Zar und Gottes Mann – eine ausführliche Filmrezension zu Car‘ / Der Zar (Russland 2009, Regie: Pavel Lungin)
Der letzte Film von Pavel Lungin, Car‘, kam auf DVD im Original zu mir. Das hätte in Deutschland höchstwahrscheinlich auch nicht anders passieren können. Vielleicht läuft Car‘ irgendwann auf 3Sat oder Arte im Minderheiten-Spätprogramm, wer weiß, aber ins Kino wird er nicht kommen. Ich habe ihn mir also angeschaut, den „Zaren“ von Pavel Lungin. Der Zar, also Ivan IV. (1530-1585) – besser bekannt als Ivan der Schreckliche (eigentlich – groznyj – der Strenge) – ist in diesem Fall Pëtr Mamonov, Film-Schauspieler (Taxi Blues, Ostrov — beide von Lungin), Dichter und Sänger seiner Band Zvuki Mu. Dieser Zar hat sehr wenig Zähne und sieht überhaupt aus, wie man sich einen Ivan den Schrecklichen vorstellt, nicht zuletzt, wenn man das Gemälde von Ilja Repin im Kopf hat (den Blick dieses Zaren wird man so schnell nicht vergessen).
Aber nicht allein die verblüffende Ähnlichkeit mit Ilja Repins ikonischen Ivan rechtfertigt die Wahl Pëtr Mamonovs. Er verkörpert seinen Zaren auch darstellerisch sehr überzeugend und hinterlässt einen ebenso nachhaltigen Eindruck wie Repins Gemälde. So auch gleich in seiner ersten Szene: Ivan muss vor das Volk treten, scheut jedoch davor zurück wie ein Pferd, als hätte er selbst Angst vor seiner Größe, seine Getreuen müssen ihn schließlich festhalten. Diese Szene ist vielleicht die interessanteste des gesamten Filmes, weckt sie doch gleich zu Beginn die Hoffnung, es mit einer Auseinandersetzung mit Ivan IV., dieser zwiespältigen und für die russische Geschichte so wichtigen Figur, zu tun zu haben. Noch frisch zudem ist die Erinnerung an Vladimir Sorokins Roman Tag des Opričniks, wo mit klarem Verweis auf die Zeit Ivan Groznyijs und auf Basis eines literarisch aufwendigen und dem Leser einiges abverlangenden historisierenden Verfahrens die Themen Autokratie und Willkürherrschaft auf eindringliche Weise für das heutige Russland und seine nahe (allzu nahe?) Zukunft aktualisiert werden. Nun also drei Jahre später ein Historienfilm mit Ivan dem Schrecklichen als Hauptfigur – das weckt Erwartungen, gerade auch weil sich die politische Situation in Russland kaum verändert hat.
Aber leider werden diese Erwartungen enttäuscht. Auch wenn man gleich in den ersten Minuten des Films sofort an Sorokins Roman denken muss: Auch hier fallen wie im Roman die Opričniki, Ivans „OMON-Truppen“ über ein Gut her und massakrieren den in Ungnade gefallenen Hausherrn. Doch während bei Sorokin letzterer erschlagen und seine Frau vergewaltigt wird, ausführlich und detailreich geschildert, gerät bei Lungin inmitten des grausamen Geschehens ein kleines Mädchen in den Fokus, das außerdem den Hof unbemerkt verlassen kann. Da ihr die Kamera folgt, werden uns Zuschauer_innen die nun auf dem Hof stattfindenden Grausamkeiten erspart. Aber es kommt noch besser – das Mädchen rennt gradewegs in die Arme eines zufällig des Weges kommenden und gütig wie der Weihnachtsmann aussehenden Popen. Und das ist, wie sich herausstellen wird, natürlich kein Zufall. Denn dieser Pope ist Filip, Abt des Soloveckij-Klosters (zu ihm gleich mehr).
