrytsiuk in der ostukrainischen Region nach – und begibt sich auf eine Spurensuche in das von Industrialisierung geprägte 19. Jahrhundert. Mit Ausweitung der russischen Invasion der Ukraine ist der Film zu einem Zeitdokument avanciert, das ein Bild des Donbas vor der großen Zerstörung zeichnet.

 

Kornii Hrytsiuk begibt sich mit „Eurodonbas“ (Yevrodonbas, UA 2022) auf eine abenteuerliche Spurensuche nach den Anfängen der Industrialisierung im Osten der Ukraine. Sein Dokumentarfilm beleuchtet nicht nur den erheblichen europäischen Einfluss auf die wirtschaftliche, architektonische und kulturelle Entwicklung des Donbas, sondern öffnet einmal mehr die Augen für die Macht und die Zerstörungskraft der sowjetischen Geschichtsschreibung.

Der Filmemacher Kornii Hrytsiuk, der selbst im Donbas aufgewachsen ist, wusste lange Zeit nichts von den europäischen Wurzeln der Industrialisierung in der Ostukraine. Denn durch gezielte sowjetische Propaganda wurde die Erinnerung an das europäische Erbe in der Region nahezu ausgelöscht. Doch in seinem Film zeigt Hrytsiuk: lange bevor Stalin auf die industrielle Kraft des Donezbecken setzte, profitierten europäische Siedler:innen und Industrielle vom reichen Kohlevorkommen und den seltenen Bodenschätzen im östlichsten Teil des Landes. Belgische, französische, amerikanische und deutsche Unternehmer:innen bauten Fabriken und Siedlungen und machten den Donbas zu einem Epizentrum für Berg- und Wanderarbeiter:innen. Nach der Machtübernahme durch die Sowjets wurden die Fabriken beschlagnahmt und verstaatlicht. Siedlungen und Fabrikgelände wurden systematisch umbenannt und die Erinnerungen an ihre Entstehungsgeschichte verblassten.

Auf den Spuren der Industriellen und ihrer Arbeiter:innen lässt Regisseur Hrytsiuk (Hobby-) Historiker:innen und Ortskundige durch ehemalige belgische Siedlungen, leerstehende Fabriken aus Backstein und Ortschaften mit ungewöhnlichen Namen wie New YorkMarienthal oder Ostheim führen. In Gesprächen mit Expert:innen und unter Zuhilfenahme von Dokumenten und Fotografien aus den Archiven historischer Institute und europäischer Unternehmen werden die einzelnen Versatzstücke der Regionalgeschichte Stück für Stück zusammengesetzt. Unterdessen erwecken aufwendig animierte Original-Fotografien und historische Tonaufnahmen den Donbas des 19. Jahrhunderts wieder zum Leben.

© Kornii Gritsyuk

Über ein Jahr verbrachten Hrytsiuk und sein Team mit Archivarbeit, bevor sie mit den eigentlichen Dreharbeiten begannen. Die Begeisterung für detailreiche Recherchen ist dem Dokumentarfilm ebenso anzumerken, wie die Liebe zum Donezbecken und seinen Bewohner:innen. Immer wieder wird das grüne Mittelgebirge, das von Minen und Kohlebergwerken durchzogen ist, die an surreale Mondlandschaften erinnern, aus der Vogelperspektive gezeigt. Es sind gerade diese menschengemachten Narben, die die raue Schönheit der Landschaft ausmachen. In Gesprächen mit Ortsansässigen wird klar: obwohl Fragen nach Identitäten und Zugehörigkeiten Risse zu Tage fördern, bietet diese aktuell so umkämpfte Region vielen Menschen eine geliebte Heimat. Der Donbas verdankt seinen internationalen Charme, seine quirligen Städte und seine außergewöhnliche und vielseitige Architektur den vielen tausend Wanderarbeiter:innen und ihren Familien, die sich im 19. Jahrhundert in den Arbeitersiedlungen niederließen und blieben.

Freilich wird in dem Dokumentarfilm eine ukrainische, pro-europäische Sichtweise auf die sowjetische Geschichtsschreibung aufgezeigt. Dass das Donezbecken auch von positivem sowjetischen Einfluss geprägt wurde und dass es sich bei der europäischen Besiedlung um Formen der Ausbeutung und einer kolonialen ‚Beherrschung‘ gehandelt haben könnte, wird im Film nicht kommentiert: Aus ukrainischer, pro-europäischer Perspektive sorgten die Siedler:innen vor allem für einen Industrialisierungsschub mit Aufklärungscharakter. Nichtsdesto weniger bleibt „Eurodonbas“ ein wichtiges Dokument für eine sonst wenig beachtete Epoche.

Als Regisseur Kornii Hrytsiuk Ende des Jahres 2021 die Filmarbeiten abschloss, überlegte er, den Titel des Films zu ändern. Zu diesem Zeitpunkt befürchtete er, dass der Donbas in der internationalen Wahrnehmung so unbekannt sei, dass der Titel nicht verstanden werden könnte. Doch seit Ausweitung des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 veränderte sich die Aufmerksamkeit auf das heute beinahe vollkommen zerstörte Donezbecken schlagartig: Aus „Eurodonbas“ wurde neben einem Bildungs-Film, der die Geschichte eines Industriegebiets aufarbeitet, ein Zeitdokument, das Aufnahmen einer Region zeigt, die es so nie wieder geben wird.

 

Hrytsiuk, Kornii: Yevrodonbas (Eurodonbas), Ukraine, 2022, 73 min.

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