#WarDiary 6: Überlegungen von Pandino und Storch / Von Corona zum Krieg

Lina Zalitok schildert in diesem Eintrag ins #WarDiary ein Gespräch mit ihren beiden Kuscheltieren Pandino und Storch über Krieg, Corona und ihren Lieblingskuchen.


Liebe Freunde,


nachdem ich Pandino und Storch aus Kiew abgeholt habe, haben sie doch ihr dauerhaftes Schweigen gebrochen und lebhaft diskutiert, was sie weiter machen sollen. Da ihr Englisch nicht so gut ist, habe ich ihren Dialog auf Deutsch, also im Original, aufgeschrieben. Ich bitte wegen der ggf. falschen Zeichensetzung und sonstiger orthographischer Fehler um Entschuldigung.

Pandino und Storch waren 18 Tage allein in einer Kyjiwer Wohnung gewesen. Sie haben wie immer viel geschwiegen und ab und zu diskutiert. Ob sie Explosionen gehört haben, weiß ich nicht genau. Eher nicht bzw. wenige, da sie im Stadtzentrum neben Regierungsgebäuden wohnten. Ich habe sie in einen kleinen Ort gebracht, welchen man in der Ukraine als Städtchen (смт) bezeichnet. In Deutschland wäre es wahrscheinlich ein Dorf. Dort wohnen meine Eltern und ein ziemlich wilder Kater namens Ryshyk, der sich aber in letzter Zeit krank fühlt. Er hatte also an ihnen noch kein Interesse gezeigt und sich gar nicht vorgestellt. 

Anfangs waren Pandino und Storch überfordert: Sie mögen nicht, wenn zu viele Menschen da sind und es wenig Platz gibt. In diesem kleinen Ort gibt es tatsächlich viel mehr Menschen und Autos als je zuvor. Bei einem Spaziergang hat Pandino gestanden, dass er sich unbehaglich fühlt. Dabei guckten alle so aufmerksam in seine Richtung. Er weiß noch nicht, dass hier fast jeder jeden kennt, zumindest war es hier so, bevor Verwandte und Freunde hiesiger Bewohner aus Kiew, Umgebung und anderen Orten mit ihren Hunden und Katzen hierher zogen.

Storch hat selbstbewusst darauf hingewiesen, dass es in Kriegszeiten unsolidarisch sei, sich viel Raum für sich zu beanspruchen. Ich konnte meinen Ohren kaum vertrauen, denn er hat es immer geliebt, sich zurückzuziehen. Storch hat öfters Pandino aus dem Zimmer vertrieben, wo er gerade gesessen hatte und seine Ruhe haben wollte.

„Ich habe nie Menschenmengen gemocht, auch bei Konzerten nicht. Wie kann ich mich so schnell auf die Solidarität einstellen? Also ich bemühe mich, aber man müsste doch auch realistisch bleiben“, erwiderte Pandino.

„Realistisch? Ich hätte nie gedacht, dass ich dieses Wort von dir jemals hören würde. Aber ich verstehe, ich bin auch kein Menschen-Fan. Jetzt gibt es eine noch größere Wahrscheinlichkeit, dass eine Bombe oder Rakete auf sie fällt, wenn sie sich in Menschenmengen zusammensammeln.“

„Es erinnert mich an etwas…“

„Vermisst du Corona-Maßnahmen?“

„Stimmt! Corona! Gibt es Corona eigentlich noch? Corona hat doch mein Komfortgefühl auf eine ganz neue Ebene gehoben. Aber dann plötzlich diese Menschenmengen nach den Lockerungen… Diese Menschenmengen in der Nähe von mir zu sehen, war wie das Kratzen von Fingernägeln an einer Tafel. Ich wollte mich damals in meiner Wohnung verstecken.“

„Ich musste gar nicht hinausgehen. Ich bin über Menschenmengen geflogen. Dein Gesicht war immer so lustig. Du sahst wie ein verwöhntes Kind aus, das seinen Lutscher plötzlich nicht mehr jeden Tag bekommt.“

Pandino runzelte verärgert die Stirn.
„Corona ist aber ein Witz im Vergleich dazu, was hier gerade abgeht. Ich hatte mich immer darüber gefreut, dass ich in der Ukraine gelandet bin, kurz bevor das mit Corona losging. Und dass hier die Maßnahmen nicht so streng waren und ich in einem Café neben unserer Wohnung meine Lieblingskuchen essen konnte, als alle Cafés in Berlin, Brüssel und Rom geschlossen waren. Freilich waren hier die Menschen viel weniger auf Abstand bedacht, aber meine Lieblingskuchen waren mir viel wichtiger. Und dann das hier. Der Krieg mit Raketen und Bomben! Davor kannte ich all diese Wörter gar nicht…“

„Ja, du hattest immer auf einer Wolke gelebt… Aber auch ich bin überrascht. Ich hatte hier von einigen Störchen gehört, dass so was passieren kann. Aber das war für meinen elsässischen Kopf undenkbar. Nach all dem, was ich im Mémorial Struthof gesehen habe. Ah du kennst so was gar nicht, entschuldige.“

