Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Ein Splitter im Auge, ein Splitter im Kopf, ein Splitter des Krieges, ein Splitter der Geschichte

Unter dem Ein­druck des gezielten Rake­ten­an­griffs auf ein beliebtes Restau­rant in Kra­ma­torsk, bei dem die Autorin und Men­schen­recht­lerin Vik­to­rija Ame­lina schwer ver­letzt wurde und später ihren tiefen Ver­let­zungen erlag, hat die preis­ge­krönte Dich­terin Mari­anna Kiya­novska, 2022–2023 als Sti­pen­diatin am Wis­sen­schafts­kolleg in Berlin zu Gast, einen per­sön­li­chen, lite­ra­risch wert­vollen Nachruf geschrieben. Susanne Frank hat den Text aus dem Ukrai­ni­schen ins Deut­sche übertragen.

Das ukrai­ni­sche Ori­ginal finden Sie hier. / Текст українською мовою можна знайти тут.

Den letzten Auf­satz habe ich am 475. Tag nach der voll­um­fäng­li­chen Inva­sion geschrieben, unmit­telbar nach den von den russen ver­ur­sachten Explo­sionen im Was­ser­kraft­werk von Kachowka. Heute ist der 490. Tag des Großen Krieges. Es ist der Tag der ukrai­ni­schen Ver­fas­sung. 3415 Tage nach der Beset­zung der Krym durch russ­land. Heute, wie fast jeden Tag in den letzten andert­halb Jahren, hat die Luft­an­griffsalarm-App auf meinem Handy, die auf Kyjiv und L‘viv ein­ge­stellt ist, obwohl ich seit August 2022 in Berlin bin, mehr­mals am Tag Sirenen ertönen lassen.

Bei dem gest­rigen rus­si­schen Angriff am 27. Juni 2023 auf eine Piz­zeria in Kra­ma­torsk unweit der Front­linie wurde eine ukrai­ni­sche Schrift­stel­lerin und Per­sön­lich­keit des öffent­li­chen Lebens, Frei­wil­lige und Mit­glied des PEN Ukraine, Vik­to­rija Ame­lina, von einem Schrapnell ver­wundet, nun kämpft sie um ihr Leben.

Sie war es, die das Tage­buch des ukrai­ni­schen Schrift­stel­lers Volo­dymyr Vaku­lenko fand. Volo­dymyrs Hei­mat­dorf Kapy­to­liwka, Bezirk Izjum, Region Charkiw, wurde in der vierten Woche der Inva­sion von den russen besetzt. Einen Tag vor seiner Ent­füh­rung durch die rus­si­schen Besatzer, am 23. März 2023, ver­grub Vaku­lenko sein Tage­buch, das er seit Beginn der Inva­sion geführt hatte, im Garten seines Hauses. Die russen fol­terten Vaku­lenko zunächst und erschossen ihn dann mit zwei Schüssen in den Kopf. Und ges­tern wurde Vika durch den Splitter einer rus­si­schen Rakete töd­lich am Kopf verwundet.

Einmal habe ich ihr als Geschenk ein Kleid gestrickt. Schon früher hatte ich meh­rere Prä­sen­ta­tionen ihres ersten Romans, Im Laufe des Novem­bers, in ver­schie­denen Städten mode­riert. Wir waren eine Zeit lang sehr eng befreundet, daher geht mir das Leid, das ihr jetzt zuge­stoßen ist, sehr nahe. Aber selbst wenn ich nicht um Vikas Leben fürchten müsste, wäre der Angriff zweier hoch­prä­ziser rus­si­scher “Iskander”-Raketen auf eine Piz­zeria im Zen­trum von Kra­ma­torsk immer noch etwas sehr Per­sön­li­ches für mich: 11 Besu­cher, dar­unter 3 Kinder, wurden an Ort und Stelle getötet, 61 Men­schen wurden ver­wundet, und nicht alle Ver­wun­deten werden über­leben, da einige ihrer Ver­let­zungen und Wunden nicht mit dem Leben ver­einbar sind.

