Nachrichten aus der Heimat auf der anderen Seite des Flusses

Die Galapagos-Inseln haben eine besondere Flora und Fauna. 1835 verbrachte Charles Darwin auf dem Archipel sechs Wochen damit, die Lebewesen zu beobachten. Daraus entstand dann sein Hauptwerk Die Entstehung der Arten. Petržalka ist wahrhaftig keine der Galapagos-Inseln. Engerau liegt schon lange nicht mehr in der Mitte des Auenwaldes mit lauter Gärten, aus denen die Obstbauern Marillen auf den Markt nach Pressburg karren. Pressburg, Pozsony, Prešporok verwandelte sich in Bratislava, Engerau in Petržalka, Petržalka in die Labyrinthsiedlung auf der anderen Seite des Flusses. Gar nichts mehr erinnert an die  Marillengärten. Petržalka ist das größte Wohngebiet der Slowakei, in dem man niemals da ankommt, wo man hin will. Schlafcontainer, Spritzen und Hip-Hop. Petržalka ist die imaginäre Stadt in Jana Beňovas Buch Plán odprevádzania. Cafe Hyena (Der Geleitplan. Café Hyäne). Das erste Kapitel heißt Petržalka – Galapagos, und das hat seinen Grund. Jana Beňova beobachtet. Ihre Spezies ist der Petržalka-Mensch.

Jana Beňova (*1974) debütierte 1993 mit der Gedichtsammlung Svetloplachý (Lichtscheu), veröffentlichte weitere Gedichte in Lonochod (Mondvehikel im Schoß, 1995), Nehota (Unfertige Nacktheit, 1997), den Prosatext Parker (Parker, 1999) und die Erzählungen Dvanásť poviedok a Ján Med (Zwölf Geschichten und Jan Honig, 2003). In den letzten 15 Jahren geschahen in ihrer Lyrik und ihrer Prosa zwei Dinge. Vom Vers „Freunde aus der Kindheit / hatten / Baumwollschilde“ kam sie zu Sätzen, wie dem folgenden aus Plán odprevádzania: „Christus sagte irgendwo, dass derjenige, der es schon nicht schaffe, während des Lebens von den Toten aufzuerstehen, sich davon mit Hohn verabschieden könne“. Und damit beendete sie ihre schriftstellerische Kindheit und Jugend. Davon erzählt dieses Buch, es ist ein melancholischer, ironischer und selbstironischer Abschied.

Plán odprevádzania ist die Geschichte des Stipendiaten-Quartetts Elza, Yan, Rebeka und Lukas. Es ist ein atmosphärisches Buch. Das Quartett besteht aus zwei außergewöhnlichen, von der erfolgsorientierten Welt abgestoßenen Paaren. Sie sind in steter Bewegung. Sie krabbeln, ihre Bewegung wird geregelt von einem diffusen Geleitplan, von Treffen, Abreisen, Abschieden und vom Sterben. Der Plan ist ein Puzzle, dessen zusammengesetztes Bild wir nicht kennen. Die Geschichte konstruiert sich nicht aus Ereignissen, die sich als Perlen einer Kette nacheinander aufreihen lassen. Der Faden ist längst gerissen, und die Perlen liegen verstreut in den Gedanken der Erzählerin Elza.

Über Elza kann man zuallererst sagen, dass sie eine große Klappe hat. Gegenüber ihren Altersgenossen bringt sie beispielsweise folgenden Satz hervor: „Nach der HandyIn und KalendarIn war die Fete das nächste Wort, das den slowakischen Frauen die Gleichberechtigung gewähren sollte“. An die Adresse der Petržalkaer Anabolikapfannkuchen (auch das ist ihr Ausdruck), die Bodyguards und Schutzgeldeintreiber, die zur Heroinherstellung Strom brauchen, richtet sie die erhabene Floskel Goethes: „Mehr Licht, gebt mir mehr Licht.“

Petržalka kann man nicht entfliehen. Es ist Alltag, ein Labyrinth, in dem sich gleichwohl jeder zurecht findet, und deshalb ist es so schwer, heraus zu kommen. Petržalka ist ein nachts unter den Toren zappelnder Schatten, ein Schatten von einem Zuhause, aber doch Zuhause, denn etwas anderes als Hotels, Pensionen und dem Literaturhaus in Krems, dem die Autorin neben einigen anderen Sponsoren des Buches Tribut zu zollen scheint, existiert nicht. Das imaginäre Petržalka ist jedoch auch eine neue Romantik zur Zeit des heutigen Biedermeiers.

Das Alltägliche ist Banalität, Bewahrung, Hintergrund, Routine. In der Alltäglichkeit bleiben Dinge unabgeschlossen, Ereignisse unvollendet, Informationen lückenhaft. In ihr tauchen viele, nur flüchtig umrissene Möglichkeiten auf. Sie ist die neue Resignation gegenüber der Geschichte, die sich im Buch nur ein einziges Mal offenbart – als Elza und Yan von der Insel Pathmos zurückkehren und erfahren, dass die Zwillingstürme vier Tage zuvor eingestürzt sind und die Welt sich unwiderruflich verändert hat.

