Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Auf euro­päi­schen Spuren durch den Donbas

Wie euro­pä­isch ist der Donbas? Dieser Frage geht ein Doku­men­tar­film des ukrai­ni­schen Regis­seurs Kornii Hryt­siuk in der ost­ukrai­ni­schen Region nach – und begibt sich auf eine Spu­ren­suche in das von Indus­tria­li­sie­rung geprägte 19. Jahr­hun­dert. Mit Aus­wei­tung der rus­si­schen Inva­sion der Ukraine ist der Film zu einem Zeit­do­ku­ment avan­ciert, das ein Bild des Donbas vor der großen Zer­stö­rung zeichnet.

 

Kornii Hryt­siuk begibt sich mit “Eurodonbas” (Yevr­odonbas, UA 2022) auf eine aben­teu­er­liche Spu­ren­suche nach den Anfängen der Indus­tria­li­sie­rung im Osten der Ukraine. Sein Doku­men­tar­film beleuchtet nicht nur den erheb­li­chen euro­päi­schen Ein­fluss auf die wirt­schaft­liche, archi­tek­to­ni­sche und kul­tu­relle Ent­wick­lung des Donbas, son­dern öffnet einmal mehr die Augen für die Macht und die Zer­stö­rungs­kraft der sowje­ti­schen Geschichtsschreibung.

Der Fil­me­ma­cher Kornii Hryt­siuk, der selbst im Donbas auf­ge­wachsen ist, wusste lange Zeit nichts von den euro­päi­schen Wur­zeln der Indus­tria­li­sie­rung in der Ost­ukraine. Denn durch gezielte sowje­ti­sche Pro­pa­ganda wurde die Erin­ne­rung an das euro­päi­sche Erbe in der Region nahezu aus­ge­löscht. Doch in seinem Film zeigt Hryt­siuk: lange bevor Stalin auf die indus­tri­elle Kraft des Donez­be­cken setzte, pro­fi­tierten euro­päi­sche Siedler:innen und Indus­tri­elle vom rei­chen Koh­le­vor­kommen und den sel­tenen Boden­schätzen im öst­lichsten Teil des Landes. Bel­gi­sche, fran­zö­si­sche, ame­ri­ka­ni­sche und deut­sche Unternehmer:innen bauten Fabriken und Sied­lungen und machten den Donbas zu einem Epi­zen­trum für Berg- und Wanderarbeiter:innen. Nach der Macht­über­nahme durch die Sowjets wurden die Fabriken beschlag­nahmt und ver­staat­licht. Sied­lungen und Fabrik­ge­lände wurden sys­te­ma­tisch umbe­nannt und die Erin­ne­rungen an ihre Ent­ste­hungs­ge­schichte verblassten.

Auf den Spuren der Indus­tri­ellen und ihrer Arbeiter:innen lässt Regis­seur Hryt­siuk (Hobby-) Historiker:innen und Orts­kun­dige durch ehe­ma­lige bel­gi­sche Sied­lungen, leer­ste­hende Fabriken aus Back­stein und Ort­schaften mit unge­wöhn­li­chen Namen wie New York, Mari­en­thal oder Ost­heim führen. In Gesprä­chen mit Expert:innen und unter Zuhil­fe­nahme von Doku­menten und Foto­gra­fien aus den Archiven his­to­ri­scher Insti­tute und euro­päi­scher Unter­nehmen werden die ein­zelnen Ver­satz­stücke der Regio­nal­ge­schichte Stück für Stück zusam­men­ge­setzt. Unter­dessen erwe­cken auf­wendig ani­mierte Ori­ginal-Foto­gra­fien und his­to­ri­sche Ton­auf­nahmen den Donbas des 19. Jahr­hun­derts wieder zum Leben.

Über ein Jahr ver­brachten Hryt­siuk und sein Team mit Archiv­ar­beit, bevor sie mit den eigent­li­chen Dreh­ar­beiten begannen. Die Begeis­te­rung für detail­reiche Recher­chen ist dem Doku­men­tar­film ebenso anzu­merken, wie die Liebe zum Donez­be­cken und seinen Bewohner:innen. Immer wieder wird das grüne Mit­tel­ge­birge, das von Minen und Koh­le­berg­werken durch­zogen ist, die an sur­reale Mond­land­schaften erin­nern, aus der Vogel­per­spek­tive gezeigt. Es sind gerade diese men­schen­ge­machten Narben, die die raue Schön­heit der Land­schaft aus­ma­chen. In Gesprä­chen mit Orts­an­säs­sigen wird klar: obwohl Fragen nach Iden­ti­täten und Zuge­hö­rig­keiten Risse zu Tage för­dern, bietet diese aktuell so umkämpfte Region vielen Men­schen eine geliebte Heimat. Der Donbas ver­dankt seinen inter­na­tio­nalen Charme, seine quir­ligen Städte und seine außer­ge­wöhn­liche und viel­sei­tige Archi­tektur den vielen tau­send Wanderarbeiter:innen und ihren Fami­lien, die sich im 19. Jahr­hun­dert in den Arbei­ter­sied­lungen nie­der­ließen und blieben.

Frei­lich wird in dem Doku­men­tar­film eine ukrai­ni­sche, pro-euro­päi­sche Sicht­weise auf die sowje­ti­sche Geschichts­schrei­bung auf­ge­zeigt. Dass das Donez­be­cken auch von posi­tivem sowje­ti­schen Ein­fluss geprägt wurde und dass es sich bei der euro­päi­schen Besied­lung um Formen der Aus­beu­tung und einer kolo­nialen ‘Beherr­schung’ gehan­delt haben könnte, wird im Film nicht kom­men­tiert: Aus ukrai­ni­scher, pro-euro­päi­scher Per­spek­tive sorgten die Siedler:innen vor allem für einen Indus­tria­li­sie­rungs­schub mit Auf­klä­rungs­cha­rakter. Nichts­desto weniger bleibt “Eurodonbas” ein wich­tiges Doku­ment für eine sonst wenig beach­tete Epoche.

Als Regis­seur Kornii Hryt­siuk Ende des Jahres 2021 die Film­ar­beiten abschloss, über­legte er, den Titel des Films zu ändern. Zu diesem Zeit­punkt befürch­tete er, dass der Donbas in der inter­na­tio­nalen Wahr­neh­mung so unbe­kannt sei, dass der Titel nicht ver­standen werden könnte. Doch seit Aus­wei­tung des rus­si­schen Angriffs­kriegs im Februar 2022 ver­än­derte sich die Auf­merk­sam­keit auf das heute bei­nahe voll­kommen zer­störte Donez­be­cken schlag­artig: Aus “Eurodonbas” wurde neben einem Bil­dungs-Film, der die Geschichte eines Indus­trie­ge­biets auf­ar­beitet, ein Zeit­do­ku­ment, das Auf­nahmen einer Region zeigt, die es so nie wieder geben wird.

 

Hryt­siuk, Kornii: Yevr­odonbas (Eurodonbas), Ukraine, 2022, 73 min.