Die Spio­na­ge­ab­wehr des SBU nahm einen Agenten des rus­si­schen Geheim­dienstes fest, der den rus­si­schen Rake­ten­an­griff so weit ange­passt hatte, dass sein Telefon Fotos von in der Nähe der Piz­zeria geparkten Autos ent­hielt. Da russ­land zwei seiner teu­ersten prä­zi­si­ons­ge­lenkten Raketen auf die Piz­zeria abfeu­erte, war dies natür­lich kein Zufall. Sie zielten auf das Café, auf die dort anwe­senden Frei­wil­ligen und Jour­na­listen, auf ein­hei­mi­sche Jugend­liche und auf Kinder, die mit ihren Eltern dorthin kamen. Unter den Ver­letzten waren auch Aus­länder, dar­unter drei kolum­bia­ni­sche Staats­bürger – der Gründer der Orga­ni­sa­tion Aquanta Ucraina, der Abge­ord­nete Sergio Jara­millo, der Schrift­steller Hector Abad und die Jour­na­listin Cata­lina Gomez. Sie wurden von Vik­to­rija Ame­lina begleitet. Diese Per­sonen wollten über den Krieg in der Ukraine schreiben.

 

Viel­leicht werde ich in diesem Moment von der schrift­stel­le­ri­schen Phan­tasie gelenkt, aber mir scheint, dass eben Vik­to­rija Ame­lina das Ziel dieses Beschusses war. Viel­leicht war sie die­je­nige, die von allen Anwe­senden am meisten über den Krieg geschrieben hat, die mäch­tigste Stimme über diesen unseren Krieg hatte, der seit kurzem in der ganzen Welt gehört wird.

Seit fast andert­halb Jahren, von den ersten Tagen der Inva­sion an, hat sie die rus­si­schen Kriegs­ver­bre­chen auf­ge­zeichnet, den Medien in Dut­zenden von Län­dern Hun­derte von Inter­views gegeben und viele Dinge getan, die von außen unsichtbar sind, näm­lich Hun­derte, Tau­sende von Brü­cken gebaut. Tat­säch­lich aber begann ihre enorme Arbeit im Zusam­men­hang mit dem Ein­marsch russ­lands in die Ukraine im Jahr 2014. Schon damals konnte sie Men­schen­leben retten und war in der Lage, Zeugnis abzu­legen. Im Sep­tember 2023 sollte sie nach Paris gehen, um an der Columbia Uni­ver­sity eines der renom­mier­testen Sti­pen­dien der Welt zu erhalten, für das sie aus meh­reren tau­send Bewer­bern aus­ge­wählt wurde. Eigent­lich, um über den Krieg zu schreiben, Sach­bü­cher über Frauen, die über den Krieg schreiben. Danach würde ihre Stimme auf glo­baler Ebene gehört werden. Des­halb bin ich inner­lich davon über­zeugt, dass Ame­lina das Ziel dieses Anschlags war. Alle dort Anwe­senden – ja, natür­lich. Aber Vika – zuallererst.

 

Ich habe die in geschlos­senen Gruppen gepos­teten Fotos vom Schau­platz der Tra­gödie in Kra­ma­torsk noch nicht gesehen, aber ich habe Fotos von Kolum­bia­nern gesehen, die nach der ersten Hilfe am selben Tisch wie Vika saßen, wo das Hemd von Hector Abad (er wurde eben­falls ver­wundet und ins Kran­ken­haus gebracht) mit Blut­sprit­zern bedeckt ist, und ich weiß, dass es nicht nur sein Blut ist, son­dern auch Vikas Blut. Ich habe viele Minuten lang auf sein Hemd geschaut und seine Augen auf dem Foto ange­starrt. 1987 töteten kolum­bia­ni­sche Rechts­extre­misten seinen Vater Hector Abad Gómez, einen Arzt und Men­schen­rechts­ak­ti­visten. Des­halb bedeutet diese schwere Ver­let­zung von Vik­to­rija, dieses jüngste von russ­land began­gene Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit – ein Ver­bre­chen, das sich buch­stäb­lich vor den Augen von Hector Abad abspielte, denn in Kra­ma­torsk wurde er nicht nur Zeuge, son­dern auch Opfer, – und diese Kata­strophe, in der er sich befand, viel Neues: Es geht darum, russ­lands schreck­liche Aggres­sion gegen die Ukraine als einen Krieg gegen die glo­bale Welt, gegen die Werte der glo­balen Welt, gegen das Leben selbst zu verstehen.

