Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Aus­gangs­punkte für eine neue Rea­lität: Inter­view mit Kateryna Miščenko

Kateryna Miščenko [Kateryna Mish­chenko]: ukrai­ni­sche Autorin, Über­set­zerin und Kura­torin. Dem deutsch­spra­chigen Publikum ist sie beson­ders durch ihre im Suhr­kamp-Verlag erschienen Essays zum Thema der Majdan-Pro­teste, der Anne­xion der Krim und dem Krieg im Don­bass bekannt. Dar­über hinaus hat sie die Lite­ra­tur­zeit­schrift “Pro­story” her­aus­ge­geben, ist Mit­be­grün­derin des Ver­lags “Medusa” und hat gemeinsam mit Miron Zownir “Ukraïns‘ka nič” (engl. Ukrai­nian Night) ver­öf­fent­licht, einen Bild­band, in dem Zow­nirs ein­drück­liche Auf­nahmen der Schat­ten­seiten von ihren essay­is­ti­schen Texten begleitet werden. Von Oktober bis Dezember 2018 war sie zu Gast am Leibniz-Zen­trum für Lite­ratur- und Kul­tur­for­schung und arbei­tete als Fellow des inter­dis­zi­pli­nären For­schungs­ver­bands „Prisma Ukraïna“ an einem eigenen Pro­jekt zu poli­ti­schen Ima­gi­na­tionen der Insel. Über das Uto­pi­sche von Insel­fi­guren, die ukrai­ni­sche Kul­tur­land­schaft und die poli­ti­sche Rele­vanz des Majdans sprach “novinki” mit Kateryna Miščenko wäh­rend der METRO-Tagung „Wör­ter­buch des Wan­dels“ der Bun­des­zen­trale für poli­ti­sche Bil­dung (bpb) am 01.12.2018.

 

novinki: Die Majdan-Pro­teste liegen mitt­ler­weile über fünf Jahre zurück. Hier in Berlin findet momentan eine große Anzahl von Ver­an­stal­tungen statt, die die Ereig­nisse Revue pas­sieren lassen und zu ver­ar­beiten zu ver­su­chen, wie z.B. die heu­tige Tagung der Bun­des­zen­trale für poli­ti­sche Bil­dung. Ist das nur noch etwas für Historiker_innen oder wirkt der Majdan heute noch in der Ukraine und in Europa nach?

 

Kateryna Miščenko: Das ist eine inter­es­sante Frage, denn vom Majdan ist eigent­lich fast gar nichts mehr zu spüren. Natür­lich gibt es wei­terhin Dis­kus­sionen über den Majdan, Jah­res­tage und Ver­an­stal­tungen, und das in unter­schied­li­chen Formen. Aber jetzt hält der Krieg die öffent­liche Auf­merk­sam­keit in der Ukraine, aber auch inter­na­tional ganz besetzt. Wor­über spre­chen wir heute? Wir spre­chen über den Krieg, über das Kriegs­recht in zehn Regionen der Ukraine. Zum fünften Jah­restag des Beginns der Pro­teste gab es eine Ver­an­stal­tung der Hein­rich-Böll-Stif­tung hier in Berlin. Heute – fünf Jahre nach dem Majdan – saß mit Mus­tafa Nayem eine der zen­tralen Figuren des Majdan auf dem Podium. Ich fand sehr sym­bo­lisch, dass er dort sagte: „We have a mar­tial law.“ – Wir haben Kriegs­recht und das ist die Situa­tion heute. Der Majdan exis­tiert jetzt größ­ten­teils – oder sogar nur noch – in unserer Ima­gi­na­tion. Wenn wir in der Rea­lität nicht mehr viele Spuren davon sehen, wenn sich auch im städ­ti­schen und im medialen Raum alles ver­än­dert hat, dann bleibt nur die Erin­ne­rung… und sehr viele Fragen: Was machen wir jetzt mit dieser Erfah­rung von damals? Das ist meiner Mei­nung nach auch eine Fra­ge­stel­lung, die bei der heu­tigen Kon­fe­renz im Raum steht. In diesem Sinne kann man über den Majdan wirk­lich nur per­for­mativ spre­chen: immer wieder eine Ver­sion der dama­ligen Gescheh­nisse anbieten, die für die heu­tige gegen­re­vo­lu­tio­näre Situa­tion appli­kabel sein kann. Das ist für mich etwas, das vom Majdan bleiben kann – ich meine kein Ree­nact­ment, nicht wieder auf die Straßen zu gehen. Son­dern wirk­lich zu über­legen, was die Stärken waren, was die Sub­stanz dieses Pro­testes war und ob das heute über­haupt in Anspruch genommen werden kann für eine neue Initia­tive, für eine neue Gemein­schaft, oder auch für die Refle­xion aktu­eller Ereig­nisse. Mit diesen Instru­menten kann man unter­schied­liche Auf­gaben erfüllen. Aller­dings ist das auch eine harte Arbeit, denn wir befinden uns jetzt in einer ganz anderen Kon­stel­la­tion als damals, sowohl global, all­ge­mein euro­pä­isch, als auch lokal. Und der Majdan war auch eine Art Grenz­linie. Jemand hat es Ground Zero genannt. Das war wirk­lich der Aus­gangs­punkt für eine ganz neue Rea­lität. Eine, in der auch Gewalt nicht mehr so tabui­siert ist wie früher, in der auch der Pro­zess der Macht­über­nahme noch schwie­riger geworden ist als zuvor. Der Krieg, die Anne­xion… es ist so viel pas­siert, dass kein Weg zurück mehr mög­lich ist. Des­wegen haben wir keine andere Wahl, als in die Zukunft zu schauen.