Haben wir es also bei Sorokin mit einer Art abstraktem, fast schon comic-haftem Realismus zu tun, so entfaltet sich in Lungins Film von Anfang an die Ästhetik (und auch Logik) eines historisierenden Märchenfilms. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn sich dieses im bunten Gewande historischen Geschehens erzählte Märchen nicht schnell als plumpe Kirchen-Propaganda entpuppen würde. Denn Car‘ ist kein Film über den Zaren. Die eigentliche Hauptfigur ist sein Gegenspieler: der eben bereits erwähnt orthodoxe Priester, genauer der im Jahre 1636 heilig gesprochene Metropolit Filip, dessen historisches Vorbild tatsächlich mit dem historischen Ivan in Widerspruch geriet. Anstatt sich auf die künstlerisch äußerst spannende Figur des Ivan Groznyj, dessen Zar- und Menschsein, dessen Konflikte, Vielschichtigkeit und seine Rolle in der russischen Landes- und Religionsgeschichte zu konzentrieren, und so das in Russland immer noch aktuelle Thema der „Selbstherrschaft“ in Form des Historiendramas zu behandeln, inszeniert Lungin ein unterkomplexes Gut- und Böse-Spiel, in dessen Schwarz-Weiß-Perspektive der Zar im Grunde nur als die Verkörperung des an und für sich Bösen gebraucht wird, als Antichrist im Kreml, als Gegenspieler des absolut Guten, der heiligen russisch-orthodoxen Kirche, verkörpert in Filip, dessen Heiligen-Vita der eigentliche rote Faden des Filmes ist. Die ganze hervorragende darstellerische Leistung Mamonovs – Ivan ist hier ein von seinen Dämonen Getriebener, hin- und hergerissen zwischen Schuld, Buße, boden- und haltloser Selbstliebe, Selbsthass und Selbstvergebung – all das ist wirklich für die Katz, auch wenn es aufwendig und manchmal auch sehr gelungen ins Bild gesetzt wird. All das ist hier nur düsterer Hintergrund, vor dem Filip als Vertreter des wahren Christentums umso heller leuchten soll.
Ich bin irritiert. Woher diese ideologische Nähe zur Russisch-Orthodoxen Kirche? Lungin ist doch jüdischer Herkunft, denke ich. Habe ich etwas verpasst? Offenbar gehe ich von den falschen Voraussetzungen aus, habe vielleicht noch zu sehr Lungins Film Oligarch (2002) im Kopf (ein Mafia-Melodram, in dem ganz nebenbei der Aufstieg einer sehr an Putin erinnernden Figur erzählt wird). Vor allem habe ich Lungins letzten und wohl erfolgreichsten Film noch nicht gesehen – Ostrov (2006). Schnell hole ich das nach und begreife, dass Car’ und Ostrov in engem Zusammenhang stehen.
Ostrov gefällt mir, bei aller christlichen Ideologie, die auch dieser Film transportiert, weitaus besser als Car‘, auch ist der propagandistische Gehalt subtiler und damit weitaus wirksamer verpackt. An der Hauptfigur – ebenfalls sehr intensiv von Pëtr Mamonov dargestellt – statuiert Lungin das Exempel des gefallenen und wieder auferstandenen Sünders, der als Mönch in ewiger Buße und selbst gewählter Armut (und Einfalt) dem „Sinn des Lebens“ näher ist, als alle seine Zeitgenossen, die sich eher den schnöden Dingen der Diesseitigkeit hingeben, und zu denen sowohl seine Mitmönche als auch der Abt des Klosters zählen (und denen er natürlich allesamt Lektionen in Demut erteilt). Ostrov ist letztendlich ein filmisch-religiöser Traktat über Schuld und Vergebung (respektive Gottes Gnade, der man sich natürlich bis zuletzt nicht sicher sein kann). Das äußerst problematische utopische Element von Ostrov ist dessen ganz spezielle Sozialromantik, die auf so etwas wie den „gesunden Menschenverstand“ des einfachen russischen Menschen abhebt, der auf Gott und die russisch-orthodoxe Tradition und Religion vertraut. Tragendes künstlerische Mittel zur Verbreitung dieser Botschaft ist ein klebriger Mystizismus, der sich wunderbar elegischer Naturbilder und der kreatürlichen Intensität des Hauptdarstellers bedient und die Zuschauer_innen mit einem wohligen „Hauch von Ahnung“ in ihre jeweils vielleicht gar nicht so elegische Welt zurückschickt. In ästhetisch-künstlerischer Hinsicht geht das Konzept von Ostrov also auf.