 

Mir scheint, dass dieser Beschuss einer Piz­zeria in Kra­ma­torsk durch die russen vieles grund­le­gend ver­än­dert. Für die Ukraine, aber auch für die Welt. Für uns, weil Ame­linas Per­sön­lich­keit, ihr Lebensweg, ihre Bemü­hungen und Texte im höchsten Sinne des Wortes hero­isch werden. Trotz der unzäh­ligen Opfer dieses Krieges ist sie es, die zu einem Symbol für das Ver­bre­chen russ­lands an der Ukraine wird, die zu einem Symbol des Kampfes gegen dieses Ver­bre­chen wird, ich würde sagen, auf einer Stufe mit Taras Ševčenko und Vasyl‘ Stus.

 

Vik­to­rija Ame­linas gesamtes Schicksal, ihr gesamtes Werk und ihre Lebens­ent­schei­dungen werden zu einem wahren Zeugnis für dieses totale Ver­bre­chen russ­lands gegen das ukrai­ni­sche Volk, das so lange andauern wird, wie russ­land existiert.

Taras Ševčenko, der Enkel freier Men­schen, wurde als Leib­ei­gener, als Sklave geboren, weil die russen ihn infolge der Zer­stö­rung des ukrai­ni­schen Kosa­ken­staates durch Katha­rina die Große ver­sklavt hatten, so wie Dut­zende von Mil­lionen Ukrai­nern, seine Zeit­ge­nossen. Von seinen Freunden aus der demü­ti­genden Leib­ei­gen­schaft befreit, ent­schied er sich, Dichter zu werden, und zwar nicht als berühmter Künstler in der Haupt­stadt des Rus­si­schen Rei­ches, und auch nicht im Exil, son­dern im Gefängnis: Am 9. Juni 1847 unter­zeich­nete der rus­si­sche Zar Niko­laus I. ein Urteil, das den Künstler und Dichter Taras Ševčenko zu 25 Jahren als Soldat ver­ur­teilte, “unter strengster Auf­sicht mit Schreib- und Zeichenverbot”.

Vasyl‘ Stus war ein bril­lanter ukrai­ni­scher Dichter, Dis­si­dent und poli­ti­scher Gefan­gener. Viele Jahre lang wurde er vom Mos­kauer Kreml, ja sogar von russ­land, schritt­weise ver­nichtet. Sein Werk wurde voll­ständig ver­boten, teil­weise zer­stört, und Stus selbst wurde mehr­mals zu langen Gefängnis- und Lager­auf­ent­halten ver­ur­teilt. Er starb wäh­rend eines unbe­fris­teten tro­ckenen Hun­ger­streiks in einer Gefäng­nis­zelle, weil er zusätz­lich für die Über­gabe eines Gedicht­heftes hart bestraft wurde.

 

Für die Ukrainer sind sowohl Ševčenko als auch Stus nicht nur große, son­dern weg­wei­sende und gemein­schafts­stif­tende Dichter; ihre Bio­gra­fien werden im Sinne der Mytho­poetik umge­deutet, nach den Gesetzen des Mythos und der poe­ti­schen Krea­ti­vität neu model­liert und orga­ni­siert, ihre Images werden uni­ver­sell, ver­kör­pern die Erfah­rung der gesamten ukrai­ni­schen Kultur, eine gemein­same Schlüs­sel­erfah­rung am Vor­abend eines Wendepunktes.

Ševčenko, ein Kämpfer gegen die Leib­ei­gen­schaft, starb 1861, als im rus­si­schen reich die soge­nannte Bau­ern­re­form Alex­an­ders des Zweiten begann. Stus starb 1985, als die Pro­zesse, die zur Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung der Ukraine im Jahr 1991 führten, bereits in vollem Gange waren.

Vik­to­rija Ame­lina wurde am Vor­abend unseres Sieges ver­wundet. Seit dem Moment, als die Piz­zeria in Kra­ma­torsk mit rus­si­schen “Iskander”-Raketen beschossen wurde, hat sie keine Bio­grafie mehr, son­dern ein Schicksal. Es ist ein Schicksal mit großem Anfangs­buch­staben. Jetzt kämpft sie immer noch um ihr Leben, aber auch heute noch haben die­je­nigen, die sie kennen, den Ein­druck, dass der Ver­lauf der Ereig­nisse in ihrer per­sön­li­chen Geschichte irgendwie vor­her­be­stimmt war (sogar ihr Name – Vik­to­rija, “Sieg”). Das wahre Schicksal von Vik­to­rija Ame­lina ist nun in die Geschichte der Ukraine und die Geschichte der Welt­li­te­ratur auf der Ebene der Struk­turen und Arche­typen ein­ge­schrieben, und es ist bereits offen­sicht­lich, wie tief und durch und durch Vika unsere Werte und die Bedeu­tung dieser Werte für unsere Gesell­schaft ver­kör­pert, ebenso wie ihre abso­lute, bedin­gungs­lose Bereit­schaft, sie zu verteidigen.