Gleich­zeitig gibt es eine gewisse Sakra­li­sie­rung der Ereig­nisse des Majdan, auch wenn der Begriff viel­leicht zu stark ist – eine ver­stei­nerte Auf­fas­sung. Für die Zukunft stünden bes­ten­falls refor­mis­ti­sche Nar­ra­tive bereit, aber nichts, was wirk­lich eman­zi­pativ klingt oder wirkt. Das ist mein Ein­druck. Aber wie gesagt: Wir kommen mit der jüngsten Ver­gan­gen­heit über­haupt nicht klar. Des­halb glaube ich, die Auf­gabe, den Majdan in einem eman­zi­pa­tiven Sinne neu zu inter­pre­tieren, wäre etwas sehr Ambi­tio­niertes. Und das ist heute meiner Mei­nung nach in der Ukraine nicht möglich.

 

n.: Dabei hältst du, wenn ich dich richtig ver­stehe, gerade in einer sol­chen Situa­tion Refle­xion im öffent­li­chen Dis­kurs für beson­ders wichtig. Du bist Über­set­zerin, Her­aus­ge­berin und Autorin – und bei all dem gewinnt man den Ein­druck, dass du aus einem gewissen Bewusst­sein der Not­wen­dig­keit heraus veröffentlichst…

 