Dagegen wirkt nun Car‘ in vielerlei Hinsicht erheblich unausgegorener. Mal abgesehen von einigen wirklich groben handwerklichen Schnitzern – vor allem im Bereich der Kameraführung und der Schnittfolge –, weiß der Film vor allem überhaupt nichts mit seiner titelgebenden und mit Pëtr Mamonov kongenial besetzten Hauptfigur anzufangen. Aber dasselbe gilt auch im Prinzip für Filip, der als als ‘ganz und gar Guter’ herzlich eindimensional bleibt. Im Großen und Ganzen vergibt sich Lungin die Chance, aus dem Gegenspiel zweier wirklich interessanter historischer Figuren, die alle beide keine widerspruchsfreien Personen waren, ein spannendes und zugleich unterrichtendes Historiendrama zu machen und damit den Blick auf ein Stück wirklich spannender russischer Geschichte frei zu legen. Denn der historische Filip, der als Asket angesehene Abt des Soloveckij-Klosters und zeitweilige Metropolit unter Ivan IV., war wie gesagt bestimmt keine widerspruchsfreie Person. Allein schon der Fakt, dass ein als Asket bekannter und verehrter Mönch und Abt, der eher für eine innerliche, weltabgewandte Religiosität steht, Metropolit wird und das unter Ivan IV. – zudem in einer Zeit, in der sich das Schicksal des Verhältnisses von staatlicher Macht und Kirche entschied – das ist ein Stoff, den zu übersehen man schon ein gerüttelt Maß an Ignoranz haben muss.
Man darf nicht vergessen: Die russisch-orthodoxe Kirche war im 15. und 16. Jahrhundert nicht das monolithische Gebilde, als das sie sich heute so gerne, auch bis in ihre Ursprünge, sehen will. Während auf der machtkirchlichen Seite, die Idee von Moskau als dem Dritten Rom entwickelt wird (ihr wichtigster Vertreter und Begründer ist Josif von Volokolamsk (um 1440-1515), dem eine Civitas Dei, die Vereinigung von Staat und Kirche vorschwebte, in der die Kirche in religiösen Fragen auch über den Zaren gebot), entwickeln sich auf der anderen Seite (vor allem im Kloster) verschiedenste Vorstellungen vom religiösen Leben sowie grundlegend divergierende Auffassungen zur Überlieferung und zur Göttlichen Wahrheit.
Die wichtigste Häresie ist dabei die sogenannte Novgoroder Häresie, die man als ein Einbruch westlich-humanistischen Denkens in die russische Geisteswelt verstehen kann. Ihre Vertreter sind gebildet, haben Zugang zu bisher nicht rezipierten Schriften und provozieren mit einer ersten vollständigen kirchenslavischen Bibelübersetzung. Sie kritisieren vor allen Dingen auch den überreichen kirchlichen Grundbesitz, in dem sie eine Hauptursache für die Verweltlichung der Kirche und auch die Hauptquelle der materiellen kirchlichen Macht sehen, der sie jede Berechtigung absprechen. Josif von Volokolamsk, der sein Reformwerk wesentlich über die Reform des Klosterlebens verwirklichen wollte, indem er dort eine strenge hierarchische Ordnung ansetzte, die den einzelnen Mönch zu Besitzlosigkeit und unbedingtem Gehorsam verpflichtete und im Gegenzug dem Abt eine geradezu monarchische Verfügungsgewalt übertrug (vorbildlich umgesetzt in dem von ihm 1479 selbst gegründeten Kloster bei Volokolamsk), war natürlich ihr erbitterster Gegner. Ihm gegenüber stand aber noch ein anderer Kirchenreformer, der zwar in der Frage des Kircheneigentums mit den Novgoroder Häretikern übereinstimmte, aber keine so radikale Abkehr von den Dogmen vertrat: Nil Sorskij (1433 – 1509). Er hatte in seiner Jugend den Kloster-Berg Athos in Griechenland besucht und nach seiner Heimkehr unweit des Flüsschens Sora einen Skit, eine Einsiedelei gegründet. Während das an sich noch kein ungewöhnlicher Vorgang war, in der Regel entstanden so die Klöster mit Grundbesitz und umliegenden Bauerndörfern, so unterschied sich das Leben im Skit doch erheblich von dem bis dato üblichen geschäftigen Treiben der Klosterwirtschaftsgemeinschaft. Kontemplation und die Reduzierung der sozialen Kontakte auf ein Mindestmaß, vor allem auf die Gottesdienste, prägten das Leben innerhalb der kleinen Gemeinschaft der im Skit asketisch und fast wie Eremiten lebenden Mönche.