 

Ich bin zuver­sicht­lich, dass sie, dass ihr Name in den kom­menden Jahr­zehnten, und viel­leicht für immer, in der ganzen Welt bekannt werden wird, weil er die ganze große gemein­same Erfah­rung des ukrai­ni­schen Volkes ent­hält, nicht nur in diesen Tagen, son­dern in den dreißig Jahren der ukrai­ni­schen Unab­hän­gig­keit. Vika ist keine Kämp­ferin, keine Laza­ret­tistin, keine Poli­ti­kerin, son­dern eine Schrift­stel­lerin, Men­schen­rechts­ak­ti­vistin und Per­sön­lich­keit des öffent­li­chen Lebens. Vor allem aber ist sie eine Schrift­stel­lerin, die mit jedem Atemzug Zeug­nisse sam­melte und selbst bezeugte. Ich sage das ohne Pathos, aber als jemand, der sie sehr gut kannte.

 

Da ich nun seit vielen Monaten als Sti­pen­diatin in Berlin lebe, habe ich nicht wirk­lich eine gemein­same Erfah­rung mit “meinen Leuten”, mit all meinen Freunden, die in der Ukraine geblieben sind, und wir haben nun unter­schied­liche Vor­stel­lungen und unter­schied­liche Erin­ne­rungen. Wir haben jetzt eine unge­teilte Erfah­rung – jeder hat seine eigene, wie ein Mensch mit einer ampu­tierten Glied­maße und ein Mensch mit einem Gra­na­ten­schock, denn der Krieg ist für alle Ukrainer der gleiche, aber nicht der­selbe. Ein Sani­täter, ein Pan­zer­fahrer, ein Bäcker, ein Frei­wil­liger, ein “Drü­cke­berger”, ein Priester; Frauen, Männer, Kinder, Jugend­liche, alte Men­schen – jeder lebt sein Leben im Krieg auf ganz unter­schied­liche Weise. Jemand, wie ich, ver­sucht sich zu erin­nern, zu erin­nern, und sei es aus den Worten eines anderen, aus Fotos oder Videos eines anderen, um später Zeugnis abzu­legen, jemand will so schnell wie mög­lich ver­gessen, jemand hat noch akute Schmerzen, jemand ist fast völlig betäubt, und jemand ist buch­stäb­lich betäubt vor Schmerz – so betäubt, dass er nicht einmal die Kraft hat zu schreien und zu heulen. Manche führen ein pri­vates Tage­buch über den Krieg, andere machen Fotos, wieder andere halten Beweise für künf­tige inter­na­tio­nale Gerichte fest, wie Vika es tat. Und ich ver­danke ihr einen großen Teil meiner eigenen Erfah­rungen, denn auch dank ihr weiß ich über diesen Krieg Bescheid, mein Wissen wurde mit Wochen und Monaten ihres Lebens bezahlt, und nun auch mit ihrem Blut.

 

Ihre Bemü­hungen und die Bemü­hungen von Men­schen wie ihr machen diese ganz unter­schied­li­chen Erfah­rungen des Krieges zu einer gemein­samen Erfah­rung, die wir teilen. Eine gemein­same Erfah­rung der Ukraine, Europas und der ganzen Welt. Ich weiß nicht nur über diesen Krieg Bescheid, son­dern ich kenne diesen Krieg auch, zum Teil weil Vika ihn beschreibt.