K.M.: Ja, das stimmt. Bei uns gibt es den Begriff ‚Kul­tur­ak­ti­vismus‘. Und dahinter steht nicht nur die Pre­ka­rität der Men­schen, die sich damit befassen, son­dern auch die Geste oder Inten­tion, mit der eigenen Arbeit wirk­lich einen Bei­trag zu leisten. Natür­lich, jetzt, wo ich keine zwanzig Jahre mehr alt bin, möchte ich nicht nur mit Blick auf die Öffent­lich­keit arbeiten, son­dern auch etwas für mich behalten, zu etwas arbeiten, das mich inter­es­siert. Ich meine damit die Themen, die ich behandle, und die Art und Weise, wie ich das mache. Und da ori­en­tiere ich mich nicht an der Leser­schaft. Im Gegen­satz zu vielen Initia­tiven oder auch den meisten ukrai­ni­schen Medien möchte ich die Dinge nicht ver­ein­fa­chen, damit sie zugäng­li­cher werden. Ich bin mir sicher, dass auch kom­plexe Themen zugäng­lich sein können. Und das ist es eben, was mich inter­es­siert. Wir sind in der Ukraine in einer wirk­lich sehr schwie­rigen Lage. Das betrifft nicht nur den Krieg oder die öko­no­mi­sche Situa­tion. Diese Armut, die in der Ukraine so prä­sent ist, betrifft auch die Bil­dung, die Fähig­keit zu reflek­tieren. In unter­schied­li­chen Berei­chen sind ukrai­ni­sche Men­schen wirk­lich arm. Sie haben nur ganz wenige Instru­mente, um mit der Rea­lität klar zu kommen. Vor allem mit der, in der sie sich heute befinden. Und ja, des­halb kann ein Buch in der Ukraine eine viel grö­ßere Rolle spielen als ein Buch hier. In der Ukraine erscheinen im Jahr viel­leicht drei­tau­send Titel. Ich weiß nicht, wie viele es in Deutsch­land sind – viel­leicht Dut­zende tau­send Bücher. Vieles wird nicht ins Ukrai­ni­sche über­setzt, vieles nicht publi­ziert; Bücher, über die man in anderen Län­dern dis­ku­tiert, sind bei uns über­haupt nicht bekannt. Hier in Deutsch­land sehe ich so viele Bücher, die für die Ukraine über­setzt werden sollten. Aber wer wird das machen? Dafür gibt es ein­fach keine Infra­struktur. Des­halb mache ich das, was in meiner Kom­pe­tenz liegt und was ich auch schaffen kann, um diese Situa­tion zu ver­bes­sern und auch, um die Bücher als Aus­sagen im öffent­li­chen Dis­kurs stehen zu lassen. Was aller­dings gerade nicht unbe­dingt gefragt ist in der Ukraine. Bei uns sind jetzt Bücher als Kunst­ob­jekte in Mode, was wie­derum viel mit Kon­sum­ver­halten zu tun hat und mit einem Waren­fe­ti­schismus, den ich schwierig finde. Der Inhalt der Bücher steht dabei nicht im Vor­der­grund – auch in meiner Gene­ra­tion nicht. Aber ich glaube, daran müsste man arbeiten.

 

n.: Welche Bücher braucht es denn? Oder um etwas kon­kreter zu werden: Du hast vor nicht allzu langer Zeit unter dem Titel Ruch­lyvyj pro­stir (dt. „Raum in Bewe­gung“) einen Band von Über­set­zungen ver­schie­dener Texte der Raum­theorie her­aus­ge­bracht. Worin besteht die Not­wen­dig­keit, diese Werke jetzt zu lesen?

 

K.M.: Ich denke, dass Raum ein Begriff ist, der für die Inter­pre­ta­tion der heu­tigen Gescheh­nisse sehr pro­duktiv und sehr wichtig sein kann – sei es in Bezug auf die Krim oder die Kriegs­ge­biete, sei es der städ­ti­sche Raum oder auch innere Räume. All diese Facetten oder Dimen­sionen des Räum­li­chen ver­än­dern sich heute in der Ukraine stark und spielen natür­lich eine ganz wich­tige Rolle für die Men­schen im Land. Des­halb hat es wirk­lich eine große soziale und poli­ti­sche Bedeu­tung, heute über den Raum zu spre­chen. Natür­lich ist unser Sam­mel­band auch dadurch aktuell, dass viele Texte zum ersten Mal ins Ukrai­ni­sche über­setzt werden. Bei­spiels­weise Autoren wie de Cer­teau – das ist seine erste Über­set­zung ins Ukrai­ni­sche! Es ist allein aus der geis­tes­wis­sen­schaft­li­chen Per­spek­tive ein­fach wichtig, auch unab­hängig von Geschichte und Politik.

Ich denke auch, dass dieses Buch dadurch, dass es eine Antho­logie der ver­schie­densten Texte und Ansätze ist, sehr unter­schied­lich wirken kann, je nachdem, in wel­chen Kreisen es gelesen wird. Urba­nisten und Urba­nis­tinnen finden etwas für sich, Künstler und Künst­le­rinnen auch. Zeit­ge­nös­si­sche Kunst hat immer phi­lo­so­phi­sche und theo­re­ti­sche Hin­ter­gründe und die jün­gere Gene­ra­tion in der Ukraine ist sehr inter­es­siert daran. Des­halb ist es für sie auch ein wich­tiges Buch und wie­derum auch eine wich­tige Aus­wahl von Texten. Es gibt darin einen Auszug aus Any­where Or Not at All, einem Buch zur Phi­lo­so­phie der zeit­ge­nös­si­schen Kunst von Peter Osborne. Wir haben ein Kapitel über den Raum der Kunst aufgenommen.

