Herbarien aus Zelluloid
„Gesammelte“ Werke der Petersburger Künstlerin Inna Pozina
Seit den 90er Jahren hat sich die Gegend stark verändert. Nur noch vereinzelte Holzhäuschen stehen da inmitten von Neubauten aus den 90er Jahren und Einfamilienhäusern, die von Überwachungskameras und Metallzäunen abgeschirmt werden. In dieser seltsamen Mischung aus Neubauten- und Neureichensiedlung bildet das Haus der Pozins, umgeben von einem Skulpturengarten, eine eigenwillige Oase – und einen gefährdeten Raum. Die Pozins rechnen damit, ihr Häuschen bald verlassen und einem Neubau weichen zu müssen. Jeder Tag sei ein Kampf. Viele Leute könnten nicht verstehen, weshalb es einen solchen Bereich braucht, der Künstlern und Skulpturen Raum bietet, mit dem kein Geld verdient werden kann. Nach weiterer Erläuterung verstand ich auch den ersten Teil des Ausspruchs. Das komme aus dem Französischen. Also: „à la guerre – Kolomjager!“
Im Haus selbst ist nichts zu merken von dieser raumgreifenden Gefährdung. Das einfache Holzhaus, in dem die 26jährige Inna jetzt alleine mit Hund und Katze lebt, dient zugleich als Atelier und Wohnraum. Die Eltern sind vor einiger Zeit zwei Strassen weitergezogen, nutzen aber noch die Werkstatt im Garten. Das Haus ist liebevoll eingerichtet. Jeder Gegenstand ist ein kleines Kunstwerk.
Laut Inna funktioniert der Künstler wie ein Spiegel. Er fängt ein Bild ein und gibt es dann als Abbild weiter. Das Mittel und die Art der Abbildung wählt jeder selber aus. Inna wurde in eine Künstlerfamilie hineingeboren. Das hat sie geprägt: „Wenn du daran gewöhnt bist, das, was dich umgibt genau zu beobachten und in Kunst umzusetzen, entsteht letztlich eine innere Notwendigkeit, darauf zu reagieren, was du siehst.“ Sie habe ihren Beruf nicht eigentlich gewählt. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, etwas anderes als Kunst zu machen.
In ihrem neusten Film hat sich Inna auf die Suche gemacht. V poiskach sčast´ja (Auf der Suche nach dem Glück) von 2006 war zunächst als Dokumentationsfilm über die Petersburger Band Nervenklinik gedacht. Diese plante eine Reise nach Deutschland, um dort ihr Glück zu versuchen. Die Tournee scheiterte und die „Suche“ erfuhr eine Wendung. Inna ging es darum, das zu zeigen, was ein Künstler durchmacht. Kunst ist für Inna nicht der Prozess, schöne Sachen herzustellen, sondern eine Sinnsuche. „Plötzlich siehst du den Sinn, nimmst ihn, machst etwas daraus und zeigst ihn. Manchmal ist man alleine auf der Suche und weiß überhaupt nicht, wohin es gehen soll.“ Das sei die wahre Kunst des Künstlers, weitergehen zu können, ohne zu wissen, ob sich etwas daraus ergibt.
Viele von Innas Freunden, die lange Zeit im Ausland gelebt haben, vor allem in Berlin, kehren nach Piter zurück. Dort vermuten sie mehr Freiräume und Möglichkeiten, künstlerisch tätig zu sein, obwohl der Kunstmarkt in Russland schlecht funktioniere und sich weniger Leute professionell mit Kunst beschäftigten. Viele Leute seien zu sehr mit dem eigenen Überleben beschäftigt, als dass sie sich für Kunst interessieren könnten. Inna lacht: Kunst sei etwas für Reiche oder für Kranke, die ohne sie nicht leben können.
Immer wieder korrigiert sie sich während des Gesprächs und relativiert ihre Einschätzungen. Sie wolle nicht sagen, dass in Russland alles schlecht sei. Es sehe nicht so düster aus, wie sie das schildere. Es komme ihr vor, als ob die Zeit des Stillstands vorbei sei, als ob etwas Neues entstehen würde. Es gäbe einige interessante Projekte und Ausstellungen.
