Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Nach­richten aus der Heimat auf der anderen Seite des Flusses

Die Gala­pagos-Inseln haben eine beson­dere Flora und Fauna. 1835 ver­brachte Charles Darwin auf dem Archipel sechs Wochen damit, die Lebe­wesen zu beob­achten. Daraus ent­stand dann sein Haupt­werk Die Ent­ste­hung der Arten. Petržalka ist wahr­haftig keine der Gala­pagos-Inseln. Engerau liegt schon lange nicht mehr in der Mitte des Auen­waldes mit lauter Gärten, aus denen die Obst­bauern Marillen auf den Markt nach Press­burg karren. Press­burg, Poz­sony, Preš­porok ver­wan­delte sich in Bra­tis­lava, Engerau in Petržalka, Petržalka in die Laby­rinth­sied­lung auf der anderen Seite des Flusses. Gar nichts mehr erin­nert an die  Maril­len­gärten. Petržalka ist das größte Wohn­ge­biet der Slo­wakei, in dem man nie­mals da ankommt, wo man hin will. Schlaf­con­tainer, Spritzen und Hip-Hop. Petržalka ist die ima­gi­näre Stadt in Jana Beňovas Buch Plán odpre­vád­zania. Cafe Hyena (Der Geleit­plan. Café Hyäne). Das erste Kapitel heißt Petržalka – Gala­pagos, und das hat seinen Grund. Jana Beňova beob­achtet. Ihre Spe­zies ist der Petržalka-Mensch.

Jana Beňova (*1974) debü­tierte 1993 mit der Gedicht­samm­lung Svet­lo­plachý (Licht­scheu), ver­öf­fent­lichte wei­tere Gedichte in Lono­chod (Mond­ve­hikel im Schoß, 1995), Nehota (Unfer­tige Nackt­heit, 1997), den Pro­sa­text Parker (Parker, 1999) und die Erzäh­lungen Dvanásť poviedok a Ján Med (Zwölf Geschichten und Jan Honig, 2003). In den letzten 15 Jahren geschahen in ihrer Lyrik und ihrer Prosa zwei Dinge. Vom Vers „Freunde aus der Kind­heit / hatten / Baum­woll­schilde“ kam sie zu Sätzen, wie dem fol­genden aus Plán odpre­vád­zania: „Christus sagte irgendwo, dass der­je­nige, der es schon nicht schaffe, wäh­rend des Lebens von den Toten auf­zu­er­stehen, sich davon mit Hohn ver­ab­schieden könne“. Und damit been­dete sie ihre schrift­stel­le­ri­sche Kind­heit und Jugend. Davon erzählt dieses Buch, es ist ein melan­cho­li­scher, iro­ni­scher und selbst­iro­ni­scher Abschied.

Plán odpre­vád­zania ist die Geschichte des Sti­pen­diaten-Quar­tetts Elza, Yan, Rebeka und Lukas. Es ist ein atmo­sphä­ri­sches Buch. Das Quar­tett besteht aus zwei außer­ge­wöhn­li­chen, von der erfolgs­ori­en­tierten Welt abge­sto­ßenen Paaren. Sie sind in steter Bewe­gung. Sie krab­beln, ihre Bewe­gung wird gere­gelt von einem dif­fusen Geleit­plan, von Treffen, Abreisen, Abschieden und vom Sterben. Der Plan ist ein Puzzle, dessen zusam­men­ge­setztes Bild wir nicht kennen. Die Geschichte kon­stru­iert sich nicht aus Ereig­nissen, die sich als Perlen einer Kette nach­ein­ander auf­reihen lassen. Der Faden ist längst gerissen, und die Perlen liegen ver­streut in den Gedanken der Erzäh­lerin Elza.

