Einblicke in das 26. FilmFestival für osteuropäisches Kino in Cottbus

Im Rahmen des studentischen novinki-Projekts „Filmkritisches Schreiben“ haben Studierende der Universität Potsdam im November 2016 das 26. FilmFestivalfür osteuropäisches Kino in Cottbus besucht. Ein Bericht über das Event sowie mehrere Filmbesprechungen geben Einblicke in das Programm der letzten Ausgabe des Festivals.

 

Das Programm des Cottbuser FilmFestivals war 2016 besonders vielfältig: Neben den drei wichtigen Sektionen (Wettbewerb Spielfilm, Wettbewerb Kurzfilm und U18 Wettbewerb Jugendfilm) wurden in den weiteren Programmsektionen ca. 200 Filme aus rund 35 Ländern gezeigt. Die Filme decken – vom slowakischen Horrorfilm Socialistický Zombi Mord  (Socialist Zombie Massacre, 2014) bis zum rumänischen Western Câini  (Hunde, 2016) aus dem Wettbewerb – alle denkbaren Filmgenres ab. Die internationale Festivaljury hat aus zwölf Spielfilmen des osteuropäischen Kinos diesmal den russischen Film Zoologija (Zoologie, 2016) des jungen Regisseurs Ivan Tverdovskiy als Gewinner ausgewählt. Einer der Festival-Schwerpunkte lag auf dem sozialistischen Kuba.  Außerdem widmete sich das Festival in der Sektion Specials dem Thema Spuren suchen: deutsch-tschechisch-polnische Geschichte(n) im Wandel. Filmische Auseinandersetzungen mit dem Zweiten Weltkrieg sowie mit der Nachwende- und Postsowjetzeit wurden wiederum mit Brüche/Zäsuren und Brückenbauen in den Fokus gerückt.

 

Wettbewerb: vom experimentellen bis zum Mainstream-Kino

Überraschend unkonventionell wirkt der Spielfilm Svi Severni Gradovi (All the Cities of the North, 2016) von Dane Komljen aus Serbien. Er ragte deutlich aus dem Festivalprogramm heraus und erweiterte das klassische Verständnis des Genres Spielfilm im Wettbewerb maßgebend. In den verlassenen postsozialistischen Orten, umgeben von industriellen Ruinen, entdecken die Filmprotagonisten Kommunikationsmöglichkeiten, die jenseits des Sprachlichen liegen und für die Zuschauer_innen einen großen Reflexionsraum eröffnen. Durch die statischen Kameraeinstellungen und teilweise sehr lange Sequenzen sowie Szenen, die von der klassischen Malerei inspiriert zu sein scheinen, werden die Räume zum Experimentierfeld und bieten den Figuren eine besondere Plattform zum Leben und Handeln. Die weiteren Filme aus dem Wettbewerb warteten mit leichter zugänglichen Themen und dynamischerer Darstellung auf. Der ungarische Film Tiszta szívvel  (Kills on Wheels, 2016) von Attila Till und die polnische Komödie Planeta Singli (Planet Single, 2016) von Mitja Okorn arbeiten mit humorvollen Szenen und einfachen Handlungsstrukturen. Sie sorgten für einen unterhaltsamen Ausgleich zu den Art-House-Filmen und wurden schließlich als Publikumslieblinge ausgezeichnet.

Der Gewinnerfilm Zoologija (Zoologie, 2016)des jungen russischen Regisseurs Ivan Tverdovskiy stellt eine kafkaeske Figur in den Mittelpunkt seiner Handlung. Natascha (Natalia Pavlenkova wurde bei der Preisverleihung für ihre Rolle mit dem Preis in der Kategorie Für eine herausragende Darstellerin ausgezeichnet) lebt zusammen mit ihrer alten Mutter in einer Wohnung, hat keine Freund_innen und wird zur Witzfigur ihrer Kolleg_innen – schon bevor die Welt etwas über ihr Geheimnis weiß. Der abrupte Wechsel von Komik zu Tragik in der Handlung schafft ein intensives Filmerlebnis, das die Zuschauer_innen auch nach dem Ende des Films lange nicht loslässt.

Der Film des ungarischen Regisseurs und Schauspielers Szabolcs Hajdu Ernelláék Farkaséknál (It`s not the Time of my Life, 2016) spielt in der Budapester Wohnung des Regisseurs und lässt eine kammerspielartige Atmosphäre entstehen, die den Zuschauer_innen eine besondere Nähe zu den Filmprotagonist_innen erlaubt. Der Besuch der Schwester wirkt wie ein Katalysator, der das in der Familie lange Verschwiegene und Verdrängte zur Sprache kommen lässt.