Dieses Modell machte Schule, vor allem in Nordrussland, und wurde zu einer Dauererscheinung in Gestalt der sogenannten „Uneigennützigen“ („nestjažateli“). So gesehen gab es in jener Zeit innerhalb der Russischen Kirche also mindestens von drei Seiten tiefgreifende Reformbestrebungen, wobei sich schließlich die machtkirchliche Seite durchsetzen sollte. Während die Häresie von Novgorod buchstäblich mit ihren Vertretern ausgerottet wurde, war die kontemplativ-innerliche Richtung der Skits ein dauerhaftes und ernstzunehmendes Phänomen innerhalb des Mönchswesens, also auch der Kirche, und hatte auch nach Nil Sorskijs Tod einige aktive Vertreter, die sich speziell in der Frage des Kirchengrundbesitzes kirchenrechtliche und moralische Dispute mit den so genannten Josifljanern der Machtkirche lieferten. Die Frage des kirchlichen Grundbesitzes, an dem ja auch die Großfürsten großes Interesse hatten, war schließlich die entscheidende. Auf einer Synode im Jahre 1503 wurde sie zugunsten der Machtkirche entschieden und der Großfürst von Moskau Ivan III. (Vater Ivan des IV.) lieh der Kirche seinen starken Arm zur blutigen Verfolgung der Häretiker. Das Reformwerk der Josifljaner schien sich nun zu vollenden, der Staat unterstand einem gottesfürchtigen und kirchenhörigen Monarchen. Dem Moskauer Großfürsten sollte nun auch die Kaiserkrone nicht verwehrt werden. Dennoch sollte erst Ivans III. Sohn, Ivan IV. der Schreckliche, zum Zaren gekrönt werden. Die entsprechende Theorie – nämlich die vom Dritten Rom – lieferte aber bereits zu Zeiten Ivans III. ein Mönch namens Filofej aus Pskov. Entsprechende Legenden, die neben der Rechtsnachfolge durch die behauptete Übersendung kaiserlicher Insignien aus Byzanz sogar eine Abstammung aus den Linien der Kaiser des Ersten Roms behaupteten, flankierten das Ganze. Daneben wurde auch in der Folge der kirchenschriftliche Kanon systematisch im Sinne der Legitimierung und Umsetzung der Theorie vom Dritten Rom ausgebaut. Verantwortlich dafür zeichnete wiederum der josifljanische Metropolit Makarij (1542 – 1563), unter dessen Anleitung der junge Ivan IV., der in diese Situation hineingeboren wird, in machtkirchlichem Sinne erzogen wurde. Das mit Makarijs Tod entstandene Vakuum sollten seine Nachfolger dann nicht mehr füllen können, zu stark war dann Ivan IV., Selbstherrscher und selbsternannter oberster Diener Gottes.
