Plattform für experimentelle Lyrikformate und Labor für forschungsorientiertes Lesen – Die Literaturzeitschrift „Translit“

Die Literaturzeitschrift „Translit“ wurde 2005 in Sankt Petersburg gegründet und wird seitdem von dem Dichter und Literaturwissenschaftler Pavel’ Arsen’ev herausgegeben. Sie erscheint zwei Mal jährlich und orientiert sich thematisch an aktuellen Diskussionen in der Literaturwissenschaft, stellt neue Namen aus der russischsprachigen Literaturszene vor und beleuchtet neueste Methoden und Konzepte der Philosophie und Kulturwissenschaften in unterhaltsamer Form. Bei „Translit“ erscheinen nicht nur literarische Texte junger und bereits etablierter Autor_innen aus Russland, sondern auch Übersetzungen von namhaften internationalen Forscher_innen und Philosoph_innen, wie z. B. Armen Avanessian und Anke Hennig (Heft #19 „Ob′′ektno-orientirovannaja poėzija“) oder Autor_innen wie Patrizia Cavalli (Heft #21 „K novoj poėtike“).

 

 

 

Zu der Zeitschrift Translit
Das Thema der neusten Ausgabe (#22) ist Zastoj (eine Anspielung auf die Ära der Stagnation in der Geschichte der Sowjetunion) und Bystrye Kommunikacii (dt.: Schnelle Kommunikation) – als Ausdruck eines in der Luft hängenden Widerspruchs. Denn die russische Gesellschaft, so die Zeitschriftherausgeber_innen, verspürt derzeit auf politischer Ebene einen unvergleichlich langen, schwer erträglichen Stillstand, ein Gefühl der Ohnmacht bei gleichzeitiger Erwartung von großen Veränderungen, für welches die massiven öffentlichen Proteste für freie Wahlen in Moskau im Sommer dieses Jahres stehen. Zugleich erfahren die digitalen Technologien und die netzbasierte Kommunikation in der heutigen russischen Gesellschaft eine hoch dynamische Entwicklung. Noch lange bevor man in Deutschland in der Politik über Digitalisierung nachgedacht hat, wurde in Russland beispielsweise ein schneller und günstiger Internetzugang für alle ermöglicht (sehr früh schon wurde auch in der U-Bahn ein freier WLAN-Zugang eingerichtet) und hat so vielen Menschen die Möglichkeit gegeben, grenzenlos in den sozialen Medien zu kommunizieren.

 

 

Während die Hoffnung auf schnelle und grundlegende Reformen des politischen Lebens schwindet und im Fernsehen immer dieselben Gesichter auftauchen und dasselbe erzählen, boomen die Diskussionen im Netz wie nie zuvor. Leider ist eine der Konsequenzen daraus, dass Nutzer_innen, falls ihre Aussagen im Internet eine regimekritische Intention haben, sich seit einigen Jahren dafür vor Gericht verantworten müssen. Dennoch hat sich im russischen Internet auch eine freie Literatur- und v.a. Lyrikszene etabliert, die eine Ästhetik des Digitalen in experimentellen Lyrikformaten entwickelt und neue Formen von Aussagen erprobt, die sowohl im Feld des Privaten, als auch dem des Öffentlichen genutzt werden.


Den politischen Implikationen dieser Ästhetik geht die neueste Ausgabe von Translit (#22) nach und sucht Antworten darauf, welche Formen das Politische in der zeitgenössischen Lyrik und Prosa übernimmt und inwiefern politisches Handeln mit den poetischen Mitteln der Sprache in Zeiten schneller Kommunikation stattfinden kann. Während im ersten Teil theoretische Positionen diskutiert werden, ist der zweite Teil dem Blick auf die neue Lyrik gewidmet, mit entsprechenden Rezensionen und Interpretationsansätzen.


