Die Lebensgeschichte eines Lebensbeschreibers
„‚Was schreiben Sie da dauernd?‘ ‚Ich beschreibe Gegenstände, Eindrücke, Menschen. Ich schreibe jetzt jeden Tag, in der Hoffnung, sie vor dem Vergessen zu retten.‘“
In seinem 2016 beim Moskauer AST-Verlag erschienenen Roman Aviator (dt. Luftgänger) gibt Evgenij Vodolazkin [Jewgeni Wodolaskin] einen eindrucksvollen Einblick in das bewegte 20. Jahrhundert Russlands. Die detailreich beschriebenen Erinnerungen des Protagonisten ermöglichen eine ganz spezielle Sichtweise, wie sie in keinem Geschichtsbuch zu finden ist.
Nach seinem internationalen Bestseller Lavr (dt. Laurus) wartet der 1964 in Kiew geborene und in Sankt-Petersburg lebende Literaturwissenschaftler und Autor erneut mit einem faszinierenden Meisterwerk auf.
Ein Mensch – ein Jahrhundert
Doch eines Tages macht Platonov eine Entdeckung, die ihn zum Stutzen bringt: Laut Angabe auf der Verpackung wurden seine Tabletten im Jahr 1997 hergestellt. Wie kann es sein, dass er persönliche Erinnerungen an das frühe 20. Jahrhundert hat, sich aber zugleich an dessen anderem Ende befindet? Die Ursachen liegen in einer von Revolution, Denunziation und Lagerhaft beeinflussten Vergangenheit.
Minen aus Metall und Blumen aus Plastik
Der erste Teil des Buches gestaltet sich aus den Tagebucheintragungen Platonovs. Diese sind geprägt von bruchstückhaften Rückblenden in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts: Sommer der Kindheit auf der elterlichen Datscha in Siverskaja [Siwerskaja], Augenblicke der Zärtlichkeit gemeinsam mit seiner Jugendliebe Anastasija [Anastassija] in St. Petersburg, Jahre der Strafarbeit auf den Solovki-Inseln [Solowki-Inseln], geprägt von Brutalität und Verzweiflung.
Nebenher tritt Platonov unumgänglich mit seiner „neuen Zeit“ in Berührung: Kugelschreiber, Computer, Fernseher, künstliche Pflanzen. Seine dazugehörigen Eindrücke lesen sich teilweise durchaus als Kritik an der modernen Gesellschaft: Die „Talkshow“ – im Ton zänkisch und wenig kultiviert – „Sind das wirklich meine neuen Zeitgenossen?“ Und überhaupt Anglizismen: Kurz und klangvoll, bequem und sparsam, „aber früher wurde an der Sprache nicht gespart.“
Aufstieg zur weltweiten Berühmtheit
Im zweiten Teil wechselt die Erzählhaltung zwischen Platonov, Dr. Gejger und Nastja, der Enkelin von Anastasija. Die perspektivischen Grenzen verschwimmen dabei zunehmend und lösen sich schließlich vollends auf. Es kommt zu einer philosophischen Kulmination über Leben, Glück und Tod. Einige Textpassagen haben das Potential zu Lebensweisheiten, die es zu rezitieren und diskutieren sich lohnt: „Was geschieht mit dem Leben, wenn es aufhört, Gegenwart zu sein?“
Der Fokus der Handlung verlegt sich nun in eine Gegenwart, in der Platonov mittlerweile zu einer weltweiten Berühmtheit aufgestiegen ist: Er gibt Interviews, ist bei Staatsleuten zu Gast und erhält Werbeverträge. Vodolazkin entwirft eine profitgesteuerte Maschinerie, zwischen deren Rädern der Protagonist erdrückt zu werden droht. Die bildliche Vorstellung, dass er nun für Feinfrostprodukte und eingefrorene Preise bei Möbelketten posiert, lässt das Lesepublikum peinlich berührt zurück.