Sie beschreibt nicht vom Graben aus, nicht von der Flücht­lings­tra­gödie in ihrer Abge­schie­den­heit, in ihrer Unbe­trau­ert­heit und ihrem Ver­lust, son­dern aus der Posi­tion eines extrem weiten Blick­feldes, inner­halb der Kata­strophe, aber auch von der Seite und von einem kon­ven­tio­nellen Punkt hoch oben, wo die Vögel sind, wo die künst­li­chen Satel­liten sind, wo die Sterne sind … Sie beschreibt als Zeuge und als jemand, der Zeug­nisse sam­melt, aber auch als tief­grün­diger Ana­ly­tiker und als kennt­nis­rei­cher Theo­re­tiker. Und als ein spe­zi­fi­scher “Eth­no­loge-Onto­loge”. Vika hat ein ein­zig­ar­tiges Format der Beob­ach­tung und Beschrei­bung gefunden und in gewisser Weise auch geschaffen, und das macht sie zum Feind Nummer eins russ­lands, aber auch zu einer Bedro­hung für russ­land. Des­halb, ich wie­der­hole es, glaube ich, dass sie sie töten wollten, als sie ihre “Iskander” auf dieses Café rich­teten. Schließ­lich hat sie diesen Krieg sehr gut beschrieben. Ihr Schreiben hat die Schichten der Pro­pa­ganda, der Post-Wahr­heit abge­tragen. Ihr Schreiben hat dem Chaos die Stirn geboten.

All diese Tage, all die Jahre dieses Krieges, denke ich, dass der Krieg so gut wie mög­lich beschrieben werden sollte, viel besser als er es ver­dient. Denn nur ein gut beschrie­bener Krieg kann uns etwas lehren. Doku­mente allein rei­chen nicht aus, es reicht nicht aus, ein­fach nur Zeug­nisse zu sam­meln. Vor­stel­lungs­kraft und Gedächtnis sind von Natur aus mit­ein­ander ver­bunden; um sich zu erin­nern, muss man sich etwas vor­stellen können. Aber wie genau kann man sich das vor­stellen? Wie kann man sich erin­nern, wer man sein sollte, wie man sein sollte, wo, wann und wie genau man sein sollte? Wie kon­kret kann man die Fähig­keit des Gedächt­nisses nicht nur als kon­ti­nu­ier­liche Fixie­rung, son­dern auch als Ver­ständnis und als unab­läs­sige Arbeit der Seele schaffen (oder heilen)?

 

Außerdem geht der Krieg weiter. So wird der Krieg also wei­terhin vom Krieg auf­ge­saugt, vom Krieg aus­ge­spuckt und vom Krieg ver­daut. Es gibt so viel Krieg, dass er beginnt, die Epis­teme, die Fähig­keit zur Erkenntnis, zu zer­stören. In allen Medien gibt es Extreme der Rich­tig­keit, wo Irra­tio­na­lität und Win­ter­ra­tio­nie­rung, Wahr­heit und “Füllsel” neben­ein­ander exis­tieren, sogar auf der Ebene des Offen­sicht­li­chen, aber nicht immer erkannt werden, und die “Post-Wahr­heit” dieses Krieges ist bereits im Ent­stehen. Denn der gesamte Zweite Welt­krieg besteht aus Hun­dert­tau­senden von Fotos und meh­reren tau­send Archiven. Und jede Woche des rus­si­schen Krieges gegen die Ukraine umfasst Zehn­tau­sende, wenn nicht Hun­dert­tau­sende von Fotos, Videos und Zeu­gen­aus­sagen. Wie kann man diesen Krieg in seinem ganzen Ausmaß begreifen? Meine Ant­wort ist, dass dieser Krieg nicht nur foto­gra­fiert und auf allen mög­li­chen Medien “auf­ge­zeichnet” werden muss, durch alle ver­füg­baren Medien, son­dern dass er beschrieben werden muss, nicht nur durch die Über­win­dung des Chaos, son­dern durch die Bil­dung von Struk­turen für ein “langes Gedächtnis”, für eine Meta­ge­schichte. Damit die Meta­ge­schichte wie auch das “lange Gedächtnis” dieses Krieges uns gehören. Wir werden gewinnen (es gibt die Mei­nung, dass die Geschichte von den Sie­gern geschrieben wird, und wir werden in der Lage sein, unsere Geschichte zu ver­tei­digen, sowohl in der Ver­gan­gen­heit als auch in der Zukunft), aber in diesem Krieg, wie nie zuvor, im Kampf um unsere Geschichte, wird uns das Chaos gegenüberstehen.

Das Chaos erschließt sich immer durch den Krieg, das Gehirn will immer den Rhythmus ein­fangen, auch wenn es im Voraus weiß, dass es keinen Rhythmus gibt. Aber man kann eine Struktur schaffen, die das Chaos bis zu einem gewissen Grad orga­ni­siert, und dann wird sich der Rhythmus her­aus­bilden. Die Schöpfer der baro­cken und sezes­sio­nis­ti­schen Blu­men­or­na­mente wussten das sehr wohl.

