Ein Interview mit Olga Černyševa
Olga Černyševa gehört seit einigen Jahren zu den am meisten beachteten Künstlerinnen Russlands. Ihre Fotografien, Video-Arbeiten, Installationen und Zeichnungen spüren in mikroskopischen Beobachtungen dem postsowjetischen Alltag nach und versuchen, in einer affirmativen Geste seine Schönheit aufzuzeichnen. Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich Černyševa durch zahlreiche Ausstellungen in Russland, Europa und den USA international einen Namen gemacht. Eine Reihe neuerer Werke waren kürzlich in London und New York zu sehen sowie in der Galerie Volker Diehl in Moskau – und 2009 auch in Berlin.
Olga Černyševa wurde 1962 in Moskau geboren. Sie studierte am Staatlichen Institut für Filmwissenschaft in Moskau und an der Rijksakademie Van Beeldende Kunsten in Amsterdam. 2001 wurden ihre Werke im Russischen Pavillon der Biennale in Venedig gezeigt.
novinki: Olga Černyševa, Ihre ersten Arbeiten wurden zu Beginn der 1990er Jahre unter dem Titel iskusstvo potreblenija / the art of consumption bekannt und zeigen Torten oder andere essbare Gegenstände. Sie reflektieren in gewisser Weise die Bedingungen, in denen Kunst in einer kapitalistischen Gesellschaft entsteht, ihren Warencharakter, wenn man so will. Jemand muss die Kunst essen, damit sie bestehen kann. Gleichzeitig debütierten Sie in einer Zeit, in der der Systemwechsel erst die notwendigen Bedingungen für Ihr Dasein als Künstlerin geschaffen hat. Oder war das ein biographischer Zufall? Wie kam es zu diesen ersten Arbeiten, die sich von den späteren ja ganz grundsätzlich unterscheiden?
Olga Černyševa: Meine ersten Arbeiten waren eigentlich Gemälde. Ich wurde als Cartoonistin bzw. Illustratorin ausgebildet. Beim Malen habe ich die Dicke der Farbe, das Volumen des Öls entdeckt. Und ich habe verstanden, dass die Leinwand nicht einfach ein Fenster ist, sondern ihren eigenen dreidimensionalen Charakter hat. Gleichzeitig habe ich moderne Kunst kennen gelernt, die für mich noch ein Niemandsland war. Als ich all diese Bilder wahrgenommen habe, die damals Anfang der 1990er Jahre aus dem Westen nach Russland kamen, wurde mir klar, dass diese Art, mit Essen Kunst zu machen, im Grunde Pop-Art ist. Mir ging es jedoch nicht so sehr um Reflexionen über Massenproduktion, also habe ich langsam aufgehört mit dem Kuchen…
n.: Mit dem Kuchen?
Č.: Ja, ich würde sagen, es ist eine Kuchen-Geschichte. Ich hatte den Eindruck, dass das Thema ausgereizt ist. Es ging nur noch um Variationen der Form und der Farbe. Mich interessierte damals nicht nur der Zwang der Kunst, attraktiv sein zu müssen, sondern auch die Kunst selbst als Attraktion. Mit anderen Worten: das Süße an der Kunst. Diese Art von Kunst wird sehr geschätzt, auch von den Konsumenten. Aber gleichzeitig ist dieser Kuchen auch Kitsch. Als ich damals nach Material gesucht habe, ist mir jedoch ein interessantes Kochbuch in die Hände gefallen, das nur vom Teig handelte. Es war ein sehr seltsames Buch, ausschließlich mit Schwarz-Weiß-Bildern, und auf den Bildern waren keine Menschen zu sehen, sondern immer nur die Hände. Es waren phantastische Fotografien, weil sie in gewisser Weise die biblische Schöpfungsgeschichte interpretiert haben: Wasser und Erde herstellen, Gut und Böse voneinander trennen etc.
n.: Sie haben dann später auch ein Projekt zur Schokolade als einer Art Glücks-Maschine gemacht. Sie wollten der Intimität dieses süßen Glücks nachgehen und sind dazu in eine Schokoladenfabrik gegangen?