In seiner Einsamkeit majestätischer Aviator
Die deutsche Übersetzung des Buches stammt von Ganna-Maria Braungardt und erschien 2019 im Aufbau Verlag. Die Worte und Sätze reihen sich flüssig zu einer mitreißenden Geschichte aneinander. Einzig der mit Luftgänger übersetzte Titel passt nicht perfekt ins Bild, da er in keiner direkten Verbindung zum Inhalt steht. Das Kind Platonov träumte davon, Pilot – nein! – Aviator zu werden. Der Klang dieses Wortes vereint „die Schönheit des Fliegens und das Dröhnen des Motors, Freiheit und Kraft“. Dieser melodiöse Archaismus hätte sich auch im Deutschen eine titelgebende Funktion verdient. Zudem lohnt sich ein Blick auf das Cover der russischen Ausgabe, welches den Angelpunkt der Geschichte bildlich aufgreift.
Nach diesem Höhenflug heroisch-romantischer Phantasien über die Einsamkeit schlägt der 30-Jährige, gleichsam seinem Helden aus Kindertagen, Robinson Crusoe, auf einer einsamen Insel auf, inmitten von einem Meer fremder Zeit. Dort gibt es kuriose Fernsehsendungen, die das „Überleben“ von mediengeilen Menschen auf einer einsamen Insel dokumentieren. In Anbetracht der Erfahrungen, die Platonov auf den Solovki-Inseln gemacht hat, zeichnet Vodolazkin ein an Zynismus kaum zu übertreffendes Realitätsverständnis.
Selbstdarstellung der Persönlichkeit
Das angesprochene Streben nach öffentlicher Selbstdarstellung lässt sich nicht mit dem Zeitgeist der Titelfigur vereinen. Zahlreiche technische Neuerungen haben zu einem Wandel in Interessen und Prioritäten der modernen Gesellschaft geführt. Durch Platonovs distanzierte Betrachtungsweise wird ein kritisches Nachdenken darüber angeregt. Ein bestimmtes gesellschaftliches Phänomen tritt jedoch auch bei ihm auf: Die sogenannte „Fear of Missing Out“, die Angst, etwas zu verpassen – bzw. in Platonovs Fall – etwas verpasst zu haben: „Ich empfinde brennende Sehnsucht nach meinen ungelebten Jahren. Eine Art Phantomschmerz.“
Im Gegensatz zu den beschriebenen Veränderungen ist es allerdings überraschend, welche Aussagen Vodolazkin der 19-jährigen Nastja in den Mund legt: „Er ist der Mann, er entscheidet“ oder (an Platonov gewandt): „Zwei Damen sind voll und ganz von dir abhängig“. Hier zeichnet der Autor ein verstaubtes Frauenbild, welches gleichsam wie Platonov vom Anfang des 20. Jahrhunderts stammt, aber keinerlei stilistische Effekte mit sich bringt.
Gegen das Vergessen
Bei Aviator handelt es sich um einen historischen Roman mit Elementen der Science-Fiction. Hervorzuheben ist, dass Vodolazkin sowohl auf reale Persönlichkeiten und Begebenheiten zurückgreift als auch fiktive erschafft. Eine Unterscheidung erweist sich (für das in russischer Historie weniger bewanderte Lesepublikum) mitunter nicht immer als offensichtlich. Es lohnt sich daher, zwischendurch den einen oder anderen Namen nachzuschlagen und so auch spannende Hintergrundinformationen einzuholen.
Platonov führt seine Tagebucheinträge äußerst malerisch aus. Er ergänzt das bloße historische Material durch Ausführungen zu Geräuschen und Gerüchen, mit der Begründung, dass diese nicht in den Geschichtsbüchern nachgelesen werden können. Somit schreibt er gegen das Vergessen – ein Appell an die Lesenden des Romans. Mit diesem ist Vodolazkin ein wahrer Kunstgriff gelungen. Er verwebt ein spannendes Forschungsgebiet der Zukunft mit geschichtsträchtigen Ereignissen der Vergangenheit. Zusammen ergibt sich eine Handlung, welche mitreißend erzählt und zudem mit einigen überraschenden Wendungen gespickt ist.
Literatur
Vodolazkin, Evgenij: Aviator. Moskva 2016.
Wodolaskin, Jewgeni: Luftgänger. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Berlin 2019.