 

Die Sezes­sion und ihre Orna­mente werden nicht ohne Grund mit dem Fin de Siècle in Ver­bin­dung gebracht. Wir befinden uns jetzt gewis­ser­maßen am Ende des nächsten Fin de Siècle. Das späte Ende des zwan­zigsten Jahr­hun­derts, der späte Beginn des ein­und­zwan­zigsten Jahr­hun­derts. Tat­säch­lich beginnt das ein­und­zwan­zigste Jahr­hun­dert nach diesem Krieg, der alles um uns herum archa­isch werden lässt. Vik­to­rija Ame­lina hat die ganze Zeit über durch ihr bei­spiel­haftes Vor­an­gehen die Ankunft des ein­und­zwan­zigsten Jahr­hun­derts vor­weg­ge­nommen. Das doku­men­ta­ri­sche Mate­rial, das sie gesam­melt hat, ist keine Lein­wand, son­dern ein Orna­ment, wenn man Ruinen oder zer­bro­chene Schick­sale als Ele­mente eines Orna­ments bezeichnen kann. Aber ich meine die Wie­der­ho­lung. Die Wie­der­ho­lung von Hand­lungen, Motiven, die Wie­der­ho­lung von Beschuss, die Wie­der­ho­lung von all­täg­li­chen mensch­li­chen Anstren­gungen. Die Sache ist die, dass Vika nicht nur “Orna­mente”, son­dern auch tiefe, mehr­di­men­sio­nale Lein­wände schaffen kann, nicht nur Pan­oramen, son­dern Pan­oramen mit “Hyper­links”. Sie erfasst (aber schafft auch) “Hyper­ver­bin­dungen” von Men­schen, Dingen und Ereig­nissen, sie arbeitet mit Fakten wie ein genialer Archi­tekt, der eine Kathe­drale für die Ewig­keit baut, sie schafft eine Form, die von Leere umgeben ist, aber Leere im tiefsten und wich­tigsten Sinne des Wortes. Denn die von Leere umge­bene Form ist ein Weg, das Chaos zu über­winden, und das ist seit dem Urknall so. Eine von Leere umge­bene Form, gefüllt mit “Hyper­links” und “Hyper­ver­bin­dungen”, ist die Grund­lage des Uni­ver­sums. So sehe ich auch den Bei­trag von Vik­to­rija Ame­lina zu unserer gemein­samen Zukunft.

 

Das Chaos im Krieg, das Chaos in der Kata­strophe zer­fetzt das Leben, macht es nicht nur kaputt, son­dern zer­trüm­mert es. Das Chaos ist wie ein Hammer, der Steine zer­malmt. Nur eine Geschichte, eine Erzäh­lung, macht es mög­lich, eine Straße aus ver­streuten Trüm­mern zu pflas­tern, damit jemand darauf gehen kann, nur die “Archi­tektur” der Seele des Erzäh­lers erlaubt es, ein Haus aus Steinen zu bauen, damit jemand darin wohnen kann. Es ist das Geschich­ten­er­zählen, das uns erlaubt, Steine zu sam­meln und, wenn nötig, zu ver­streuen, selbst wenn die Vor­stel­lungs­kraft und das Gedächtnis des Ein­zelnen und der Gemein­schaft in einem Zustand sinn­loser Benom­men­heit sind, wenn der Krieg das Wissen und die Kennt­nisse aus Frie­dens­zeiten völlig unbrauchbar und nutzlos macht. Schließ­lich zer­stört der Krieg das Wesen und die Epis­teme selbst.

In der ukrai­ni­schen Sprache bedeutet “Zukunft” etwas, das “sein sollte”, “geschehen müsste”. Vik­toria baute an unserer gemein­samen Zukunft als einem “Heim für das Zuhause”. Mit ihrem ganzen Leben hat sie gezeigt und gelehrt, dass man sich auf die Zukunft kon­zen­trieren muss, um zu exis­tieren, um die Sinn­haf­tig­keit und die Fähig­keit des Den­kens zu erhalten. Natür­lich auf die Zukunft als einen Sieg. Und dafür müssen wir den Krieg auf die best­mög­liche Weise beschreiben.

Um den Krieg so gut wie mög­lich zu beschreiben, denke ich, ent­weder in Anleh­nung an Vika oder in Anleh­nung an einige ihrer Gedanken, dass wir mit Blick auf die Zukunft schreiben müssen, auf den Sieg, aber auch auf die Demut einer völlig neuen Zeit – und des­halb brau­chen wir, um uns zu erin­nern, vor allem Vor­stel­lungs­kraft und ein leben­diges, uner­müd­li­ches cogito.