Auch das Thema der vorangegangenen Ausgabe #21 K novoj poėtike (dt. Zur neuen Poetik) orientiert sich an neuen Forschungsfeldern der Literatur- und Kulturwissenschaften und nimmt Formen der literarischen Aussage in den Blick, die auf wachsende Technologisierung und Medialisierung des Alltags im Zuge der immer akuter werdenden ökologischen Krise reagieren. Das Heft widmet sich einer neuen ‚pragmatischen‘ Poetik der Literatur, die gleichermaßen auf Ecocriticism und Medientheorie bzw. Medienkritik Bezug nimmt. Im Rückgriff auf die Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour werden die Fragen nach den Dingen und Gegenständen der materiellen Welt gestellt, die im Kontext von New Materialism auf ihr poetisches Potenzial hin untersucht werden; außerdem wird nach der Art, wie sie menschliches Leben strukturieren und ordnen und selbst zu ‚Akteur_innen’ werden, die auf den Menschen Macht ausüben, gefragt. Auf der Suche nach dieser potentiellen Poetik richten die Autor_innen ihren Blick nicht nur auf die Gegenwart, sondern schauen auch in die Vergangenheit. Einige widmen sich dabei der Poesie der russischen Avantgarde und ihrem Wunsch, sich – gemäß der 11. These von Marx – nicht kontemplativ und beschreibend der Natur gegenüberzustellen, sondern die Welt selbst kreativ und gestaltend umzuformen, und lesen diese neu aus der Perspektive von Ecocriticism. Andere finden in der fortschrittlichen Poetik des (Bio)Kosmismus fruchtbare Denkansätze, um von der Biologie und Genetik eine Verbindung zur Philologie und Kunst zu schaffen.

 


Zu der Person Pavel‘ Arsen‘evs
Die Schnittstelle zwischen Politik, Poesie und Literaturwissenschaft gehört auch ganz persönlich für Arsen‘ev, der bereits 2012 mit dem Andrej Belyj-Preis ausgezeichnet wurde, zu einem langjährigen Forschungsfeld. Zusammen mit Roman Os’minkin und Dina Gatina ist er Mitbegründer der Plattform Laboratorija poėtičeskogo akcionisma (dt. Laboratorium des poetischen Aktionismus), die sich auch als Vereinigung mit einer politischen Agenda versteht und Ideen aus dem linksmarxistischen Gedankengut und der kritischen Theorie in poetischen Aktionismus umwandelt. Zwischen 2008 und 2012 fanden im Rahmen des Projekts mehrere Performances statt, welche auf Video dokumentiert und in den sozialen Netzwerken verbreitet wurden, z. B. Poėma tovarnogo fetišizma (dt. Poem des Warenfetischismus). Auffällig ist bei diesen Aktionen, dass kapitalismuskritische Argumente auf der inhaltlichen Ebene mit der Reflexion über das Erbe der konzeptualistischen Poetiken der Künstler_innen aus dem Untergrund der Sowjetunion auf der formellen Ebene eng miteinander verwoben werden. Dieses Verfahren wird übrigens auch in den von Arsen’ev persönlich konzipierten poetischen Installationen im öffentlichen Raum Moskaus weiterverwendet, wie z.B. in Nravitsja Moskva von 2017, wo ein Gedicht von Vsevolod Nekrasov als dreidimensionaler Text in einer Einkaufsmeile aufgehängt wurde.


Als Literaturwissenschaftler beschäftigt sich Arsen’ev seit längerem mit faktographischer Literatur bzw. dokumentarischer sowjetischer Prosa (Literatura fakta), und vor allem mit dem Schaffen von Sergej Tret‘jakov. Das Plädoyer Tret‘jakovs, die Aufmerksamkeit der Literatur auf das Leben des Gegenstands und des Dings zu lenken und sich weiter weg von der romantisierenden Subjektivität und Moralität der russischen Literatur der vorangehenden Jahrhunderte zu bewegen, lässt sich heute im Kontext der Akteur-Netzwerk-Theorie neu lesen und neu interpretieren. Im Gegensatz zu den Repräsentanten des Nouveau Roman beispielsweise, die in ihrem literarischen Schaffen ähnliche Forderungen stellten, den Menschen selbst aber völlig aus dem Blickfeld der Betrachtung herausnahmen, plädiert Arsen’ev in Tret’jakovs Texten eine Poetik zu entdecken, die das Leben des Menschen und das Leben des Gegenstands, des Instruments und der industriell hergestellten Ware, nicht getrennt voneinander, sondern als ein komplexes System von Wechselbeziehungen darstellt. Für Arsen’ev sind diese Wechselbeziehungen, die in der progressiven Literatur der Sowjetzeit, ihrer Forderung nach Verschmelzung von Literatur und Politik als auch von Kunst und Leben zu verorten sind, ein wiederkehrendes und diskutierenswertes Thema, aus dem er viele neue Erkenntnisse für zeitgenössische Poesie entnimmt. Die Zeitschrift Translit bleibt der Tradition der russischen Avantgarde treu, welche die Literaturzeitschrift als Medium nutzte, um einerseits neue Poetik(en) ins Leben zu rufen, andererseits Meinungsbildung aufgrund des kritisch-reflexiven Potentials dieses Mediums zu ermöglichen, indem neue Fragen gestellt und Perspektiven für weitere Forschungen eröffnet werden.