Im September wurden im Muzej gorodskoj skulptury, Sankt-Peterburg (Städtisches Skulpturenmuseum, Sankt Petersburg) in der Ausstellung Sessja molodogo iskusstva (Ausstellung junger Kunst) Werke von ungefähr vierzig jungen, meist unbekannten Künstlern gezeigt, darunter auch zwei Arbeiten von Inna Pozina. So etwas habe es bisher in einem staatlichen Museum noch nie gegeben. Da habe sie gemerkt, dass es auch andere Menschen gebe, die sich mit vergleichbaren Fragen beschäftigen. „Und das nicht um Geld zu verdienen, sondern weil sie einfach auch darauf reagieren müssen, was sie sehen. Für wen das nützlich sein soll, das ist eine andere Frage.“ Die bunt gemischte Ausstellung war in zwei Räumen und außerdem im Hinterhof unter freiem Himmel untergebracht. Ein einheitliches Thema war nicht vorgegeben. Trotzdem tauchten auffällig oft verspielte Kindheitsmotive auf. Beispielsweise Glasmalereien in Form von Mädchenkleidern, in deren Taschen sich alte Busfahrkarten und gepresste Blumen befinden.
Ihre eigenen Werke und diejenigen anderer junger Künstler sieht Inna als Antwort auf den Konzeptualismus. Dem künstlerischen Handwerk werde wieder mehr Beachtung geschenkt. Während eine Zeit lang sich die Kunst vom Gegenstand entfernte und gezeigt wurde, dass Kunst aus beliebigen Materialien geschaffen werden könne, so sei heutzutage eine Rückkehr zum Material und zum Handwerk auszumachen.
Innas Ausstellungsbeitrag war an ein Projekt geknüpft, das sie in einer Psychiatrie mit Patienten durchgeführt hatte. Im Rahmen ihrer dortigen Tätigkeit als Maltherapeutin hat sie Farbstiftzeichnungen der Patienten zuZeichentrickfilmen zusammen geschnitten und mit Musik unterlegt. In den kurzen Sequenzen verstrickt sich beispielsweise eine Katze immer mehr mit einem Wollknäuel, bis sie ganz darin verschwindet. Oder ein Hund fängt plötzlich an, mit der Sonne zu tanzen.
Zweimal in der Woche unterrichtet Inna ihre Patienten und malt und bastelt mit ihnen. Diese Arbeit versteht Inna ebenfalls als Sinnsuche. „Wenn du Künstler bist, dreht sich oft alles um dich selbst. Durch diese Arbeit kann ich den Zugang zu Leuten finden. Diese wiederum können den Zugang zur Kunst finden.“
Von der Kunst kann Inna Pozina nicht leben. Neben ihrer Tätigkeit im Krankenhaus muss sie oft Auftragsarbeiten übernehmen. Sie macht bei Design-Projekten mit. Für einen Kindergarten hat sie eine Plüschspielecke und übergroße Hausschuhe entworfen, in die nicht bloß ein Kinderfuß, sondern ein ganzes Kind passt. Ab und zu erhält sie, wie auch ihre Eltern, Aufträge von Neureichen, die beispielsweise riesige Löwen aus Marmor für ihr Anwesen anfertigen lassen. Häufig muss sie Hochzeits- oder Kinderfeste auf Video aufnehmen. Die aufwändigen Hochzeitsfeiern mag sie nicht. Sie ist froh, wenn sie sich hinter der Kamera verstecken kann und so eine Außenstehende bleibt, die das Geschehen auf dem kleinen Display der Digitalkamera mitverfolgt. Und sie ist froh, wenn sie wieder in ihr Haus zurückkehren kann, wo sie die Erinnerungsfilme zusammen schneidet und mit passender Musik unterlegt. Es bedeutet für sie eine Herausforderung aus dem Gefilmten etwas Kunstvolles zu schaffen.