 

In Ame­linas Werk geht es nicht nur um die Arbeit mit Zeug­nissen und Erin­ne­rung, son­dern auch um die Arbeit mit dem leben­digen cogito. Die Autorin des Romans “Heim für Zuhause” schafft ein “Zuhause” für die Erin­ne­rung, eine Epis­teme, und findet irgendwo in der Zukunft unsere gemein­same Erin­ne­rung an diesen Krieg als einen Ort auf der Erde.

Es ist also kein Wunder, dass Ame­linas zukünf­tiges Buch von denen han­deln sollte, die über den Krieg schreiben. Es sollte nicht nur ein Zeugnis des Krieges sein, son­dern auch ein nicht-fik­tio­nales Zeugnis derer, die über den Krieg berichten. Ein Buch mit frak­talen Eigen­schaften – wie eine Schnee­flocke, wie ein Baum, wie die Adern eines Blattes. Es sollte ein Buch-Baum sein, zumin­dest stelle ich es mir so vor. Wurzel-Fraktal, Kronen-Fraktal, ein Fraktal als Spie­gel­bild eines anderen. Ich stelle es mir, soweit ich es mir vor­stellen kann, als ein Buch der Unend­lich­keit vor. Und auf jeden Fall ein Buch als Über­win­dung des Chaos.

Die Ver­gan­gen­heit des Krieges ist in Erin­ne­rungen zer­stü­ckelt, und solange es keinen “gemein­samen Text” der kol­lek­tiven Erin­ne­rungen gibt (und damit auch keine Kli­schees und gemein­samen “Gesten” in den Prak­tiken der Erin­ne­rungs­kultur), werden sie zer­streut und ver­schieden sein.

 

***

Am 1. Juli 2023 blieb das Herz von Vik­to­rija Ame­lina stehen. Es war am 1. Juli, dem Geburtstag von Volodja Vaku­lenko. Es scheint, dass auch diesem Datum eine unglaub­liche Vor­se­hung innewohnt.

Sie wurden beide von den russen getötet. Wie viel­leicht hun­dert­tau­send meiner Lands­leute. Sie wurden von russen umge­bracht. Nicht von putin, nicht von russ­land und auch nicht vom rus­si­schen Militär auf putins Befehl. Nicht der Krieg. Die russen.

Die Hände von zig Mil­lionen russen ste­cken ellen­bo­gen­tief im Blut der Ukrainer, schon immer, aber beson­ders jetzt. Ihre Hände ste­cken ellen­bo­gen­tief im Blut der Ukrainer, nicht nur als Volk und als Nation, son­dern als poli­ti­sche Nation. Mil­lionen von russen sind schuldig am Völ­ker­mord an den Ukrai­nern als “Bru­der­volk”. “Bru­der­volk” ist ein spe­zi­fisch rus­si­scher “Kai­nismus”.

Ja, ich unter­scheide zwi­schen Schuld und Ver­ant­wor­tung. Und ja, aus­nahmslos alle rus­si­schen Bürger, die seit dem Aus­bruch des Zweiten Rus­sisch-Tsche­tsche­ni­schen Krieges nicht gegen das ver­bre­che­ri­sche Regime vor putin und putins gekämpft haben, alle, die in irgend­einer Weise mit putins ver­bre­che­ri­schem Regime, mit rus­si­schen Olig­ar­chen inter­agiert haben, die ein­fach nur “Lok­führer” waren und so taten, als wüssten sie nicht, dass dieser Zug kommt, sind ver­ant­wort­lich für den Völ­ker­mord an den Ukrai­nern als poli­ti­sche Nation.

Dieser Völ­ker­mord zog sich auf die eine oder andere Weise durch das gesamte zwan­zigste Jahr­hun­dert, er dauert mit beson­derer Grau­sam­keit bis heute an und wird leider bis zu unserem Sieg andauern.

Er dauert an, auch wenn er nicht immer als Völ­ker­mord aner­kannt wird. Das ganze furchtbar lange zwan­zigste Jahr­hun­dert war von der Mas­sen­ver­nich­tung der Ukrainer geprägt. Wer hat uns ver­nichtet? Die russen.

