„Our vision is continually active, continually moving, continually holding things in a circle around itself, constituting what is present to us as we are.“ – John Berger
]Was sehen wir in der kollektiven Distanzierung zur Welt, in der unsere Körper sich isoliert, unsere Bewegungs- und Wirklichkeitsräume sich zusammengezogen und zerfurcht haben? Wie sehen wir?
Dieser und anderer Fragestellungen nahmen sich Studierende der Humboldt-Universität im Rahmen der Gastprofessur der ukrainischen Künstlerin und Autorin Yevgenia Belorusets am Institut für Slawistik und Hungarologie an. Künstlerische Erzeugnisse wurden am 23.04.2021 bis 25.04.2021 im Rahmen der Ausstellung „Rechtfertigung der Spaziergänge“ im Standbad Tegelsee (Berlin) präsentiert. Die Teilnehmer_innen je eines theoretischen und eines praktischen Fotoseminars kommen aus verschiedenen Fachrichtungen, sie eint die praktische Leidenschaft für oder das theoretische Interesse an der Fotografie. Im übrigen teilen sie einen transkulturellen, generationsabhängigen Erfahrungshorizont:
Als digital natives stehen sie in der Gunst, den Übergang vom analogen zum virtuellen Sehen physisch wie technologisch durchlebt zu haben, ersteres ständig mit letztgenanntem abgleichen zu können. Beflügelt wurde die Seminararbeit durch fototheoretische Impulse und das Motiv des Spaziergangs. Theoretische Reflexion und konkrete Foto-, Blick- und Spazierstudien befruchteten sich gegenseitig – und so wurde das virtuelle Semester durch den physisch-mechanischen Akt des realräumlichen Gehens, Sehens und Fotografierens maßgeblich aufgewertet.

Dimensionen des Spaziergangs
Bis vor einem Jahr schien die Welt ein Dorf und in greifbarer Reichweite zu liegen; physisch-raumzeitliche Bewegungsfreiheit wurde weithin als „selbstverständlich“ vorausgesetzt. Unter dem Eindruck der latenten Gefahr endlos mutierender Covid-19-Viren, nationaler Grenzschließungen, gesamtgesellschaftlich eingeforderter Solidaritätsversprechen sowie einer Corona-Politik, die keine Perspektiven zu schaffen imstande zu sein scheint, wirkt die Welt nicht mehr greifbar, sondern seltsam entrückt. Zurückgezogen in Dörfer, deren Ausdehnungen sich nunmehr auf Wohnung, Kiez und Umland minimiert haben, werden wir zurückgeworfen – wieder und wieder auf uns selbst, in eine virtuelle Dauerschleife. Wir blicken nicht länger als reisende Nomaden in die Welt, sondern sehen uns von einer sterilen, zerklüfteten „neuen“ Normalität umgeben, in der Ereignisse aus dem indexikalischen Referenzraum der urbanen Wirklichkeit getilgt zu sein scheinen und Erfahrungen zunehmend in der virtuellen Transgression gesucht werden.
Oder im Spaziergang, der in seiner freien Form an der frischen Luft alle temporär inaktiven Institutionen – soziale Treffpunkte, kulturelle Spielstätten und sonstige save spaces – zu absorbieren versucht, ohne jedoch die faktischen oder individuell empfundenen Leerstellen befrieden zu können. Der Spaziergang kann die an ihn gestellten Ansprüche nicht erfüllen.
Fotografisches „Trotzdem“
Trotzdem spazieren wir: Ohne uns ausruhen zu können, den Sicherheitsabstand wahrend, werden wir konfrontiert mit einer ihrer altbekannten Funktionen entledigten Wirklichkeit – einer Welt im paradoxalen historischen-aberzeitlosen Schwebezustand. Die Stadt funktioniert nicht mehr.
Es ist dieses rechtfertigende ‚Trotzdem‘, das Spaziergang und Fotografie – wie auch die theoretisch-praktische Seminararbeit und die Ausstellungsrealisierung unter erschwerten pandemischen Bedingungen – miteinander verknüpft. Sich an ihrer eigenen technischen Bedingtheit stoßend, wird die Fotografie ihrem Anspruch, Wirklichkeitsnähe herzustellen und Objektivität zu bezeugen, nicht gerecht. Trotzdem fotografieren wir, blicken wir in eine Welt, deren Wirklichkeitsgrenzen unscharf geworden sind (oder es schon immer waren): disfunktional, sinnentfremdet, deterritorialisiert. Spaziergang wie Fotografie führen uns jene defekten Grenzverläufe vor Augen. In einem transgressiven Akt der „Rechtfertigung“ emanzipieren sie sich von jenem realräumlichen, aus neuen Verboten und alten Freiheiten (und vice versa) konstituierenden Referenzraum – kraft der Sprache, kraft der Imagination.





