Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

#War­Diary 6: Über­le­gungen von Pan­dino und Storch / Von Corona zum Krieg

Lina Zalitok schil­dert in diesem Ein­trag ins #War­Diary ein Gespräch mit ihren beiden Kuschel­tieren Pan­dino und Storch über Krieg, Corona und ihren Lieblingskuchen.

Liebe Freunde,

nachdem ich Pan­dino und Storch aus Kiew abge­holt habe, haben sie doch ihr dau­er­haftes Schweigen gebro­chen und leb­haft dis­ku­tiert, was sie weiter machen sollen. Da ihr Eng­lisch nicht so gut ist, habe ich ihren Dialog auf Deutsch, also im Ori­ginal, auf­ge­schrieben. Ich bitte wegen der ggf. fal­schen Zei­chen­set­zung und sons­tiger ortho­gra­phi­scher Fehler um Entschuldigung.

Pan­dino und Storch waren 18 Tage allein in einer Kyjiwer Woh­nung gewesen. Sie haben wie immer viel geschwiegen und ab und zu dis­ku­tiert. Ob sie Explo­sionen gehört haben, weiß ich nicht genau. Eher nicht bzw. wenige, da sie im Stadt­zen­trum neben Regie­rungs­ge­bäuden wohnten. Ich habe sie in einen kleinen Ort gebracht, wel­chen man in der Ukraine als Städt­chen (смт) bezeichnet. In Deutsch­land wäre es wahr­schein­lich ein Dorf. Dort wohnen meine Eltern und ein ziem­lich wilder Kater namens Ryshyk, der sich aber in letzter Zeit krank fühlt. Er hatte also an ihnen noch kein Inter­esse gezeigt und sich gar nicht vorgestellt. 

Anfangs waren Pan­dino und Storch über­for­dert: Sie mögen nicht, wenn zu viele Men­schen da sind und es wenig Platz gibt. In diesem kleinen Ort gibt es tat­säch­lich viel mehr Men­schen und Autos als je zuvor. Bei einem Spa­zier­gang hat Pan­dino gestanden, dass er sich unbe­hag­lich fühlt. Dabei guckten alle so auf­merksam in seine Rich­tung. Er weiß noch nicht, dass hier fast jeder jeden kennt, zumin­dest war es hier so, bevor Ver­wandte und Freunde hie­siger Bewohner aus Kiew, Umge­bung und anderen Orten mit ihren Hunden und Katzen hierher zogen.

Storch hat selbst­be­wusst darauf hin­ge­wiesen, dass es in Kriegs­zeiten unso­li­da­risch sei, sich viel Raum für sich zu bean­spru­chen. Ich konnte meinen Ohren kaum ver­trauen, denn er hat es immer geliebt, sich zurück­zu­ziehen. Storch hat öfters Pan­dino aus dem Zimmer ver­trieben, wo er gerade gesessen hatte und seine Ruhe haben wollte.

„Ich habe nie Men­schen­mengen gemocht, auch bei Kon­zerten nicht. Wie kann ich mich so schnell auf die Soli­da­rität ein­stellen? Also ich bemühe mich, aber man müsste doch auch rea­lis­tisch bleiben“, erwi­derte Pandino.

„Rea­lis­tisch? Ich hätte nie gedacht, dass ich dieses Wort von dir jemals hören würde. Aber ich ver­stehe, ich bin auch kein Men­schen-Fan. Jetzt gibt es eine noch grö­ßere Wahr­schein­lich­keit, dass eine Bombe oder Rakete auf sie fällt, wenn sie sich in Men­schen­mengen zusammensammeln.“

„Es erin­nert mich an etwas…“

„Ver­misst du Corona-Maßnahmen?“

„Stimmt! Corona! Gibt es Corona eigent­lich noch? Corona hat doch mein Kom­fort­ge­fühl auf eine ganz neue Ebene gehoben. Aber dann plötz­lich diese Men­schen­mengen nach den Locke­rungen… Diese Men­schen­mengen in der Nähe von mir zu sehen, war wie das Kratzen von Fin­ger­nä­geln an einer Tafel. Ich wollte mich damals in meiner Woh­nung verstecken.“

„Ich musste gar nicht hin­aus­gehen. Ich bin über Men­schen­mengen geflogen. Dein Gesicht war immer so lustig. Du sahst wie ein ver­wöhntes Kind aus, das seinen Lut­scher plötz­lich nicht mehr jeden Tag bekommt.“

Pan­dino run­zelte ver­är­gert die Stirn.
„Corona ist aber ein Witz im Ver­gleich dazu, was hier gerade abgeht. Ich hatte mich immer dar­über gefreut, dass ich in der Ukraine gelandet bin, kurz bevor das mit Corona los­ging. Und dass hier die Maß­nahmen nicht so streng waren und ich in einem Café neben unserer Woh­nung meine Lieb­lings­ku­chen essen konnte, als alle Cafés in Berlin, Brüssel und Rom geschlossen waren. Frei­lich waren hier die Men­schen viel weniger auf Abstand bedacht, aber meine Lieb­lings­ku­chen waren mir viel wich­tiger. Und dann das hier. Der Krieg mit Raketen und Bomben! Davor kannte ich all diese Wörter gar nicht…”

„Ja, du hat­test immer auf einer Wolke gelebt… Aber auch ich bin über­rascht. Ich hatte hier von einigen Stör­chen gehört, dass so was pas­sieren kann. Aber das war für meinen elsäs­si­schen Kopf undenkbar. Nach all dem, was ich im Mémo­rial Struthof gesehen habe. Ah du kennst so was gar nicht, entschuldige.“