Ich denke dabei auch an die ukrai­ni­schen Gesell­schafts- oder Kul­tur­kreise, die etwas anders funk­tio­nieren als in Deutsch­land. In Deutsch­land gibt es sehr viele pro­fes­sio­na­li­sierte the­ma­ti­sche Nischen und Inter­es­sen­gruppen. Zum Bei­spiel gibt es Ost­eu­ropa-Fach­kräfte, die bei sol­chen Ver­an­stal­tungen wie der heu­tigen immer dabei sind. Alles ist sehr nuan­ciert und gleich­zeitig kommen die unter­schied­li­chen Gruppen oft nicht zusammen. Bei uns in der Ukraine ist es eher ein Kessel, in dem alle auf ein­ander treffen: Aktivistinn_innen, Wissenschaftler_innen, Künstler_innen, Feminist_innen, Kulturwissenschaftler_innen, Kulturmanager_innen – alle kennen ein­ander. Kyiv ist in diesem Sinne keine sehr große Stadt und so wirken solche Bücher wie diese Raum­an­tho­logie oder auch die Gender-Antho­logie, die ich zusammen mit Susanne Strät­ling her­aus­ge­geben habe, oder selbst unser Book of Kyiv oder das Lese­buch der zweiten Bien­nale – es sind in allen Fällen Texte, die unter­schied­liche Leute anspre­chen und gleich­zeitig in einem Buch ver­eint sind. Das reprä­sen­tiert auch sehr gut unsere Kul­tur­land­schaft, die so divers ist, aber auch so kom­pakt und immer im Aus­tausch miteinander.

 

n.: Neben dem Ruf nach Refle­xion im Text­format hast Du an vielen Stellen mit Pho­to­gra­phien gear­beitet. Du hast sie – wie zum Bei­spiel im Buch Ukraïns‘ka nič („Ukrai­nian Night“) – mit Deinen Texten begleitet und Dich mit der Visua­lität von Gesell­schaft und aktu­ellen poli­ti­schen Ereig­nissen beschäf­tigt. Wie ver­hält sich das Inter­esse an Pho­to­gra­phie zum Ruf nach kom­plexen Texten?

 

K.M.: Das ist in meinem Fall eine pri­vate Geschichte. Ich fühle mich nicht kom­pe­tent genug, um theo­re­tisch zu begründen, warum das Visu­elle heute eher domi­niert als das Tex­tu­elle. Dazu gibt es andere Leute, andere Texte. Ich glaube, durch die Ver­än­de­rung der Medien hat sich ergeben, dass wir visuell mehr wahr­nehmen, mehr kon­su­mieren als auf der Text­ebene. Und wenn wir Texte lesen, ist es oft nicht so wie früher. Für mich als Über­set­zerin ist nicht nur an der Pho­to­grafie, son­dern auch an der Kunst inter­es­sant, dass es sich um eine ganz andere Sprache han­delt. Das ist ein ganz anderer Umgang mit Raum, diese Drei- oder Vier­di­men­sio­na­lität, die in der Lite­ratur, im Text ganz anders funk­tio­niert. Des­halb fas­zi­niert mich, was pas­siert, wenn diese ver­schie­denen Spra­chen kom­bi­niert werden. Ich bin auch ein großer Fan von Trans­gat­tungen, von Inter­dis­zi­pli­na­rität, von allem ‘dazwi­schen’. Ich lese einen Text von Alex­ander Kluge und bin begeis­tert: Der Text… das ist kein Doku­ment! Klar kann man sagen, das ist immer Lite­ratur, immer Kunst. Aber da ist noch etwas, von dem man nicht genau weiß, woher es kommt oder wie es funk­tio­niert. Etwas, bei dem ganz ver­schie­dene Arten der Rea­li­täts­wahr­neh­mung zusam­men­kommen. In diesem Sinne finde ich auch die zeit­ge­nös­si­sche Kunst, die alles inte­griert, groß­artig: Es gibt starke phi­lo­so­phi­sche Kon­zepte, es gibt die ästhe­ti­sche Ebene, es gibt etwas Poli­ti­sches, es kann auch etwas Poe­ti­sches dabei sein. Das fas­zi­niert mich.