Č.: Mich hat die Schokolade als Antidepressivum interessiert. Das Leben in den 1990er Jahren war sehr schwer, schockierend geradezu, alles andere als antidepressiv.Und ich hatte das Gefühl, dass die russische Natur ein Analog zur Schokolade ist und antidepressiv wirkt. Ich habe Fotos in den Randbezirken von Moskau gemacht und ein Fotolabor gefunden, das die Bilder für mich nur in Schokoladenfarbe entwickelte, in einem sehr tiefen Braun. Ich habe das Labor auch gebeten, die Fotos nicht scharf zu entwickeln, sondern ein wenig verschwommen. Diese Fotos waren der eine Teil des Projekts. Für den anderen Teil habe ich eine berühmte russische Schokoladenfabrik besucht, sie hieß Krasnyj Oktjabr (Roter Oktober) und hat vor Kurzem geschlossen. In der Sowjetzeit war es üblich, im Innern der Verpackung auf einem kleinen Papier den Namen des Arbeiters zu nennen, der die Schokolade produziert hatte. Als ich dort war, gab es immerhin noch eine Nummer, mit der man die Person identifizieren konnte. Ich habe eine Art Design für die Schokoladenverpackung entwickelt, indem ich Porträts von den Menschen gemacht habe, die in der Fabrik gearbeitet haben. Natürlich habe ich davon geträumt, dass die Verpackung in Serie geht, aber sie wurde abgelehnt, sodass lediglich ein Kunstobjekt daraus wurde.
n.: In den ersten Arbeiten haben Sie also eine Sprache verwendet, von der Sie erkannten, dass sie nicht ihre eigene ist. Wie kann man sich in Russland einen kritischen Vorbehalt gegenüber den Einflüssen aus dem Westen bewahren und einen eigenen Weg finden?
Č.: Ich bin immer noch dabei, meinen eigenen Weg zu finden. Zwei Dinge habe ich ganz früh von einem privaten Lehrer gelernt: Skizzen der Wirklichkeit zu entwerfen und die großen Meister zu kopieren. Durch die Skizzen nimmt man den Geist der Realität auf, durch das Kopieren den Geist der Tradition. Aber unter ‚Kopieren‘ verstehe ich nicht Plagiate − bloße Nachahmung ist natürlich Zeitverschwendung. Es geht darum, nicht nur die Formen zu übernehmen, sondern auch die Einstellung, die mit diesen Formen verbunden ist. Es ist wie mit Malevičs Schwarzem Quadrat. Man kann heute nur noch das „Schwarze Quadrat von Malevič“ kopieren, aber nicht einfach das Schwarze Quadrat. Das schwarze Quadrat als anonymes Objekt existiert nicht mehr. Generell glaube ich, wenn man mit seinen eigenen alltäglichen Wahrnehmungen anfängt, wird man immer zu einem ganz individuellen Ergebnis kommen.
n.: Es ist auffällig, dass Sie in ganz verschiedenen Metiers arbeiten: Fotografie, Video, Zeichnungen. Sind all jene verschiedenen Medien für Sie notwendig, um sich auf verschiedene Art und Weise ausdrücken zu können?
Č.: Ich glaube, es ist gar nicht mein Ziel, mich selbst auszudrücken. Ich lenke mich wohl mit dem einen vom andern ab und lasse mich davon gleichzeitig anregen. Und natürlich passe ich das Medium an den Gegenstand an, mit dem ich gerade arbeite. Vielleicht mag ich Videos derzeit am meisten. Sehr wichtig ist mir aber immer noch das Zeichnen. Ich erinnere mich noch an ein Buch aus meiner Kindheit, Robinson Crusoe. In dieser Ausgabe war der Text, der sozusagen die Anleitung zum Erbauen einer Welt darstellt, mit kleinen, ganz einfachen Zeichnungen illustriert. Diese einfachen Zeichnungen waren sehr wichtig für mich. Und für Robinson bedeutete jedes Bild einen weiteren Schritt, um zu überleben und ein Mensch zu werden.
n.: Boris Groys hat darüber geschrieben, wie Sie in Ihren Videos durch die Langsamkeit, die Wiederholung und die Alltäglichkeit der Menschen und Bilder dem Betrachter ein Stück Realität zurückgeben, das ihm durch das Kino genommen wurde. Während der Betrachter im Kino immer bewegungslos im Dunkeln sitzt und sich von der immer höher werdenden Geschwindigkeit der Filme innerlich bewegen lässt, muss sich der Betrachter von Kunst-Videos im Raum bewegen und sieht bei Ihnen kleine, langsame, sich immer wiederholende Schleifen des russischen Alltags. Sehen Sie auch diesen Gegensatz von Film und Video?