„Ich habe mich in der Tat zu wenig über Kriege infor­miert. Du hast aber auch nichts erzählt! Woll­test du, dass ich unge­bildet bleibe?“

„Pan­dino, mir fiel immerzu auf, dass dich andere Sachen inter­es­sierten. Auch wenn du die ganze Zeit nur nach­denkst, hat man nich genü­gend Zeit, um über alle Themen nach­zu­denken. Ich dachte, Krieg würde dir als Thema zum Nach­denken gar nicht passen.“

„Aber das ist jetzt doch über­le­bens­wichtig! Ich möchte ver­stehen, was pas­siert und wie wir uns retten oder wie wir kämpfen sollen.“

„Du hast recht. Wie gesagt, habe ich das Offen­sicht­liche über­sehen. Ich weiß selber immer noch gar nicht, wie man Erste Hilfe leistet.“

„Erste Hilfe? Was ist das? Eine Ant­wort auf die erste Frage, die eine Person stellt?“

„Ohje…nicht wirk­lich, Pan­dino. Ich erkläre dir das später genauer. Viel­leicht müssen wir noch einen Kurs absol­vieren bzw. online einen Work­shop besu­chen. Also Erste Hilfe ist prak­ti­sche Hilfe, sprich mit Pfoten oder Händen, wenn jemand ver­letzt ist.“

„Tamam. Aber was machen wir jetzt? Warten wir, bis der Krieg zu uns kommt?“

„Jain, Warten ist gefähr­lich. Wir müssen etwas gegen den Krieg und gegen den Feind tun, damit der Krieg nicht näher zu uns kommt.“

„Oder wir können Rich­tung Berlin/Brüssel/Rom fliehen und dann kommt der Krieg nicht so schnell dahin. Oder er kommt gar nicht dahin. Wir waren doch schon dort. Also wir müssen ein­fach zurück­kommen. Oder hast du noch Ver­wandten im Elsass bzw. irgendwo in Frankreich?“

„Wir müssten es uns gut über­legen. Wir waren doch immer mit Linot­schka. Wir haben uns nie selbst­ständig bewegt. Also wenn sie sich ent­scheidet, hier zu bleiben, dann sollten wir meines Erach­tens auch hier bleiben und sie und ihr Land unter­stützen. Wir sind doch Freunde.“

„Das stimmt, aber Linot­schka über­sieht viel­leicht irgend­welche wich­tigen Punkte. Wir müssen stra­te­gisch denken. Ich habe im Fern­sehen gehört, dass ganz viele Ukrai­ne­rinnen und Ukrainer nach Polen, Tsche­chien, Deutsch­land, Ita­lien, etc. geflohen sind. Viele kamen und bleiben in Berlin/Brüssel/Rom – genau wo wir auch hin­wollen. Immer mehr kleine und große Ukrainer fliehen, da Russen mehr und mehr Bomben und Raketen werfen. Polen und Tsche­chien sind angeb­lich über­füllt. Was wenn für uns in Europa kein Platz mehr übrig­bleibt? Es gibt doch diese “oppor­tu­nity win­dows” im Leben, die man nicht ver­passen sollte. Sonst hat man Pech.”

„Rede keinen Blöd­sinn! Pan­dino bitte! Che dici? Ers­tens bist du so klein, dass sich für dich immer Platz findet lässt. Zwei­tens: fallen auf dich Bomben und Raketen? Nein? Also lass erst mal die Men­schen fliehen, die unter Beschuss leben. Drit­tens: Wenn es für uns doch keinen Platz mehr in Europa gibt, dann gehen wir ein­fach weiter weg. Es gibt noch viele andere Länder auf der Welt: z.B. Argen­ti­nien, Chile, viele ver­schie­dene Inseln, Länder in Afrika und so weiter und so fort. Wir müssen nur auf­passen, dass es dort keinen Krieg gibt.”

„Du hast recht. Aber ich weiß nicht, was so im Krieg hier pas­sieren kann und ob ich ohne Süßig­keiten über­leben kann… Ich habe jetzt Bon­bons. Aber ich habe gehört, dass wenn es Krieg gibt, es sein kann, dass keine Bon­bons mehr ver­kauft werden.”

„Ers­tens sind Süßig­keiten für deine Gesund­heit und Gehirn gar nicht gut. Und die hie­sigen Süßig­keiten schon gar nicht. Zwei­tens beob­achten wir die Lage auf­merksam. Ich habe schon gesehen, dass Linot­schkas Eltern Vor­räte für etwa einen Monat haben. Wenn dieser Kater Ryshyk nicht zu viel frisst, können wir hier ganz gut leben. Außerdem kostet das Leben dort in Berlin/Brüssel/Rom. 
Und ganz ehr­lich: möch­test du nochmal umziehen? Wir hatten doch noch vor diesem Wahn­sinns­aus­bruch bespro­chen, dass es ganz gut ist, run­ter­zu­kommen und ruhig nach­denken, statt von Stadt zu Stadt zu ziehen und immer wieder von Neuem anfangen zu müssen. Das bedeutet doch immer viel Ablen­kung von wich­ti­geren Sachen.“

„Aber es ist doch Krieg…“

„O ich sehe, du hast dieses Wort ver­in­ner­licht. Aber merke dir bitte auch, dass das Wort Freund­schaft viel wich­tiger ist. Wir bleiben noch.“

Bild­quelle: © Lina Zalitok, 2022. Pan­dino and Storch en route to Kyiv.