Über Elza kann man zual­ler­erst sagen, dass sie eine große Klappe hat. Gegen­über ihren Alters­ge­nossen bringt sie bei­spiels­weise fol­genden Satz hervor: „Nach der Han­dyIn und Kalen­darIn war die Fete das nächste Wort, das den slo­wa­ki­schen Frauen die Gleich­be­rech­ti­gung gewähren sollte“. An die Adresse der Petržal­kaer Ana­bo­li­ka­pfann­ku­chen (auch das ist ihr Aus­druck), die Body­guards und Schutz­geld­ein­treiber, die zur Heroin­her­stel­lung Strom brau­chen, richtet sie die erha­bene Floskel Goe­thes: „Mehr Licht, gebt mir mehr Licht.“

Petržalka kann man nicht ent­fliehen. Es ist Alltag, ein Laby­rinth, in dem sich gleich­wohl jeder zurecht findet, und des­halb ist es so schwer, heraus zu kommen. Petržalka ist ein nachts unter den Toren zap­pelnder Schatten, ein Schatten von einem Zuhause, aber doch Zuhause, denn etwas anderes als Hotels, Pen­sionen und dem Lite­ra­tur­haus in Krems, dem die Autorin neben einigen anderen Spon­soren des Buches Tribut zu zollen scheint, exis­tiert nicht. Das ima­gi­näre Petržalka ist jedoch auch eine neue Romantik zur Zeit des heu­tigen Biedermeiers.

Das All­täg­liche ist Bana­lität, Bewah­rung, Hin­ter­grund, Rou­tine. In der All­täg­lich­keit bleiben Dinge unab­ge­schlossen, Ereig­nisse unvoll­endet, Infor­ma­tionen lücken­haft. In ihr tau­chen viele, nur flüchtig umris­sene Mög­lich­keiten auf. Sie ist die neue Resi­gna­tion gegen­über der Geschichte, die sich im Buch nur ein ein­ziges Mal offen­bart – als Elza und Yan von der Insel Pathmos zurück­kehren und erfahren, dass die Zwil­lings­türme vier Tage zuvor ein­ge­stürzt sind und die Welt sich unwi­der­ruf­lich ver­än­dert hat.

Der Text gestaltet Spuren einer All­täg­lich­keit, denen es zwar an Kon­ti­nuität fehlt, nicht jedoch an inten­siver Prä­senz. Eine feuchte Welt, in der Liebe und Pro­dukte geboren werden, weil sie auch eine Welt der Reste und der sprach­li­chen Exkre­mente ist. Beňová wehrt sich mit der obs­zönen Sprache ihrer Prosa nicht etwa gegen die obs­zöne Welt, wie dies bei­spiels­weise in den Versen des tsche­chi­schen Dich­ters Ivan Martin Jirous der Fall ist. Viel­mehr sym­bo­li­sieren jene Obs­zö­ni­täten die Vul­ga­rität des all­täg­li­chen Lebens, manchmal als freud­sche Ver­spre­cher, anderswo als Faust­schläge genau zwi­schen die Augen. Dabei bleibt die Textur unstet. Sie besteht aus Knoten auf einer Gefühls­land­karte der Erin­ne­rung, sie nähert sich einem Punkt an, den die Autorin Inhalt nennt, und der piept wie eine Kasse im Super­markt: PIEP, PIEPIEP.

Die Welt Jana Beňovas hat eine dop­pelte Topo­grafie. Es ist die laby­rin­thi­sche Welt zwi­schen dem Café Hyäne auf der Bra­tis­la­vaer Seite und dem Zuhause in Petržalka, wobei das Hin­über­gehen von der einen Seite zur anderen bedeutet, die Grenze zwi­schen zwei Welten zu über­schreiten. Diese Grenze ist die Donau, die zeit­ge­nös­si­sche Lethe, der Fluss des Ver­ges­sens aller irdi­schen Dinge. Er hat seinen festen Ver­lauf. Auf der Bra­tis­la­vaer Seite führt der ein­zige Weg aus dem Laby­rinth um das Café Hyäne herum, in Petržalka auf den Friedhof zu.

Das Café Hyäne ist die Zen­trale des Quar­tetts Elza, Yan, Rebeka und Lukas. Diese Namen sind Krypt­onyme, zum Bei­spiel wohnt Elzas Namen die Löwin Elsa inne. Yan ist eine Kom­po­si­tion  aus den Vor­namen Ivan und Jana, hinter denen sich der Lyriker Ivan Štrpka und Jana Beňová ver­bergen, wäh­rend Rebeka und Lukas bibli­sche Namen sind. Diese in der All­täg­lich­keit Schwim­menden werden auf ihrem Weg begleitet von Sábato, J. L. Borges und haupt­säch­lich von einem Mann namens Carl Solomon, der Figur aus Howl. Allen Gins­berg begeg­nete ihm im Irren­haus in Rock­land, in das beide ein­ge­wiesen worden waren, genauso wie er vor Jahren im Bra­tis­la­vaer Rock­land den jungen Yan getroffen hatte. Plán odpre­vád­zania ist eigent­lich auch eine Rei­se­ge­schichte, in der zwei Gene­ra­tionen auf­ein­ander treffen. Staf­fel­stab, den Yan an Elza übergibt.