Kollektive Dokumentation: Eingriff in die Wirklichkeit
Das Mittel der Fotografie, das Verfahren des Spaziergangs erlauben es uns, in die Wirklichkeit einzugreifen und uns im selben Zuge selbst zu verorten. Den Wirklichkeitsanspruch der Fotografie hinterfragend, können unsere fototextlichen Projekte in ihrer Summe – in all ihrer perspektivischen Subjektivität – als kollektive Dokumentation jenes für das vergangene Jahr charakteristischen Zustands lavierender Haltlosigkeit gelesen werden. Sie erzählen von Zufluchten in imaginäre Traumlandschaften, von Rückfall bzw. Rückbesinnung auf die eigenen vier Wände, Nachbarschaft oder Natur sowie von der Sehnsucht nach physischer Selbstfindung in einer aus virtuellen Bildern und Identitäten beschaffenden Realität. Sie versuchen einem langgezogenen Moment scheinbar stillstehender Geschichtlichkeit eine gedankliche Form zu geben – über das Motiv des Spaziergangs und die Sprache der Fotografie.
Literatur:
John Berger: Ways of Seeing. London 1988.
Robert Walser: Der Spaziergang. Zürich 2019.
Roland Barthes: Die helle Kammer. Berlin 2016.
Susan Sontag: Das Leiden andere betrachten. München/Wien 2003.
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Kurzbeschreibungen der ausgestellten theoretisch-praktischen Arbeiten:
Bella Badt: Fotoflanieren – die Entdeckung der Narrationen, Begleittexte, 2021.
Was kann entdeckt werden, wenn Bilder und Klänge aus dem Kontext der Spaziergänge entnommen werden und in einen neuen Kontext einer Kulturlandschaft versetzt werden? Kurze essayistische Bildkommentare zu den fotografischen Arbeiten regen Flanierende dazu an, Narrationen zu entdecken oder sie selbst zu entwerfen.
Bella Badt studiert im Master „Kulturen und Literaturen Mittel- und Osteuropas“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie arbeitet zu den Themen Avantgarde, Samizdat, Jugendkulturen und Märchen. Sie schrieb Essays zu ausgewählten fotografischen Arbeiten von Yevgenia Belorusets und Lada Nakonechna.





Elisabeth Bauer: Von Wäldern und Nymphen, Video, 6:19 min und Mikro- Textpublikation, 2020-2021.
Ausgangspunkt für die theoretisch-praktische Blickstudie ist der alltägliche Fensterblick: Überlegungen über die kulturgeschichtlichen Dimensionen des Blicks, die Dialektik und Historizität „nachlebender“ und Neuer Bilder sowie die Materialität von Wirklichkeit werden angestellt. Fotografiert mit einer Voigtländer II-b.
Elisabeth Bauer studiert im Master „Kulturen und Literaturen Mittel- und Osteuropas“, ihren Bachelor hat sie in Slawistik sowie in Kunst- und Bildgeschichte absolviert. Sporadisch schreibt sie journalistische Beiträge mit Publikationen in taz, WELT, im Literaturjournal novinki u.a.





Giselle Chavannes: Ohne Titel, Video, 7:17 min, 2020-2021.
Die Fotoserie ist das Ergebnis meines Kommens und Gehens an immer dieselben Orte: von der Wohnung zum Tempelhofer Feld – und zurück. Die Bilder wurden mit einer Ricoh singlex tls und einer Zenith 3M aufgenommen. Giselle Chavannes, Schweizerin und Argentinierin, studiert Europäische Literaturen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihren Bachelor hat sie in Philosophie und Vergleichender Literaturwissenschaft in Genf und Tübingen absolviert.



Lisa Jura: Ohne Titel, Video, 3:30 min, 2020-2021.
Der Tag war so grau, dass ich eine Lilie gekauft habe, um mich zu erinnern, dass es Leben gibt. Lisa Jura hat Hungarologie, Südslawistik und Historische Urbanistik studiert.




Anna Katinka Kultscher: Eroberungen, Video, 5:05 min, 2020-2021.
Ein Wrack, ein Schwarm, kein Regenschirm – bei bestem Wetter fechten Mikround Makromächte ihre Kämpfe aus. Wer oder was erobert wen oder was? Ein Spaziergang durch den schönen Gesundbrunnen.
Katinka Kultscher ist Masterstudentin der Europäischen Literaturen und hat im Bachelor Creative Arts studiert.


Elisabeth Landenberger: Wonder Wheel, Video, 1:45 min, 2021.
Wonder Wheel zeigt Aufnahmen von pandemischen Spaziergängen in Istanbul, New York City, Berlin und der deutschen Provinz. Die Photographien wurden allesamt mit Einwegkameras aufgenommen.
Elisabeth Landenberger ist Studentin der Philosophie, Slawistik sowie Informatik und übersetzt.
Elisabeth Landenberger: Modifizierte Nova-Atlantis-Fragmente, 8 Poster, 2021.
Text/Idee: Elisabeth Landenberger, Design: Yevgenia Belorusets
Die fragmentarische Utopie des Philosophen Francis Bacon „Nova Atlantis” (1627), umgeschrieben und an die heutige Zeit angepasst.