Č.: Ich stimme mit dieser Beschreibung prinzipiell schon überein, natürlich ist die Geschwindigkeit und auch der Raum, in dem etwas stattfindet, sehr wichtig. Nur hilft das nicht, zwischen einem guten und einem schlechten Video zu unterscheiden. Ich weiß nicht, ob es so etwas wie eine Natur der Video-Installation gibt. Es ist ja nicht wie beim Sport, dass es verschiedene Disziplinen wie Laufen, Springen, Werfen etc. gibt, die sich so leicht trennen lassen. Es ist schon wichtig, zwischen Kunst und Massenmedien zu differenzieren, aber ich zeige ja auch manchmal Videos in Kinosälen, wo der Zuschauer genauso bewegungslos im Dunkeln sitzt.
n.: In dem Projekt Mother&Daughter findet auf eine andere Weise auch ein seltsames Aussetzen der Zeit statt. Porträts von Müttern und Töchtern im gleichen Alter sind dabei zusammengestellt, und sie sehen sich teilweise verwechselbar ähnlich, auch in der Ästhetik der Bilder. Auch in anderen Arbeiten scheint es oft, als ob sie weniger das Neue und noch nie Gewesene suchen, sondern vielmehr dem nachgehen, was Bestand hat oder sich nur langsam und minimal verändert. Ist das so etwas wie die Suche nach einer immanenten Endlosigkeit? Der natürliche Kreislauf von Mutter und Tochter und Mutter etc.?
Č.: Zuerst einmal handelt es sich dabei um eine private Angelegenheit. Ich habe damals meine Tochter nach Amsterdam mitgenommen und wurde ziemlich einsam mit ihr. Ich war als Künstlerin dort und gleichzeitig musste ich mich um meine 6-Jahre alte Tochter kümmern, die viel Aufmerksamkeit verlangte. So kam es zu diesem Projekt. Ich habe dafür im Ausstellungsraum eine Waisenhaus-Atmosphäre geschaffen mit kleinen Kindertischen und -stühlen, sodass man sich bücken musste, um die Bilder überhaupt zu sehen. Das Thema hat sich damals von selbst gestellt, und es ist ja auch ein ganz großes der Kunstgeschichte: Kunst als Ergebnis einer Erfindung oder einer Geburt? Ich selbst habe immer ein relativ natürliches Verhältnis zu meinen Gegenständen gehabt, denen ich einfach nicht entkommen konnte, die nach mir fragten. Ich konnte sie höchsten kurzfristig ignorieren. Ich würde meine Arbeiten darum nicht als Erfindungen bezeichnen, sondern eher als ein Verfahren des Entdeckens, des Auffindens, der Enthüllung.
n.: Wenn man sich z.B. die deutsche Fotografie anschaut, stellt man fest, dass der Mensch dort schon seit längerem weitgehend verschwunden ist. Es geht vielmehr um Strukturen, Serien, um industrielle oder natürliche Landschaften. Menschen dagegen sind scheinbar nur im Extrem von Interesse, bei Geburt, Tod und Sexualität. Bei Ihnen dagegen kann man beobachten, dass der Mensch auch in einer gewissen Durchschnittlichkeit immer noch ein unerlässlicher Bezugspunkt ist. Man kann das auch bei anderen russischen Fotografen wieder finden, z.b. bei Anastasia Chorošilova, die den postsowjetischen Menschen ein wenig im Stile August Sanders unter die Lupe genommen hat. Hat der tot geredete Mensch die Sowjetunion sozusagen überlebt?
