Litotes als Straftatbestand oder: Das Herunterspielen von Bedeutungen.
Was passiert, wenn eine Nation die größte sein will?
Lev Rubinstein, Dichter, Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, Journalist
Novaja Gazeta, 13. März 2022
Über Sprache, worüber sonst sollte man reden und schreiben in einer Zeit des mühsamen Nachdenkens und des allgegenwärtigen Unbehagens, das vor allem mit einem hohen Maß an Unsicherheit verbunden ist.
Sie ist unsere einzige Hoffnung und Stütze, und diese Stütze wird, offen gesagt, immer wackeliger. Aber eine andere haben wir nicht. Wir werden doch nicht die Hoffnung zu Hilfe rufen, oder? Kein gesunder Menschenverstand! Wo sie sind und wo wir sind!
Nun, das war sozusagen das Vorwort. Und jetzt werden wir über die große zerstörerische Kraft des mächtigen Genitivs sprechen.
Bei dem Versuch, wie echte Schriftsteller sagen, Ordnung in meinen Schreibtisch zu bringen, oder, in diesem Fall, in einige Computerordner mit Zitaten und Vorbereitungen, stieß ich wiedereinmal auf ein verbales Ungetüm aus dem rhetorischen Repertoire eines unserer inspirierten Gesetzgeber.
Nämlich dieses Ungetüm: „Die Bedeutung der Heldentaten des Volkes bei der Verteidigung des Vaterlandes herunterzuspielen…“. Und so weiter.
Wenn man sich mit solchen Konstruktionen vertraut macht, kann man nicht umhin, sich zu frivolen Wortspielen verleiten zu lassen, indem man zum Beispiel die Struktur von „The House that Jack built“ als Grundlage nimmt. Und dann bekommen wir so etwas von dieser Art.
Die ganze Serie beginnt mit den Worten „Dies ist das Vaterland“. Dann: „Und das ist die Verteidigung des Vaterlandes“. Und so weiter. Und am Ende heißt es dann in etwa so: „Und das ist ein Herunterspielen (eine Herabwürdigung) der Leistung des Volkes bei der Verteidigung des Vaterlandes“. Und weiter: „Und das ist eine kriminelle Verantwortung für die Herabwürdigung der Heldentat des Volkes bei der Verteidigung des Vaterlandes“.
Nun, im Allgemeinen ist alles klar.
Die Syntax kann die semantisch belanglosesten Wörter mit Bedeutung aufladen oder im Gegenteil Wörtern, die selbst einen hohen semantischen Status beanspruchen, komplett den Sinn nehmen. Aber das ist ja seit langem bereits gang und gäbe.
Außerdem ist es seit langem üblich, dass der kollektive Geist unserer „Gesetzgeber“ krampfhaft versucht, die Praxis des Strafverfahrens auf so sensible Sphären wie die Gefühle – insbesondere das Sprachgefühl oder religiöse Gefühle – anzuwenden und dabei komplett zu verzerren.
Manchmal hat man den Eindruck, dass diese Art von Formulierungen ganz bewusst und mit voller Absicht so vage gehalten sind, dass sie sich vielleicht für Jubiläums- oder Trauerreden eignen, aber keinesfalls für eine kohärente Gesetzesanwendung. Und das alles nur, um jederzeit eine einfache Möglichkeit zu haben, jeden und jede zu jeder Zeit zu packen und für jedes Wort und jede Geste mit festem Griff anzuklagen.
Und natürlich können all diese und ähnliche stilistisch unbeholfene und juristisch inkongruente Formulierungen bei Bürgern, die sich auch nur irgendwie nachzudenken angewöhnt haben, keineswegs unmittelbare Bereitschaft zu ihrer Anwendung wecken und dazu, sich in der täglichen Kommunikationspraxis von ihnen leiten zu lassen. Sie müssen eine Reihe von Fragen aufwerfen. Und das tun sie.
Was ist zum Beispiel die „Herabwürdigung einer Heldentat“? Was genau ist damit gemeint, und was bedeutet diese „Herabwürdigung“?
Und vor allem: Was bedeutet „Heldentat des Volkes“? Nicht auf einem Plakat, sondern im Leben, sozusagen.
Der Begriff „das Volk“ eignet sich immer noch für die Präambeln verschiedener Verfassungen und anderer feierlicher Dokumente, in denen es in der Regel heißt: „Das Volk ist das Subjekt der direkten und unmittelbaren Demokratie“.