Tamara Naszer: Abschied vom Himmel, Video, 6:03 min, 03/2021.
Die Fotoreihe nimmt sich der empfindlichen Lebensperiode der Jugend an und hinterfragt den endgültigen Abschied von der Kindheit.
Tamara Naszer – in Ungarn geboren, Studentin der Musikwissenschaft und Hungarologie – fotografiert mit einer Nikon f50 auf Agfa APX 400-Film.




Nicole Stieben: Zwischenspiegel, Video, 4:42 min, 2020-2021.
Was macht einen Ort aus und was bewirkt ein Ort bei jedem selbst? Auf mehreren Spaziergängen bin ich an verschiedenen Stationen stehen geblieben, weil sie etwas in mir ausgelöst haben. Was genau, kann ich nicht wirklich sagen. Konkrete Erinnerungen, verblasste Träume oder Visionen? Verlorene Gefühle der Realität sollen eingefangen werden, um dem Spaziergang in seiner Einfachheit einen geheimnisvollen Spiegel vorzuhalten.
Nicole Stieben studiert „Kulturen und Literaturen in Mittel- und Osteuropa” und absolvierte ihren Bachelor in Kunstgeschichte an der Universität Essen. Sie ist als Musikerin, Songwriterin und Komponistin tätig.



Jakob Wunderwald: Das Irreale der Gegenwart in Fotografien der Gegenwart – Die Gruppe SOSka und Spaziergänge durch die Coronawelt, Essay, 2021.
Jakob Wunderwald ist Masterstudent der Slawistik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er arbeitet zu spät- und postsowjetischer Literatur und Kunst. Darüber hinaus ist er als Übersetzer aus dem Russischen, Belarusischen und Ukrainischen tätig.
Arbeitsbeschreibungen der eingeladenen Künstler*innen (Ukraine):
Alina Kleytman (Kiew): RESPONSIBILITY: SHAME, FEAR, AND PRIDE,
Farbfilm, 5:49 min, 2017.
Das Video zeigt den schmerzlichen Prozess inneren Wachstums. Die Künstlerin Alina Kleytman lebt und arbeitet in Kiew. Seit 2009 nimmt sie an Ausstellungen in der Ukraine und im Ausland teil; 2011 erhielt sie den Public Choice Award (Pinchuk Art Prize), sie wurde auf der Non Stop Media Biennial ausgezeichnet und 2021 mit dem Women in Arts-Preis (2019 von UN Women Ukraine ins Leben gerufen) in der Kategorie Visual Arts geehrt.
Lada Nakonechna (Kiew): Idyll, DV Video, 60 min, 2011/2017.
Während ihrer Residenz im ukrainischen Dorf Velykij Pereviz (Großer Transfer) dokumentierte Lada Nakonechna eine Dorflandschaft, in deren Zentrum sich ein Radiolautsprecher befindet. Die staatliche Radio-Stimme füllt das Dorf mit Werbung, offizieller Berichterstattung und Schlagermusik. Die Videoarbeit fixiert konstante und dynamische Elemente der kulturellen und tatsächlichen Landschaft.
Lada Nakonechna lebt und arbeitet in Kiew. In ihren Arbeiten benutzt die Künstlerin verschiedenste künstlerische Mittel, etwa Fotografie, Zeichnungen, Installationen und Performances.
Sie ist Co-Redakteurin des Journals für Literatur, Kunst und Politik Prostory.net.ua und Mitglied der Kurator*innen- und Aktivist*innenGewerkschaft Hudrada. Seit 2005 ist sie Mitglied der Künstlergruppe R.E.P. (Revolutionary Experimental Space), kuratiert das unabhängige Bildungsprogramm Course of Art in Kiew (seit 2012) und ist Mitbegründerin der Kunst-Stiftung Method Fund (gegr. 2015).


SOSka Group (Kiew): Barter, DV Video, 6:54 min, 2007.
Barter beschäftigt sich mit der Frage von Interaktionen innerhalb des zeitgenössischen Kunstmarkts. Mitglieder des Künstlerkollektivs fuhren in ein Dorf nahe Kharkiv und fragten Ansässige, ob sie Drucke internationaler Künstler*innengrößen (Andy Warhol, Sam Taylor-Wood, Cindy Sherman etc.) gegen lokale Erzeugnisse (Eier, Kartoffeln etc.) zu tauschen. Der „Preis“ für jedes Werk wurde mit der Käuferin, dem Käufer je einzeln ausgehandelt.