Der Text gestaltet Spuren einer Alltäglichkeit, denen es zwar an Kontinuität fehlt, nicht jedoch an intensiver Präsenz. Eine feuchte Welt, in der Liebe und Produkte geboren werden, weil sie auch eine Welt der Reste und der sprachlichen Exkremente ist. Beňová wehrt sich mit der obszönen Sprache ihrer Prosa nicht etwa gegen die obszöne Welt, wie dies beispielsweise in den Versen des tschechischen Dichters Ivan Martin Jirous der Fall ist. Vielmehr symbolisieren jene Obszönitäten die Vulgarität des alltäglichen Lebens, manchmal als freudsche Versprecher, anderswo als Faustschläge genau zwischen die Augen. Dabei bleibt die Textur unstet. Sie besteht aus Knoten auf einer Gefühlslandkarte der Erinnerung, sie nähert sich einem Punkt an, den die Autorin Inhalt nennt, und der piept wie eine Kasse im Supermarkt: PIEP, PIEPIEP.

Die Welt Jana Beňovas hat eine doppelte Topografie. Es ist die labyrinthische Welt zwischen dem Café Hyäne auf der Bratislavaer Seite und dem Zuhause in Petržalka, wobei das Hinübergehen von der einen Seite zur anderen bedeutet, die Grenze zwischen zwei Welten zu überschreiten. Diese Grenze ist die Donau, die zeitgenössische Lethe, der Fluss des Vergessens aller irdischen Dinge. Er hat seinen festen Verlauf. Auf der Bratislavaer Seite führt der einzige Weg aus dem Labyrinth um das Café Hyäne herum, in Petržalka auf den Friedhof zu.

Das Café Hyäne ist die Zentrale des Quartetts Elza, Yan, Rebeka und Lukas. Diese Namen sind Kryptonyme, zum Beispiel wohnt Elzas Namen die Löwin Elsa inne. Yan ist eine Komposition  aus den Vornamen Ivan und Jana, hinter denen sich der Lyriker Ivan Štrpka und Jana Beňová verbergen, während Rebeka und Lukas biblische Namen sind. Diese in der Alltäglichkeit Schwimmenden werden auf ihrem Weg begleitet von Sábato, J. L. Borges und hauptsächlich von einem Mann namens Carl Solomon, der Figur aus Howl. Allen Ginsberg begegnete ihm im Irrenhaus in Rockland, in das beide eingewiesen worden waren, genauso wie er vor Jahren im Bratislavaer Rockland den jungen Yan getroffen hatte. Plán odprevádzania ist eigentlich auch eine Reisegeschichte, in der zwei Generationen aufeinander treffen. Staffelstab, den Yan an Elza übergibt.

Das Café Hyäne ist ein besonderer Ort. Ginge der tschechische Undergroundlyriker Egon Bondy dort hin, schriebe er sicherlich ein Gedicht mit diesem Wortlaut: „Café Hyäne / Reinigt Hyäne“. Er kam nicht, schrieb ein solches Gedicht nicht, und nicht einmal Jana Beňová hat es geschrieben, sondern ich, aber genauso gut könnten diese Worte von Bondy und Beňová stammen.

Auch Jana Beňová hat nämlich ihren Plan: „…Viertel, Städte, Regionen, Kontinente, Vergnügungsparks, Petržalka, Palisaden, Kanada. Meer. Strände – unberührte mit weißem Sand, urbane an den Ufern von Autobahnen (…) und vieles hängt bei ihnen auch vom Wetter ab“.
Yan und Elza sind Champions im Geiste und Plán odprevádzania ist vor allem ihre Geschichte. Yan erblindet auf einem Auge und Elza denkt irgendwann, dass er nicht wegen Petržalka erblindet sei, sondern weil er es nicht mehr ertragen konnte, ihrem gemeinsamen Leben zuzuschauen, er verbarrikadierte sich in seinem Teil des Zimmers. Yan ist das freudsche weiße Pferd der Geschichte, Liebhaber und gleichzeitig Vater, den Elza quer in zwei Teile reißt.

Der Stadtplan ist geheim. Nur derjenige kann ihn entdecken, der das Bild vom Labyrinth auf der Rückseite des von der Illustratorin Jana Némethová gezeichneten Umschlags sieht. Hier findet sich außerdem auch das Manifest des Quartetts mit dem lebendigen Kindheitstraum von der Erleuchtung und der Erlösung aller lebenden Kreaturen vom Leid.

Die Heldin der Geschichte und Trägerin des Geleitplanes ist Elza. Ihr Pinocchio-Motiv der Metamorphose begleitet das verzerrte Echo der Sätze, die sie alle durchleben musste, um erwachsen zu werden. Sie musste erdulden, dass der Richter sie als Sohn Yans betrachtet und sie auf den Brustkorb schlägt. Sie muss feststellen, dass Yan siebenmal schneller altert als es die Regel wäre. Sie muss die androgyne Beziehung zum Gummimenschen mit dem Namen Kalisto Tanzi durchstehen. Sie muss miterleben, wie sich die Mutter Yans auf die Reise in den Fluss des Vergessens begibt. Sie muss im Rockland von Petržalka bis auf den Grund der Seele der Freundin Rebeka blicken. Marschieren, marschieren, marschieren und währenddessen lernen, über diese kompliziertesten aller Dinge auf einfachste Art und Weise zu schreiben. Sich einen Geleitplan schaffen – für den Aufbruch, für den Abschied, für den Tod. Erst nachdem sie diese Metamorphose vollzogen hat, wird Elza erwachsen. Und mit ihr auch Jana Beňovas Prosa. Plán odprevádzania ist eine lebendige Nachricht aus der Heimat über das heutige flüchtige, tickende und piepende Leben. Wir sind im Auge des Hurrikans, und eine gaukelnde Welt steigt in uns hinein.

 

Aus dem Slowakischen von Linda Guttowski.

 

Beňova, Jana: Plán odprevádzania. Cafe Hyena. Bratislava 2008.

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