Aber diese stolze Behauptung hat mehr feierliche Rhetorik als wirklichen Inhalt. Der Subjektstatus des „Volkes“ endet nämlich mehr oder weniger genau da, ohne jemals wirklich begonnen zu haben.
Heldentaten werden, ebenso wie Verbrechen, von Einzelpersonen oder zumindest von Gruppen von Menschen begangen. Aber nicht von Völkern. Ein Volk, jedes beliebige Volk, besteht aus einer riesigen Anzahl völlig unterschiedlicher Menschen, solchen, die zu Heldentum, und solchen, die zu Feigheit neigen, solchen, die zu Selbstaufopferung und solchen, die zu Verrat neigen, solchen, die zu schöpferischen Gedankenflügen und solchen, die zur stumpfen, mechanischen Wiederholung der Handlungen und Substantive anderer in verschiedenen und nicht immer korrekt verwendeten Fällen neigen.
Dieses oder jenes Volk pauschal zu verherrlichen ist nicht weniger absurd und, wie die Geschichte zeigt, nicht weniger gefährlich, als dieses oder jenes Volk pauschal zu beschuldigen.
Übrigens, im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts basierte die Ideologie und Politik einer mitteleuropäischen Nation auf der Theorie und Praxis, dass ein Volk willkürlich als das größte und ewige bezeichnet wurde, während andere bestenfalls als zweitrangig, dritte als defekt und minderwertig bezeichnet wurden, und vierte, als so minderwertig und schädlich, dass die Frage ihrer Existenz eine „Endlösung“ erforderte, die dann auch heimlich an den Ufern eines schönen Sees beschlossen wurde, sich aber zum Ärger der Theoretiker und Praktiker dieser „Lösung“ doch nicht als ganz „endgültig“ erwies.
Alle, die den Geschichtsunterricht nicht geschwänzt haben, wissen, wie das Ganze ausging.
Und diejenigen, die dazu neigen, die Folgen solcher Theorien und erst recht der Praktiken zu verharmlosen, liegen völlig, wirklich völlig falsch.
Übersetzungsprobleme.
Wer führt hier einen massiven Beschuss der Logik und der russischen Sprache durch?
Lev Rubinstein, Dichter, Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, Journalist
Novaja Gazeta, 18. März 2022
Und schon ist man wieder bei Orwell! Jeder erinnert sich natürlich daran, dass „Freiheit Sklaverei ist“! Und andersherum! Und so weiter. Und immer öfter fühlt man sich daran erinnert. Ja es ist ganz alltäglich geworden. Und zwar schon ziemlich lang.
Ja, das ist das erste, was einem in den Sinn kommt, wenn man solche Dinge hört oder liest, von denen unsere Kreml-Kenner nicht einmal zu träumen wagen. Genauer gesagt, genau das, was sie in ihren schweren geopolitischen Träumen träumen, sehen und hören.
Es gibt keine andere Erklärung für das, was in diesen Tagen in der Ukraine geschieht, als die Materialisierung geopolitischer Halluzinationen.
Es ist auch unmöglich, nicht an einige rein linguistische Besonderheiten des russischen öffentlichen und politischen Lebens zu erinnern.
Zum Beispiel, Homonymie.
Von Homonymie spricht man, wenn identisch klingende Wörter verwendet werden, um völlig unterschiedliche und manchmal sogar völlig unähnliche Dinge zu bezeichnen. Wenn Sie zum Beispiel das Wort „Zwiebel“ („лук“) ohne Kontext hören oder lesen, werden Sie nicht verstehen, ob es sich um eine „Scharte“ („лук“) handelt, aus der man schießt, oder um eine Zwiebel („лук“), die man in Schnitzel steckt. Oder ist es gar die Bezeichnung dessen, deines äußeren Erscheinungsbilds, des „лук“ also?
Homonymie kann irreführend sein, wenn die wahre Bedeutung von Wörtern nicht ganz klar ist, und ist es oft auch.
Und erst wenn man klar versteht, dass „Parteien“, „Parlamente“ und „Wahlen“ in unserem Land gar nicht Parteien, Parlamente und Wahlen bedeuten, sondern etwas ganz anderes, obwohl es genau gleich geschrieben und ausgesprochen wird, dann wird das Leben zwar nicht so viel einfacher und lustiger, aber zumindest irgendwie verständlicher.