 


Folgende Beiträge sind im Heft #22 zu finden:

Theorie-Teil:
▣  Aleksandra Novoženova. Formuly Ėnergi (Energieformeln) Mit einem Vorwort von Gleb Napreenko
▣  Dmitrij Žukov. Zastoj kak stadija revolucionnoj bor’by. (Zastoj als eine Phase des Revolutionskampfes)
▣  Igor Gulin. Sumerki Strojki. Messianičeskije aspekty sovetskoj proizvodstvennoj dramy. (Baustellendämmerung. Messianistische Aspekte  des sowjetischen Produktionsdramas)
▣  Aleksey Konakov. Material’naja baza zastoja: Aleksandr Mironov kak poėt arhaiki, smerti, nefti. (Materielle Grundlage des Zastoj: Aleksandr Mironov als ein archaischer Dichter)
▣ Dmitrij Bresler. KLĖ. T.1-9 (1962–1978): kratkij obzor dlja prodvinutych pol’zovatelej. (Kleine Enzyklopädie der Literatur: Bd. 1-9. eine kurze Einführung für fortgeschrittene Nutzer_innen)
▣ Kollektive Rezension der Teilnehmer_innen des Seminars „Die Pragmatik des künstlerischen Diskurses“, erschienen auch in: Russian Literature vol. 96-98 „Russia – Culture of (Non)Conformity: From the Late Soviet Era to the Present“.
▣ Oleg Gorjanov. Istoščaja vremja; granicy konservativnogo soznanija i ich preodolenie v ‚knige nepokoja‘ Fernando Pessoa. (Die Zeit erschöpfend: die Grenzen des konservativen Bewusstseins und ihre Überwindung im ‚Buch der Unruhe‘ von Fernando Pessoa)
▣ Tim Timofeev. Mesmerizm v ėpochu peremennych dviženij. (Mesmerismus im Zeitalter wandelnder Bewegungen)
▣ Evgenia Suslova/ egor RogaleV. Ėffekty svjazi. (Effekte des Kontakts)

 

Poesie-Teil:
▣ Dmitrij Žukov. Mertvoje telo tirana. (Die Leiche des Tyranns) (Mit einem Vorwort von Marina Simakova).
▣ Anonimnyj avtor. (Anonymous) ΜΕΤΑΖΑΣΤΟΑ
▣ Denis Larionov. Telefon doverija. (Notrufnummer) (Kapitel aus einem Roman)
▣ Dmitrij Golynko. Krugom Nevozmožno 3D. (Rundherum Unmöglich 3D) (Mit einem Vorwort von Aleksej Konakov).
▣ Inna Krasnoper. za-otkryvaet to, čto ešče. (zu-öffnendes das, was noch) (Mit einem Vorwort von Roman Osminkin).
▣ Anna Rodionova. Prostyje Reflektory. (Einfache Reflektoren) (Ein Dialog mit Ekaterina Zakharkiv).
▣ Aleksandr Sil’vestrov. ΠΕΡΊΟΔΟΣΘΑΝΑΤΟΦΌΡΟΣ (Mit einem Vorwort von Evgenia Suslova)
▣ Pawel Arsen’ev. Vne zony dejstvija. (Außerhalb der Reichweite) (Ein Tagebuch aus Havana)

 

 

Folgende Beiträge sind im Heft #21 zu finden:

TheorieTeil:
▣ Charles Altieri. Čemu tėorija možet naučitsja u novych napravlenij sovremennoj amerikanskoj poėzii? (Was kann die Theorie von den neuen Entwicklungen in der zeitgenössischen amerikanischen Poesie lernen?) (Übersetzung aus dem Englischen und Kommentar von A. Švec)
▣ Anna Švec. Liričeskoje delegirovanije: vešči v literaturnom bytu imažinistov. (Lyrisches Delegieren: Gegenstände im literarischen ‚byt‘ der Imaginisten)
▣ Jakub Kapičiak. Materiality matters! Sozdannoe iz jazyka, napisannoe perom, ispolnennoe telom. (Aus Sprache hergestellt, von der Feder aufgeschrieben, mit dem Körper ausgeführt)
▣ Pawel Arsen’ev. Žest i instrument: k antropologii literaturnoj techniki. (Geste und Werkzeug: zur Anthropologie des Literaturhandwerks)
▣ Marina Simakova/Evgenij Kučinov. Poėtika biokosmizma: vulkaničeskoe plamja, anabiotičeskij ljod. (Poetik des Biokosmismus: Vulkanhitze, anabiotisches Eis)
▣ Paul Jaussen. Pis’mo v real’nom vremeni: poėtika stanovlenija (Schreiben in Realzeit: eine Poetik des Werdens) (Gekürzte Übersetzung aus dem Englischen von A. Švec unter der Redaktion von P. Arsen’ev)
▣ Maksim Mirošničenko/ Nikita Vasilenko. Mediaėkosistemy Antropocena: k tehnobiologii ėmansipacii. (Media-Ökosysteme des Anthropozäns: zu einer technobiologie der Emanzipation) (Ein Entwurf zur theory fiction)
▣ Paul Stevens. Obščij ukazatel‘ avangarda: Общий указатель авангарда: konzeptual’noe pis’mo, informacionnaja asimmetrija i izbytok dannych. (Ein allgemeines Verzeichnis der Avantgarde: Konzeptuelle Schreibweisen, Asymmetrie der Information und Datenüberfluss) (Übersetzung aus dem Englischen von A. Birjulin unter der Redaktion von P. Arsen’ev)
▣ M. Knjazev, A. Švec, P. Arsen’ev, A. Solov’ev, A. Kosyh, A. Konakov. Peresborka gumanitarnych nauk c Bruno Laturom. (Re-Komposition der Geisteswissenschaften mit Bruno Latour.) Kollektive Rezension der Teilnehmer_innen des Seminars „Die Pragmatik des künstlerischen Diskurses“ für New Literary History #47, 2-3 (2016) Recomposing the Humanities – with B. Latour



Poesie-Teil:
▣ John Roberts. Gel’derlin und Marks v Tjubingene. (Theaterstück: Hölderlin und Marx in Tübingen) (Übersetzung aus dem Englischen von K. Bohorov unter der Redaktion von A. Penzin, Vorwort bei K. Čuchrov)
▣ Patrizia Cavalli. Rodina. (Heimat) (Übersetzung aus dem Italienischen mit einem Vorwort von A. Petrova)
▣ Stanislaw Snytko. Nevidimyj Fontan. (Der Unsichtbare Brunnen)
▣ Rostislav Amelin. Informatory. (Die Informanten) (Mit einem Vorwort von K. Korčagin)
▣ Maksim Mirošničenko. Mir zanjat sintezom. (Die Welt ist mit der Synthese beschäftigt)
▣ Galina Rymbu. Sposoby organizacii materii. (Formen der Organisation von Materie)
▣ Niels Kieldsen. Mesto vstreči v Moskve. (Treffpunk in Moskau) (Übersetzung von V. Bannikov, Vorwort bei N. Sungatov)
▣ Maria Malinovskaja. Vy – ljudi. Ja – net. (Ihr – Menschen. Ich – nicht)
▣ Miroslav Val’cman. Levački-Kamamebery. (Linksler – Camembers) (Mit einem Vorwort von O. Žuravljov)

 


Grafikdesign:

Nikita Safonov/Mails Spritsma. Golosuj za Rizomu! (Rhizom ins Parlament!)

 

Die zwei letzten Hefte von Translit sind ab sofort am Institut für Slawistik der Humboldt-Universität zu Berlin zu einem erschwinglichen Preis von 7,- Euro erhältlich.

 

Hierzu wenden Sie sich an:

Susanne Frank, Leiterin des Fachgebiets Ostslawische Literaturen und Kulturen oder an Natalia Grinina: natalya.grinina@gmail.com

 

Weiterführende Links

Informations about Translit in English

There are already two English digests of Translit in translation with editorial introductions and selected poems and articles available for purchase via internet:
– in translation #4-16
– in translation #17-21

 

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