„Ich habe mich in der Tat zu wenig über Kriege informiert. Du hast aber auch nichts erzählt! Wolltest du, dass ich ungebildet bleibe?“

„Pandino, mir fiel immerzu auf, dass dich andere Sachen interessierten. Auch wenn du die ganze Zeit nur nachdenkst, hat man nich genügend Zeit, um über alle Themen nachzudenken. Ich dachte, Krieg würde dir als Thema zum Nachdenken gar nicht passen.“

„Aber das ist jetzt doch überlebenswichtig! Ich möchte verstehen, was passiert und wie wir uns retten oder wie wir kämpfen sollen.“

„Du hast recht. Wie gesagt, habe ich das Offensichtliche übersehen. Ich weiß selber immer noch gar nicht, wie man Erste Hilfe leistet.“

„Erste Hilfe? Was ist das? Eine Antwort auf die erste Frage, die eine Person stellt?“

„Ohje…nicht wirklich, Pandino. Ich erkläre dir das später genauer. Vielleicht müssen wir noch einen Kurs absolvieren bzw. online einen Workshop besuchen. Also Erste Hilfe ist praktische Hilfe, sprich mit Pfoten oder Händen, wenn jemand verletzt ist.“

„Tamam. Aber was machen wir jetzt? Warten wir, bis der Krieg zu uns kommt?“

„Jain, Warten ist gefährlich. Wir müssen etwas gegen den Krieg und gegen den Feind tun, damit der Krieg nicht näher zu uns kommt.“

„Oder wir können Richtung Berlin/Brüssel/Rom fliehen und dann kommt der Krieg nicht so schnell dahin. Oder er kommt gar nicht dahin. Wir waren doch schon dort. Also wir müssen einfach zurückkommen. Oder hast du noch Verwandten im Elsass bzw. irgendwo in Frankreich?“

„Wir müssten es uns gut überlegen. Wir waren doch immer mit Linotschka. Wir haben uns nie selbstständig bewegt. Also wenn sie sich entscheidet, hier zu bleiben, dann sollten wir meines Erachtens auch hier bleiben und sie und ihr Land unterstützen. Wir sind doch Freunde.“

„Das stimmt, aber Linotschka übersieht vielleicht irgendwelche wichtigen Punkte. Wir müssen strategisch denken. Ich habe im Fernsehen gehört, dass ganz viele Ukrainerinnen und Ukrainer nach Polen, Tschechien, Deutschland, Italien, etc. geflohen sind. Viele kamen und bleiben in Berlin/Brüssel/Rom – genau wo wir auch hinwollen. Immer mehr kleine und große Ukrainer fliehen, da Russen mehr und mehr Bomben und Raketen werfen. Polen und Tschechien sind angeblich überfüllt. Was wenn für uns in Europa kein Platz mehr übrigbleibt? Es gibt doch diese „opportunity windows“ im Leben, die man nicht verpassen sollte. Sonst hat man Pech.“

„Rede keinen Blödsinn! Pandino bitte! Che dici? Erstens bist du so klein, dass sich für dich immer Platz findet lässt. Zweitens: fallen auf dich Bomben und Raketen? Nein? Also lass erst mal die Menschen fliehen, die unter Beschuss leben. Drittens: Wenn es für uns doch keinen Platz mehr in Europa gibt, dann gehen wir einfach weiter weg. Es gibt noch viele andere Länder auf der Welt: z.B. Argentinien, Chile, viele verschiedene Inseln, Länder in Afrika und so weiter und so fort. Wir müssen nur aufpassen, dass es dort keinen Krieg gibt.“

„Du hast recht. Aber ich weiß nicht, was so im Krieg hier passieren kann und ob ich ohne Süßigkeiten überleben kann… Ich habe jetzt Bonbons. Aber ich habe gehört, dass wenn es Krieg gibt, es sein kann, dass keine Bonbons mehr verkauft werden.“

„Erstens sind Süßigkeiten für deine Gesundheit und Gehirn gar nicht gut. Und die hiesigen Süßigkeiten schon gar nicht. Zweitens beobachten wir die Lage aufmerksam. Ich habe schon gesehen, dass Linotschkas Eltern Vorräte für etwa einen Monat haben. Wenn dieser Kater Ryshyk nicht zu viel frisst, können wir hier ganz gut leben. Außerdem kostet das Leben dort in Berlin/Brüssel/Rom. 
Und ganz ehrlich: möchtest du nochmal umziehen? Wir hatten doch noch vor diesem Wahnsinnsausbruch besprochen, dass es ganz gut ist, runterzukommen und ruhig nachdenken, statt von Stadt zu Stadt zu ziehen und immer wieder von Neuem anfangen zu müssen. Das bedeutet doch immer viel Ablenkung von wichtigeren Sachen.“

„Aber es ist doch Krieg…“

„O ich sehe, du hast dieses Wort verinnerlicht. Aber merke dir bitte auch, dass das Wort Freundschaft viel wichtiger ist. Wir bleiben noch.“


Bildquelle: © Lina Zalitok, 2022. Pandino and Storch en route to Kyiv.


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