Das ist also der kirchengeschichtliche und historische Hintergrund, vor dem sich die Begegnung von Ivan IV. und Filip, der wohl eher der Richtung des Nil Sorskij zuzurechnen ist, abspielt und die ja die Haupterzählung des Filmes ist. Die Handlung spielt zudem in Ivans „böser“ Zeit, nach den Reformen, also nach der Errichtung der absolutistischen Macht, und nach der Einrichtung der Opričnina. Was hätte das also für ein Stoff sein können, wenn dieser Filip als Figur etwas von diesen innerkirchlichen Auseinandersetzungen im Hintergrund gehabt hätte, wenn beide nicht nur der Gute und der Böse, sondern Protagonisten grundverschiedener Glaubens-, Macht- und Gesellschaftsverständnisse, kurz gegensätzlicher ideologischer Systeme wären und Filip selbst auch den nötigen Spagat zwischen seinem Machtanspruch und seiner religiösen Innerlichkeit hätte zeigen dürfen!
Aber nichts dergleichen in diesem Film, nur die zeitlose und immer gleiche Begegnung von Gut und Böse. Alle Geschichtlichkeit wird ausgeblendet, sie darf sich auf das Setting, die Ausstattung zurückziehen und verkommt zum pseudohistorischen Rahmen, der mittels der Authentizität von Gold, Schmutz und Folklore historiografische Glaubwürdigkeit darstellen soll. Auch die Figuren sind alle mit Ausnahme von Mamonovs Ivan platt und klischeebeladen: von den bösen und natürlich hässlichen Opričniki über die biederen, wohlfrisierten und wackeren blonden Recken des Landadels, die in patriotischer Gesinnung das Land gegen die Polen verteidigen, oder Ivans Frau, eine not- und gewaltgeile Hexe, quasi die Furie der Opričina, bis hin zu Filip, der von einer solch makellosen Rechtschaffenheit ist, dass man es kaum aushält. An der Eindimensionalität Filips ändert auch die darstellerische Leistung des im Mai letzten Jahres (2008) verstorbenen Oleg Jankovskji wenig. Sein Filip ist warmherzig, klug, moralisch, bescheiden (und er hat selbstverständlich noch alle Zähne im Mund), aber wir erfahren über ihn nichts, außer dass er gut ist. Weder wissen wir, warum er nach Moskau kommt, wo er dem Drehbuch gemäß Ivan begegnet, noch welche Rolle er überhaupt in Staat und Kirche spielt. Auch erfahren die Zuschauer_innen nichts über seine Vorgänger im Metropolitenamt unter Ivan IV., von denen der eine nach einem Jahr resignierte und der andere sofort, nachdem er die Abschaffung der Opričnina gefordert hatte, verjagt wurde.
Auch bleibt das Verhältnis zwischen Ivan und Filip absolut rätselhaft. Im Film begegnen sie sich zum ersten Mal zufällig auf einer Brücke (an dieser Szene und den unmittelbar folgenden kann man übrigens sehr anschaulich nachvollziehen, was man mit dem Wechsel von Groß- und Nahaufnahme, Countershot und Schnittrhythmus alles falsch machen kann). Unvermittelt trägt Ivan Filip an, „sein“ Metropolit in Moskau zu werden. Die beiden scheinen dabei vertraut, als wären sie alte Freunde, aber man weiß nicht warum. Es kommt zu weiteren Begegnungen, immer geht es um die gleiche Frage, bis Filip schließlich doch Metropolit wird. Letztlich strukturiert sich die Erzählung des Films ganz im Sinne einer Heiligen-Vita an den wichtigen Lebenstationen Filips innerhalb des erzählten Zeitabschnitts: von den ersten Begegnungen mit Ivan, das Ablehnen und Annehmen des Metropolitenamts, die Schutzgewährung für jene bereits erwähnten patriotischen Recken, die nach der Niederlage gegen die Polen Ivans Zorn zu fürchten haben, über die Verweigerung, Ivan den Segen zu erteilen, bis zur Gefangenschaft im Kloster und Ermordung durch den Obersten der Opričniki. Auch fehlt es dabei nicht an Wundern: von einer Ikone, die den Verlauf einer Schlacht entscheidet über die wundersame Sprengung der Ketten, in die man Filip im Klosterkerker gelegt hat, bis zur Sehendmachung von Blinden ist alles dabei.