Das Café Hyäne ist ein beson­derer Ort. Ginge der tsche­chi­sche Under­ground­ly­riker Egon Bondy dort hin, schriebe er sicher­lich ein Gedicht mit diesem Wort­laut: „Café Hyäne / Rei­nigt Hyäne“. Er kam nicht, schrieb ein sol­ches Gedicht nicht, und nicht einmal Jana Beňová hat es geschrieben, son­dern ich, aber genauso gut könnten diese Worte von Bondy und Beňová stammen.

Auch Jana Beňová hat näm­lich ihren Plan: „…Viertel, Städte, Regionen, Kon­ti­nente, Ver­gnü­gungs­parks, Petržalka, Pali­saden, Kanada. Meer. Strände – unbe­rührte mit weißem Sand, urbane an den Ufern von Auto­bahnen (…) und vieles hängt bei ihnen auch vom Wetter ab“.
Yan und Elza sind Cham­pions im Geiste und Plán odpre­vád­zania ist vor allem ihre Geschichte. Yan erblindet auf einem Auge und Elza denkt irgend­wann, dass er nicht wegen Petržalka erblindet sei, son­dern weil er es nicht mehr ertragen konnte, ihrem gemein­samen Leben zuzu­schauen, er ver­bar­ri­ka­dierte sich in seinem Teil des Zim­mers. Yan ist das freud­sche weiße Pferd der Geschichte, Lieb­haber und gleich­zeitig Vater, den Elza quer in zwei Teile reißt.

Der Stadt­plan ist geheim. Nur der­je­nige kann ihn ent­de­cken, der das Bild vom Laby­rinth auf der Rück­seite des von der Illus­tra­torin Jana Néme­t­hová gezeich­neten Umschlags sieht. Hier findet sich außerdem auch das Mani­fest des Quar­tetts mit dem leben­digen Kind­heits­traum von der Erleuch­tung und der Erlö­sung aller lebenden Krea­turen vom Leid.

Die Heldin der Geschichte und Trä­gerin des Geleit­planes ist Elza. Ihr Pinoc­chio-Motiv der Meta­mor­phose begleitet das ver­zerrte Echo der Sätze, die sie alle durch­leben musste, um erwachsen zu werden. Sie musste erdulden, dass der Richter sie als Sohn Yans betrachtet und sie auf den Brust­korb schlägt. Sie muss fest­stellen, dass Yan sie­benmal schneller altert als es die Regel wäre. Sie muss die andro­gyne Bezie­hung zum Gum­mi­men­schen mit dem Namen Kalisto Tanzi durch­stehen. Sie muss mit­er­leben, wie sich die Mutter Yans auf die Reise in den Fluss des Ver­ges­sens begibt. Sie muss im Rock­land von Petržalka bis auf den Grund der Seele der Freundin Rebeka bli­cken. Mar­schieren, mar­schieren, mar­schieren und wäh­rend­dessen lernen, über diese kom­pli­zier­testen aller Dinge auf ein­fachste Art und Weise zu schreiben. Sich einen Geleit­plan schaffen – für den Auf­bruch, für den Abschied, für den Tod. Erst nachdem sie diese Meta­mor­phose voll­zogen hat, wird Elza erwachsen. Und mit ihr auch Jana Beňovas Prosa. Plán odpre­vád­zania ist eine leben­dige Nach­richt aus der Heimat über das heu­tige flüch­tige, tickende und pie­pende Leben. Wir sind im Auge des Hur­ri­kans, und eine gau­kelnde Welt steigt in uns hinein.

 

Aus dem Slo­wa­ki­schen von Linda Gut­towski.

 

Beňova, Jana: Plán odpre­vád­zania. Cafe Hyena. Bra­tis­lava 2008.