 

Denn wenn für Maja­kovskij “Lenin” und “die Partei” Syn­onyme sind, dann darf ich mit dem­selben Recht noch wei­tere Syn­onyme benennen: “sowjet­re­gie­rung”, “russ­land” und “kreml”. Im Vor­wort zur Aus­gabe des Tage­buchs von Volo­dymyr Vaku­lenko schrieb Vika über die “Hin­ge­rich­tete Renais­sance”: “Die sowjet­re­gie­rung, russ­land und der kreml bringen ukrai­ni­sche Künstler, Foto­grafen, Schrift­steller und Musiker um. Sie töten unsere zukünf­tigen Künstler, Foto­grafen, Schrift­steller und Musiker. Sie töten unge­bo­rene ukrai­ni­sche Künstler, Foto­grafen, Schrift­steller und Musiker. In der Tat haben sie bereits viele von uns getötet. Das ein­und­zwan­zigste ukrai­ni­sche Jahr­hun­dert hat bereits seine eigene “Hin­ge­rich­tete Renais­sance” – unsere ermor­deten und unge­bo­renen Schrift­steller. Ihr Blut, ihr unge­bo­renes Blut, klebt auch an den Händen der russen, die in die Ukraine kamen, um zu töten. Auch Kinder. Ein­schließ­lich der Ungeborenen.

Der Tod von Vik­to­rija Ame­lina schreit nicht nur nach Rache – zum Himmel – son­dern auch nach Ver­ant­wor­tung. Er schreit nach der gesamten glo­balen Gemein­schaft derer, die sich darum sorgen, ob das ein­und­zwan­zigste Jahr­hun­dert jemals für uns alle kommen wird. Das heißt, ob es über­haupt kommen wird – als unsere gemein­same Zukunft.

 

***

Manchmal wird der Tod eines Men­schen selbst zu seiner Waffe. Manchmal wird der Tod eines Men­schen zu einer Waffe für sein Volk. Der Tod von Vasyl‘ Stus wurde zu einer sol­chen Waffe für die Ukrainer in der Phase des Kampfes um die Unabhängigkeit.

Der Tod von Vik­to­rija Ame­lina füllte das welt­weite Gespräch über den rus­sisch-ukrai­ni­schen Krieg mit neuen Bedeu­tungen, und in diesem Gespräch tauchten ganz neue Themen auf, wie zum Bei­spiel unsere “Zweite Exe­ku­tierte Renais­sance”, für die Vik­to­rija selbst und Volo­dymyr Vaku­lenko, über den sie schrieb, zu wich­tigen Sym­bolen wurden. Der Tod von Vik­to­rija Ame­lina durch rus­si­sche “Iskander”-Raketen ist für die Ukraine zu einer beson­deren Waffe geworden – einer Waffe, für die es keine Grenzen gibt.

Halyna Kruk sagte einmal: “Es tut mir leid, dass die Poesie nicht tötet.” Poesie ist ihrem Wesen nach lebens­spen­dend und lebens­stif­tend, wie das Gebet, wie das Licht. Ich bin froh, dass die Poesie nicht tötet. Aber das poe­ti­sche Wort kann – wie in der Ver­gan­gen­heit, wie jetzt und immer – zu einer Waffe werden. Beob­ach­tung und Beschrei­bung können zu Waffen werden. Glaube und Hoff­nung, selbst die Liebe, können zu Waffen werden. Das mensch­liche Herz mit seinem innersten Wissen kann zu einer Waffe werden. Denn die Waffe ist immer die Wahr­heit. Sie ist eine nicht­ent­flamm­bare Waffe, so wie der Busch, eines der Sym­bole des Hesy­chasmus, eine nicht­ent­flamm­bare Waffe ist. Eine nicht­ent­flamm­bare Waffe tötet ihre Feinde nicht, so wie ein mys­ti­scher oder heroi­scher nicht­ent­flamm­barer Tod seine Feinde nicht tötet. Aber sie gibt den Men­schen, die sie besitzen, die Mög­lich­keit zu siegen.

 

Taras bedeutet “Rebell” und Vasyl‘ bedeutet “der, der regiert”.

Vik­to­rija Ame­lina siegt allein durch ihren Namen, der nun legendär und unsterb­lich ist.

 

Übers. S. Frank

Titel­bild: Vik­to­rija Ame­lina — in einem Kleid, das Aurorin Mari­anna Kiya­novska für sie gestrickt hat. © Mari­anna Kiyanovska