Zwischen diesen Stationen wird Ivan ausführlich als der Böse gezeigt, es ist ja auch seine spätere, düstere Zeit. Dabei gewinnt die Figur sogar unverhofft an Tiefe. In den Momenten des Zweifels – in seiner Innenpolitik stützt sich Ivan nur noch auf Gewalt und Terror, seine Außenpolitik ist katastrophal – vollzieht sich an Ivan selbst die Logik des von ihm geschaffenen Monsters. Die Opričniki sind selbst eine Macht im Staate geworden, die nun auch ihrem Erschaffer und obersten Gebieter zusetzt. Er wird geradezu gezwungen, weiterhin der „Schreckliche“ zu sein. Am Ende, nach all den Schreckenstaten (inklusive einer Kirchenverbrennung samt Insassen durch seine Opričniki) und schließlich der Ermordung Filips, seines wandelnden schlechten Gewissens, ist er wortwörtlich ein von allen guten Geistern Verlassener: Er lässt sich nächtlich auf die Straßen Moskaus tragen und ruft nach seinem Volke. Aber niemand kommt, er bleibt allein, einzig umgeben von seinen Getreuen, den Opričniki. Ende des Filmes.
Und da komme ich am Ende doch noch ins Grübeln – ist dies einsame Ende Ivans nun der kleine Wink, der kritische Fingerzeig für die heute Mächtigen, den ich so schmerzlich vermisst und die ganzen zwei Stunden dieses Filmes lang erwartet habe? Vielleicht. Aber was soll er letztlich bedeuten? Passt auf, dass Euch das Volk nicht davonläuft? Letztlich hat der Film ja auch noch eine andere klare Botschaft, nämlich wo das Volk hinlaufen soll: in die Kirche.
Während nämlich bei Ostrov der Verkehrtheit der Welt die scheinbare Verrücktheit intensiven Glaubenserlebens entgegengehalten wird, die sich in Wahrheit und in Demut eins weiß mit Gott und der Welt, so wird uns in Car’ durch die Figur Ivans die teuflische Gefahr der Selbstüberhöhung, die Sünde der Hybris, des Abfalls vom wahren Glauben, der Demut und Treue zum wirklichen Herrscher der Welt, vorgeführt. Ivan interessiert nur als die Verkörperung dieser teuflischen Versuchung. Ihm wird der Heilige Filip gegenübergestellt, der sogar den Märtyrertod stirbt und stets als Vertreter der Kirche das an und für sich Gute im Menschen verkörpert, was den einzigen Schluss zulässt, dass diese rechtgläubige nationale russische Kirche schon immer auf Seiten des an und für sich Guten stand – in gehörigem Abstand zur weltlichen Macht natürlich (auch wenn man sich mit der auch einigen kann, wie die heutige Zeit zeigt, sie muss nur gottesfürchtig und rechtgläubig genug sein, um z.B. den kirchlichen Grundbesitz zurückzugeben oder steuerliche Begünstigungen für kirchliche Handelsfirmen und andere wirtschaftliche Betätigungen zu gewähren). Soweit meines Erachtens das inhaltliche Konzept von Car‘.
Aber es geht so glatt nicht auf. Zu vielschichtig ist dieser Ivan, zu platt sein Gegenpart, zu unschlüssig der Plot bei der Konzentration auf das, was erzählt werden soll. Interessant ist zudem, dass Ivan und der kohleverschmierte Eremit aus Ostrov sich gar nicht so unähnlich sind. Das mag nun jeder interpretieren, wie er will. Das Anstößige an beiden Filmen ist aber ihr unverhohlenes Plädoyer für das, was man den minimalen und damit fast schon fundamentalistischen russisch-orthodoxen Grundkonsens nennen könnte: Seid brav, vertraut in Gott und in seine in seinem Lichte wandelnden Vertreter auf Erden! Und macht Euch nicht allzu viele Gedanken, auch keine religiös-theologischen, geht lieber beten! Achtung Religion! – möchte man da allenthalben ausrufen. Denn Religion soll auch im heutigen Russland wieder „Opium des Volkes“ sein, oder wie ein schlauer Russe mir einmal in den Neunzigern sagte: Wir bauen Kirchen um für Häuser zu beten.