Č.: Vielleicht. Es gab einen Arzt im 19. Jahrhundert, Zalmanov hieß er, der die Augen als einen Teil des Gehirns beschrieben hat, das sich außerhalb des Kopfes befindet. Meine Optik ist einfach so organisiert, dass ich immer den Menschen sehe. Für mich ist die Welt wie ein Orchester von Resonanzen, in dem ich sehr viele Dinge gleichzeitig wahrnehme. Der Mensch ist in diesem Orchester nicht das Zentrum, aber ein sehr wichtiger Bestandteil. Darum mag ich auch keine künstlichen Hintergründe, z.B. weiße Leinwände. In Russland ist momentan alles Materielle wahnsinnig wichtig. Ich habe eine Serie gemacht, die Rush hour blooms heißt. Man sieht da auf vielen zusammengestellten Fotos vor allem Blumen, die in der Metro verkauft werden. Die Menschen, die diese verkaufen, sind jedoch nur ganz schwer zwischen den Blumen zu erkennen. Ihre Anwesenheit wird dadurch in Frage gestellt. Für mich ist es auch schwer, mit der Realität in Kontakt zu bleiben, sie macht mich nicht gerade ununterbrochen enthusiastisch. Aber wenn man darauf achtet, was passiert, was da ist und gleich wieder vergeht, dann findet man den Kontakt zu den Dingen. Deswegen bin ich sehr an der Atmosphäre interessiert, an der Atmosphäre als einer Art Doppelillusion. Denn die visuelle Illusion ist Teil unserer Wahrnehmung.
n.: Irgendetwas ist mit den Augen passiert: Ist das die Empfindung, die Sie sich bei dem Rezipienten wünschen? Kann es überhaupt eine visuelle Kunst geben, die sich nicht auf irgendeine Weise auf die Verfremdung der Wahrnehmung, auf die Erziehung des Blicks im Sinne der Avantgarde bezieht?
Č.: Ja, wobei es Rodčenko oder Dziga Vertov, glaube ich, mehr um den Schnitt ging, sie waren am Fragment interessiert, und nicht an der Geschichte. Die Geschichte war durch die Revolution wie abgeschnitten. Für mich ist wohl Alexandr Dovženko mit seinem Film Zemlja / Die Erde (1930) wichtiger. Ihm geht es mehr um das Ganze, und das ist vermutlich auch für mich der leichtere Weg, die Realität zu fassen. In meinem eigenen Pantheon würde Dovženko also sicherlich sitzen, aber wahrscheinlich nicht Eisenštein, obwohl ich die Künstler dieser Zeit natürlich alle sehr schätze. Sie haben alle die Anmut der Wirklichkeit gefühlt.
n.: In Tele-visions, einer kurzen Fotoserie von 1997, sieht man Menschen im und vor dem Fernsehen. Am einen Bildrand diejenigen im Fernsehen, am anderen Bildrand diejenigen, welche davor sitzen, wobei letztere in einigen Fällen fehlen. Manchmal erscheint der Fernsehbildschirm wie ein Spiegel, der im Unklaren lässt, wer wen spiegelt. Als ob die Differenz dann so gering würde, dass der Zuschauer verschwinden kann. Auch eine Art Tod?
Č.: Wenn der Fernseher ein Spiegel ist, dann ein solcher, der in allen Situationen den Platz des Zuschauers einnimmt. Der Fernseher kommt von selbst zum mentalen Ort des Fernsehenden. Deshalb habe ich einige Fotos mit und einige Fotos ohne Betrachter gemacht. Ich habe dabei absichtlich keine aggressiven Fernsehbilder, z.B. vom Krieg genommen, denn dann könnte man denken, dass das Böse aus dem Fernsehen kommt. Aber das Fernsehen ist schon Teil des Bewusstseins geworden. Es gibt aber auch eine technische Besonderheit bei den Fotos: Es ist nämlich kaum noch möglich, solche Fotos zu machen, weil es diese gewölbten Bildschirme nicht mehr gibt. Jetzt gibt es nur noch flache Bildschirme, mit denen das perspektivisch gar nicht funktionieren würde. Aufgrund dieser Wölbung der alten Bildschirme aber sind die Gesichter auf dem Bildschirm sozusagen aus dem Fernseher heraus gefallen.
n.: Ein großes Thema in Ihren Arbeiten sind Grenzen. Ganz programmatisch in der Fotoserie Sites, die eine Art Phänomenologie von russischen Zäunen darstellt. Man hat dabei oft das Gefühl, es geht um die Verwischung von Grenzen, um die Konstruktionen von Räumen der Indifferenz, um eine Hybridisierung von verschiedenen Sphären: in Mother&Daughters von verschiedenen Generationen, in Anabiosis von Menschen und Pflanzen, in Second Life von Menschen und Tieren. Manchmal mit einer Geste der Vereinigung, wie sie in dieser Umarmung in Awkward time dargestellt ist. Gibt es irgendeinen Fluchtpunkt in diesen Grenzgängen?
