Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Weit weg von der Front und doch kein Ent­kommen: Aser­bai­dschan im Großen Vater­län­di­schen Krieg

Aser­bai­dschan, 1945. Es wird wenig geredet und viel gear­beitet. Das bol­sche­wis­ti­sche Regime ruft die Aserbaidschaner_innen zum Kampf gegen die Nazis auf, wäh­rend das Land in Armut ver­sinkt. Fliehen oder in den Krieg ziehen, das ist die Wahl der Männer. Sich dem Schmerz hin­geben oder ver­su­chen, wei­ter­zu­ma­chen, das ist das Schicksal derer, die bleiben.

 

„Weniger reden“. Dies ist der Impe­rativ von Sughra, der Prot­ago­nistin, Mutter von zwei Jungen, mit denen sie in einem abge­le­genen Dorf in Aser­bai­dschan lebt. Und so prä­sen­tiert sie der arme­ni­sche Regis­seur Ilgar Najaf: schwei­gend. Wäh­rend sie arbeitet, wäh­rend sie aus dem Wenigen Essen zube­reitet und auf den Tisch bringt, wäh­rend sie sich von ihrem Mann ver­ab­schiedet, der in den Krieg zieht. Ein Schweigen, das von Tod, Schmerz und Unge­rech­tig­keit kündet, aber auch von hart­nä­ckiger Aus­dauer und dem Willen, trotz der Schwie­rig­keiten weiterzuleben.

Ein Schweigen, wie es auch der Regis­seur erfahren haben muss, der im Alter von drei­zehn Jahren auf­grund eines eth­ni­schen Kon­flikts aus Arme­nien nach Aser­bai­dschan ziehen und als Flücht­ling leben musste.

Keine Zeit zum Weinen, keine Zeit zum Ver­zwei­feln; um zu über­leben, muss man stur am Leben fest­halten. Der kleine Bakhtyjar akzep­tiert das nicht. Sughras jüngster Sohn, der die Dorf­schule besucht und mit seinen Freunden und Kame­raden „Krieg“ spielt. Er singt lei­den­schaft­lich die patrio­ti­schen Lieder, die ihm sein Lehrer bei­bringt. Aber Krieg ist kein Spiel, und in diesen Lie­dern klingen leere Worte. Das wissen alle Witwen des Dorfes und alle jungen Männer, die zu jung sind, um zu sterben, aber zu alt, um ihren Mili­tär­dienst nicht zu leisten, und die auf den Ein­be­ru­fungs­be­scheid an die Front warten.

Der Krieg ist eine Welt, die weit ent­fernt ist von der der aser­bai­dscha­ni­schen Mus­lime, die aus Mangel an Arbeits­kräften, die das Land bewirt­schaften und das Vieh hüten, hun­gern müssen. Ent­beh­rung und Müdig­keit, das ist der Alltag derer, die im Dorf bleiben.

 

© Sughra’s Sons

Dass der Film in Schwarz­weiß gedreht ist, trägt zur düs­teren Atmo­sphäre bei. Durch die Bewe­gungen und Blicke der Figuren erforscht er ihre Psyche, ihre wahren Sehn­süchte, ihre Zer­brech­lich­keit, die sie ver­bergen, um nicht der Ver­zweif­lung zu erliegen. Das Klima der Insta­bi­lität und Gewalt wird noch dadurch unter­stri­chen, dass der Kom­missar, der eigent­lich für den Schutz der Dorfbewohner_innen zuständig ist, seine Posi­tion dazu nutzt, den Frauen der Stadt Gewalt anzutun. Zunächst Sughra, der es gelingt, ihm zu ent­kommen, und dann Sarah, die sich nicht wehren kann und sich einige Tage später aus Scham das Leben nimmt.

 

An einem jener langsam-zähen Tage trifft der gefürch­tete Brief ein: Auch Sughras ältester Sohn wird auf­ge­for­dert, seine Pflicht zu erfüllen. Doch er zieht ein Leben in Unge­wiss­heit dem sicheren Tod vor und schließt sich im Ein­ver­ständnis mit seiner Mutter seinem Onkel in den Bergen an und wird zum Deser­teur. Die Ver­ab­schie­dungen sind schnell, es gibt keinen Raum für Pathos.

Der Lebens­rhythmus von Sughra und Bakhtyjar ändert sich: Tags­über arbeitet die Frau und der Junge geht zur Schule, nachts orga­ni­sieren die beiden heim­liche Treffen mit ihrem ältesten Sohn.

Doch die Hoff­nung, ein Kind gerettet zu haben, zer­schlägt sich bald. Rus­si­sche Sol­daten durch­su­chen den dichten Wald, finden die Männer, die sich in einer Höhle ver­ste­cken, und ermorden sie auf grau­same Weise. Der Leichnam des toten jungen Mannes, der seiner Mutter zur Iden­ti­fi­zie­rung gezeigt wird, ist ein herz­zer­rei­ßendes Bild für die Sinn­lo­sig­keit des Krieges.

 

„Für Stalin und für das Vater­land“: Das Motto, das der Lehrer seinen Schüler_innen bei­bringt, hallt in den Köpfen der Zuschauer_innen wider, gefil­tert durch Bakt­hyajrs unsi­chere erschöpfte Stimme, mit der er den Satz wie­der­holen muss. Für Stalin und für das Vater­land, dafür sind sein Vater, sein Bruder und sein Onkel gestorben.

Nein, Krieg ist kein Spiel.

 

Najaf, Ilgar: SUGHRA’S SONS (Sugra Ve Ogul­lari), Aser­bai­dschan / Frank­reich / Deutsch­land 2021, 85 Min.