Wie Inna und ihre Familie leben auch andere Künstler in der Siedlung. In den benachbarten Orten Kolomjagi – Ozerki – Šuvalovo befinden sich weitere Holzhäuser, deren Bewohner sich zur künstlerischen Vereinigung Ozerki zusammengeschlossen haben. Außerdem entstand Anfang 2001 das Projekt Derevnija chudožnikov (Künstlerdörfer), das die Häuser und Werkstätten als kulturelle Zentren jenseits von Museen und Galerien vereinigt. In den alten Häusern wird neue Kunst geschaffen: Maler, Schriftsteller, Fotografen, Filmemacher, Bildhauer, Ikonenmaler, Töpferer, Modedesigner arbeiten in den unterschiedlichen Ateliers. Einige vereinen mehrere Kunstgattungen. So ist gerade der Erzählband Razgovor c Repinym (Gespräch mit Repin) von Lev Smorgon erschienen, Innas Grossvater. Im September fand in der Novosel’skaja ulica 16, unweit von Innas Zuhause, eine Lesung des literarisch-künstlerischen Gemeinschaftswerks Leti-leti, lepestok! (Flieg-flieg, Blütenblatt!) von Elena Garaeva und Ol’ga Sorokina statt. Dem Band sind Illustrationskarten von Gavril Lubin beigelegt. Im Haus in der Novosel’skaja ulica, umgeben von seltsamen Siedlungen, die an deutsche Vororte erinnern, befindet sich die nichtkommerzielle Galerie Sel´skaja žizn´ (Dorfleben) mit einer gleichnamigen literarisch-künstlerischen Zeitschrift und ein kleiner Kinosaal für experimentelle Filme. Hier wurden auch Innas Filme gezeigt und einige ihrer Objekte ausgestellt. Man hilft und unterstützt sich gegenseitig.
Nicht ein einheitlicher Stil oder eine gemeinsame Ideologie verbindet die Künstler des Künstlerdorfes, sondern vielmehr die geographische Nähe sowie die Vorliebe, die unmittelbare Umgebung als Ausstellungsraum zu nutzen. Die landšaft wird zum Kriterium, an dem die Kunst gemessen werden soll. Für die Künstler ist das wichtig, da durch die häufige Arbeit am Computer und vor Fernsehbildschirmen das räumliche Denken verloren gehe. Deswegen hat die Gruppe zusammen mit der Petersburger Kunstakademie Seminare für Studenten ausgearbeitet. Außerdem finden regelmäßig Symposien, Aktionen, Ausstellungen und Feste unter freiem Himmel statt. Zur Sommersonnenwende beispielsweise verwandeln sich die Suzdal´skie ozera (Suzdaler Seen) und ihre Ufer in einen Ausstellungsraum. Aus den geschlossenen Sälen der Galerien und Museen herausgeholt, werden den Zuschauern die Objekte auf Booten und Flossen präsentiert. Auch in der Ausstellung Mimikrija von 2004 wurde die Natur direkt für die Präsentation der Exponate genutzt. Künstler mussten ihre Arbeiten dem Prinzip der Mimikry entsprechend ausstellen. Aufgabe des Zuschauers war es, die Objekte auf Bäumen, in Blumentöpfen, neben Holzstapeln zu finden und zu entscheiden, ob es sich dabei um Kunst handelt oder nicht. Es ist ein besonderes Anliegen des „Künstlerdorfes“ auch die Anwohner aus den Neubautensiedlungen in die Aktivitäten einzubeziehen. Während des Festival´ masterskich (Werkstättenfestival) werden eine Woche lang die Werkstätten für Freunde, Gäste und Nachbarn geöffnet.
Garaeva, Elena/ Marina, Olg’a: Leti-leti, lepestok! Sankt-Peterburg 2006.
Larina, Tat’jana (Hg.): Sdelano v Kolomjakach. Pozin. Spivak. Raboty razniych let. Sankt-Peterburg 2004. [Ausstellungskatalog zur Ausstellung in der Manež.]
Nikolaenko T./ Baev E.: Derevnija chudožnikov. Sankt-Peterburg 2006. [In dem Katalog werden die einzelnen Häuser und Künstler des Derevnija chudožnikov vorgestellt.]
Smorgon, Lev: Razgovor s Repinym. Sankt-Peterburg 2006.