Das Gleiche gilt für „Gericht“. Das Wort „Gericht“ kann in unserem demonstrativ nachahmenden Rechtssystem alles Mögliche bedeuten, nur nicht Gericht. Richter nach der Angemessenheit oder Fairness ihrer Urteile zu beurteilen, ist daher ebenso wenig angemessen, wie eine Druckerpresse nach Form und Inhalt der auf ihr gedruckten Texte zu beurteilen.
In diesen ganz besonderen Tagen wird besonders viel geschrieben und gesagt, was jeden gewöhnlichen Durchschnittsbürger, der das Pech hatte, schon mal ein paar Bücher gelesen und etwas gelernt zu haben, erschaudern und sich nervös umsehen lassen, auf der Suche nach einem vernünftigen, intelligenten und sachkundigen Menschen, der erklären könnte, was das alles ist und wie es prinzipiell möglich ist.
So sagte beispielsweise jemand aus dem Kreml laut, dass Präsident Biden für alles, was derzeit in der Ukraine geschieht, geradestehen muss.
Oder der Außenminister sagte vor den Augen der Weltöffentlichkeit, ohne zu stottern oder zu erröten, dass Russland die Ukraine nicht angegriffen habe.
Der einfältige Mann, der an alles gewöhnt zu sein scheint, verschluckt sich bei diesen Worten an seinem Sandwich und seiner Brille. „Wie bitte?“ – Kaum konnte sich dieser arme Mann räuspern, schon geraten seine Grundvorstellungen über die Weltordnung, die Logik der Grundschule und die überschaubaren Grenzen des Lügens wieder einmal massiv unter Beschuss, und das Leck ist groß.
„So ist das! – möchte man zu ihm sagen. – Sie müssen sich nicht zu viele Sorgen machen. Seien Sie nur nicht zu faul, bei Wikipedia das Wort „Projektion“ nachzuschlagen. Zunächst werden sie über etwas geometrisch Figürliches lesen. Und dann können Sie lernen, und wenn Sie es schon wussten, sich daran erinnern, dass „Projektion ein Mechanismus der psychologischen Verteidigung ist, bei dem das Innere fälschlicherweise als von außen kommend wahrgenommen wird. Eine Person schreibt jemandem oder etwas ihre eigenen Gedanken, Gefühle, Motive, Charaktereigenschaften usw. zu und glaubt, dass das, was sie wahrgenommen hat, von außen kam und nicht, wie es eigentlich der Fall ist, von innen, aus sich selbst heraus.
Und noch etwas weiter: „Projektion ist einer der grundlegenden Abwehrmechanismen bei paranoiden oder hysteroiden Persönlichkeitsstörungen.
Man könnte sich darüber beruhigen, wäre da nicht der unbändige Gedanke, dass diese Menschen – mit diesen „paranoiden Störungen“ ihrer nicht sehr gefestigten Persönlichkeiten – in der so genannten hohen Politik tätig sind.
Natürlich ist es angesichts dessen absolut ausgeschlossen, sich zu beruhigen. Aber jeder kleinste Hinweis auf Einsicht in den wahren Sachverhalt dient dem wichtigen Ziel, unsere geistige und psychische Normalität zu bewahren. Und wir werden sie noch brauchen können.
Wenn du deine kognitiven Kompetenzen einschaltest, wirst du dich kaum darüber verwundern, dass die im offiziellen Propagandadiskurs „Patrioten“ genannten in anderen Ländern als Faschisten bezeichnet werden und dass im eigenen Land die Faschisten „Patrioten“ heißen.
Dabei kann man auch an die so genannten „falschen Freunde“ des Dolmetschers denken. Das heißt, dass manche Wörter in verwandten, aber unterschiedlichen Sprachen gleich klingen, aber völlig unterschiedliche Dinge oder Phänomene bedeuten. Und diese Eigenschaft ist oft der Grund für verschiedene komische – und nicht nur komische – Missverständnisse.
Aber manchmal gibt es diese „falschen Freunde“ nicht in verschiedenen Sprachen, sondern in ein und derselben Sprache. In unserem Fall zum Beispiel.
(Übersetzung aus dem Russischen: Susanne Frank)