Viel­leicht ist dieses ‚Dazwi­schen‘, dieser Drang, alles abzu­de­cken und sich in alle Rich­tungen ori­en­tieren zu wollen, sym­pto­ma­tisch für mich und auch für den gesamten ukrai­ni­schen Kon­text, in dem nicht so nuan­ciert gear­beitet wird. Für jemanden unserer Gene­ra­tion ist es schwierig, sich zu finden. Wenn man intel­lek­tuell arbeiten möchte – im Kul­tur­be­reich zum Bei­spiel –, gibt es in der Ukraine ein­fach keine Insti­tu­tionen, die das mög­lich machen. Es gibt die Alter­na­tive, weg­zu­fahren und, so wie ich, für ein paar Monate ein Sti­pen­dium zu erhalten, das es einem ermög­licht, an den nächsten Pro­jekten für Kyiv wei­ter­zu­ar­beiten, oder man geht in die Medien. Es gibt wirk­lich keinen Platz für Leute wie mich, des­halb ist wahr­schein­lich auch diese Trans­dis­zi­pli­na­rität etwa Erzwun­genes. Man hat keine Mög­lich­keit, etwas Sta­biles zu ent­wi­ckeln und nach­haltig jah­re­lang an etwas zu arbeiten. Diesen Luxus haben wir nicht – oder es ist sehr schwierig. Das wurde eben auch beim Panel ange­spro­chen: Wir wissen nicht, wie es wei­ter­geht. Diese Unge­wiss­heit dauert mein ganzes Leben an und ich habe keine Hoff­nungen mehr, dass in der Zukunft irgend­eine Art von Sta­bi­lität ent­stehen wird. Wahr­schein­lich ist diese Unsi­cher­heit nicht nur für die heu­tige Ukraine typisch, viel­leicht ist sie für die junge Gene­ra­tion in vielen euro­päi­schen Län­dern präsent.
Sie ist auch der Grund, warum ich manchmal in einem starken Dialog mit Pho­to­grafie schreibe. Und etwas anderes, was ich gemerkt habe und was wahr­schein­lich viele machen: Wenn ich ein Kon­zept schreiben soll, z. B. zu einer Aus­stel­lung oder einem Pro­jekt, dann lese ich Poesie. Das hat in diesem Moment keinen kon­kreten Zusam­men­hang, aber diese kurze Reise in eine ganz andere Welt, die auch ästhe­tisch ganz anders orga­ni­siert ist, schenkt mir plötz­lich sehr viele Ideen. Des­halb glaube ich, es ist auch etwas sehr Schönes, kurz ver­schwinden zu können, um ganz neu in den gewohnten Raum zurück­zu­kommen und dort etwas Neues zu schaffen.

 

n.: Ich möchte gern zum Schluss – da du es auch schon ange­spro­chen hast – nach deinem aktu­ellen Pro­jekt fragen. Es dreht sich um Inseln, also gewis­ser­maßen auch um ein Rei­se­ziel, um ganz eigene Welten. Die Insel als Symbol der Iso­la­tion ist leider momentan vor allem in Bezug auf die Ukraine ein bri­santes Thema, selbst wenn die in Frage kom­mende Insel eine Halb­insel ist. Gleich­zeitig stehen Inseln und Küs­ten­re­gionen mit ihren Häfen oft auch für glo­bale Ver­net­zung, für Welt­of­fen­heit und Mul­ti­kul­tu­ra­lität. Siehst du den Reiz der Insel­figur im Oszil­lieren zwi­schen diesen zwei Polen oder wird momentan eine Ver­sion des Insel­bilds deut­lich bevorzugt?