Č.: Das ist auf jeden Fall ein ganz wichtiger Aspekt meiner Arbeit. Vielleicht geht es bei der Vermischung und Konfrontation darum, zu zeigen, dass sie nicht funktioniert. Nur wenn man die eine Form in die andere konvertiert, erkennt man den Unterschied. Für mich ist es sehr wichtig, Dinge zu vergleichen. Manchmal macht unser Auge Fehler, man kann zum Beispiel in einer Pflanze einen Menschen sehen. Es ist wie mit Metaphern, wenn man beispielsweise sagt „die Büsche flüstern“. So funktioniert Poesie, und ich glaube, das ist der kürzeste Weg, um etwas zu verstehen.
n.: Die Kunst als eine Methode des Verstehens von Menschen, Dingen, Gefühlen von dem, was die Wissenschaft nicht erfassen kann?
Č.: Ja, wobei sich das Wort „verstehen“ wahrscheinlich zu objektiv anhört. Aber von Mandelštam gibt es zum Beispiel ein Gedicht von 1931, ohne Titel, es beginnt Polnoč’ v Moskve (“Mitternacht in Moskau” Übers. Ralph Dutli), und dann heißt es irgendwann: „Ja čelovek epochi Moskvošveja“ („Ich bin ein Mensch aus Moskaus Konfektion“, übers. Ralph Dutli). Ich weiß durch die Sprache sofort, wie das Leben in den 1930er Jahren war. Schneller, als wenn ich ein Geschichtsbuch oder historische Dokumente lesen würde. Die Sprache seiner Gedichte vermittelt den Verfall des Russischen in dieser Zeit auf eine fundamentale und viel schnellere Art, als alles andere.
n.: In dem Projekt Anabiosis haben Sie im Winter einerseits Fischer und andererseits Pflanzen fotografiert. Beide sind aber in Säcke eingewickelt, um sich gegen die Kälte zu schützen, und darum kaum unterscheidbar. Sieht man das wirklich häufig in Russland, Fischer, die sich in Plastiksäcke einwickeln? Und was ist Anabiosis genau, wie kann man es übersetzen?
Č.: Ja, sie machen das tatsächlich, nur so bin ich auf die Idee gekommen, sie sehen wirklich verblüffend ähnlich aus. Auch das ist also weniger meine Erfindung, als meine Beobachtung. Anabiosis bezeichnet einfach einen Zustand, in dem Pflanzen trotz der Kälte überleben, eine Methode des Wartens auf bessere Umstände. In gewisser Weise reagieren die Bilder auf die Versteinerung des Bewusstseins, den mentalen Zustand der 1990er Jahre.
n.: Sozusagen eine Pause vom Leben nehmen, um weiterleben zu können?
Č.: Sozusagen.
n.: Man hat bei Ihrer Kunst den Eindruck, dass sie eher dem nachspürt, was sie mag, anstatt das zu kritisieren, was ihr missfällt. Sie schein affirmativ vorzugehen. Ist das richtig?
Č.: Genau, wir sind doch die Zeugen unserer Zeit, nicht um festzustellen, wie schlimm alles ist, sondern um einen Weg zu finden. Überall hört man Klagen, aber meine Zeit ist die einzige, die ich habe. Baudelaire hat das einmal in etwa so gesagt: „Du hast kein Recht, deine Epoche zu verachten. Wer bist du, zu sagen, dass diese Zeit schlecht ist?“ Und ich finde, er hat Recht. Es gab bei uns eine Sängerin am Anfang des 20. Jahrhunderts, eine Zigeunerin, Ljalja Černaja, sie hat gesungen: „Ja cigankoj rodilas’/ vo mne rozoj krov’ zažglas’“ (Als Zigeunerin wurde ich geboren/ in mir flammte das Blut wie eine Rose auf.) Man wird sofort neidisch. Wenn man objektiv auf das Leben der Zigeuner schaut, gibt es wenig Grund, neidisch zu sein. Aber wenn man trotzdem versucht, einen Weg zu finden, und andere Menschen damit bewegt − das ist doch Kunst.