 

K.M.: Für mich ist es die Frage, welche Kon­zepte hinter der Insel im heu­tigen Kon­text stehen – und es ist tat­säch­lich so, dass die Insel eine gewisse Ambi­va­lenz hat. Einer­seits geht es um Iso­la­tion und auch um eine Ver­schlos­sen­heit der Men­schen. Ande­rer­seits kann eine Insel ein Pro­jek­ti­ons­raum sein. Und mehr als das: auch ein Raum für Pro­jekte. Es ist auch ein kleines Stück Land, ein Labor, wo ein Pilot­pro­jekt mög­lich ist oder eine kleine Ver­sion von etwas ent­stehen kann. Wo eine Utopie aus­pro­biert werden kann. Mich inter­es­siert beides, Ver­schlos­sen­heit und Ver­such. Wie kommt dieses Insu­lare heute auch im poli­ti­schen Dis­kurs zum Aus­druck, wie wird es zum Aus­druck für andere Ideen gemacht? Im Vor­der­grund steht für mich Iso­la­tion, weil sie heute in unserer Ima­gi­na­tion domi­nanter und prä­senter ist.
Nicht nur im ukrai­ni­schen Kon­text, auch global: Die Insel, die wir als phy­si­sche Insel im Infor­ma­ti­ons­raum erleben, meint da die Orte, die Küsten, an die Flücht­linge streben, und gleich­zeitig den Wunsch, sich von diesen geflüch­teten Men­schen abzu­grenzen oder sie zu isolieren.
In Bezug auf den ukrai­ni­schen Kon­text: Selbst Angela Merkel hat vor­ges­tern in ihrer Rede [vom 29.12, auf dem Deutsch-Ukrai­ni­sches Wirt­schafts­forum] „Insel Krim“ gesagt. Das Unbe­wusste macht keine Fehler, wie man so sagt. Das ist auch als Fort­set­zung des heu­tigen Gesprächs mit Marci Shore und Katha­rina [Raabe] inter­es­sant: Wie funk­tio­niert unsere Ima­gi­na­tion, wie geht sie damit um? Welche Vor­stel­lungen eines Davor oder Danach bietet sie uns an? Nach einem Akt der Iso­la­tion oder Abgren­zung… wo sind die Wege unserer Ima­gi­na­tion, die uns aus diesen dunklen Zeiten irgendwie herausführen?
Wahr­schein­lich ist das auch meine per­sön­liche Suche nach ein­zelnen Aspekten der heu­tigen Ereig­nisse. Mich inter­es­sieren im ukrai­ni­schen Kon­text auch die Off­shore-Inseln und inwie­weit sie eine bestimmte Idee ver­treten, des Poli­ti­schen oder des Öko­no­mi­schen. Aber das führt viel­leicht zu weit.

Die heu­tigen Ereig­nisse in der Ukraine zeigen, dass dieses Bild der Iso­la­tion bzw. Iso­lie­rung noch nicht am Ende seines Poten­tials ist. Die Abgren­zung dieser Gebiete [der Regionen um die Städte Donec’k und Luhansk] geht immer noch weiter. Und gleich­zeitig ist nicht klar, wo der Kriegs­zu­stand beginnt, was er bedeutet und ob diese Gebiete den Krieg irgend­wann abschüt­teln können. Das bedeutet eine wei­tere Frag­men­tie­rung des ukrai­ni­schen Ter­ri­to­riums, die jetzt auch von ukrai­ni­scher Seite kommt. Und ich glaube, das ist wirk­lich eine sehr dra­ma­ti­sche Ten­denz und macht Iso­la­tion und ihre Aus­drucks­formen leider nur aktueller.

 

n: Liebe Kateryna, vielen Dank für das Interview.

 

Auf Deutsch erschienen von Kateryna Miščenko:

“Ein schwarzer Kreis”. In: Andrucho­wytsch, Juri (Hg.): Euro­maidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht. Berlin: Suhr­kamp (2014), S. 21–37.

“Stille Aktion”. In: Raabe, Kathe­rina (Hg.): Test­fall Ukraine. Europa und seine Werte. Berlin: Suhr­kamp (2015), S. 7–18.

“Ukrai­nian Night / Ukraïns’ka Nič” [gemeinsam mit Miron Zownir]. Leipzig: Spector Books (2015).