Der rumänische Wettbewerbsbeitrag Câini  (Hunde, 2016) von Bogdan Mirică wiederum spielt mit den Genre-Mustern des Westerns. Ein alter Polizist versucht in einem rumänischen Dorf Ordnung zu halten. Die Situation gerät aber bald außer Kontrolle. Durch die skurrilen Szenen und beeindruckenden Landschaftsaufnahmen aus der rumänischen Einöde gelingt es dem Regisseur, eine genrespezifische Atmosphäre auch fern des „wilden Westens“ zu erzeugen.

 

Filme aus Polen

Unter den polnischen Produktionen erregten insbesondere die Kurzfilme Aufmerksamkeit, darunter die Abschlussarbeiten von Absolvent_innen der 2010 gegründeten Gdynia Film School (Horyzonty Gdyni ). Die Arbeiten gehören zu ganz verschiedenen Genres und beeindrucken nicht nur durch ihre thematische Bandbreite, sondern auch durch neuartige Ästhetiken (z.B. bei der Darstellung postsozialistischer Ruinen und Landschaften) sowie faszinierende schauspielerische Leistungen. Der polnische Wettbewerbsfilm Ostatnia Rodzina (The Last Family, 2016) von Jan P. Matuszyński wurde sowohl in Polen als auch auf dem Festival in Cottbus mit besonderer Spannung erwartet, da er die tragisch-skurrile Familiengeschichte des bekannten Malers Zdzisław Beksiński aufgreift. Für seine Rolle als Sohn des Malers, Tomasz Beksiński, bekam der polnische Schauspieler Dawid Ogrodnik den Preis für einen herausragenden Darsteller. Gezeigt wurden außerdem die fesselnde Familiengeschichte Panie Dulskie (Die Damen Dulski, 2015) von Filip Bajon und das tragikomische Familiendrama Moje córki krowy  (Meine doofen Töchter, 2015) von Kinga Dębska.

 

Filme aus Georgien

Georgien war dieses Jahr mit zwei Kinoproduktionen im Wettbewerb vertreten. Der Film Skhvisi Sakhli (Das Haus der anderen, 2016) von Rusudan Glurjidze beschäftigt sich mit dem georgisch-abchasischen Krieg Anfang der 1990er Jahre und spielt in einem verlassenen Dorf in Georgien. Durch das im zeitgenössischen Kino kaum noch verwendete 4:3-Format bekam der Film einen besonderen Retro-Touch und überzeugte durch fast schon poetische Landschaftsaufnahmen. Eine völlig andere Problematik greift der Film Anas Ckhovreba  (Annas Leben, 2016) von Nino Basilia auf. Im Zentrum der Handlung steht die Figur der jungen, alleinerziehenden Mutter, die einerseits mit unterschiedlichen Gelegenheitsjobs über die Runden zu kommen versucht, andererseits ihren autistischen Sohn und ihre demenzkranke Großmutter betreuen muss. Den Ausweg aus dieser existenziellen und finanziellen Sackgasse sieht die Protagonistin in der Flucht nach Amerika. Was machen extreme Armut und totale Hoffnungslosigkeit auf eine bessere Zukunft mit Menschen und ihrer Moral? Der Film arbeitet mit tragikomischen Szenen und sanftem Humor, ohne dabei ins Kitschige oder Pathetische abzudriften.

 

Jüdische Spuren

Im Programm des FilmFestival Cottbus 2016 gab es auch einige Filme, die sich in unterschiedlichen Genres mit der jüdischen Kultur und Geschichte beschäftigen. Premiere auf dem Festival hatte der Film Wir sind Juden aus Breslau(Deutschland, 2016) von Karin Kaper und Dirk Szuszies. Er ist im Rahmen des Jugend-Workshops Ostatni Żydzi w Breslau (Die letzten Juden in Breslau) entstanden und zeigt Begegnungen zwischen Jugendlichen und Zeitzeug_innen. Die Filmemacher_innen beleuchten in ihrer Arbeit die jüdische Geschichte Breslaus und konzentrieren sich dabei insbesondere auf die Zeit der Ermordung der jüdischen Bevölkerung sowie auf und die aktuelle Situation der jüdischen Kultur in der Stadt.

In der Sektion Specials waren darüber hinaus zwei weitere Filme zu sehen, die von der Rückkehr an verlassene Orte erzählten. In ihrem Debütfilm Rückkehr in die windige Stadt (Deutschland, 2013) beschäftigt sich Kristina Forbat mit ihrem ostslowakischen Geburtsort Košice. Košice war vor dem Zweiten Weltkrieg durch viele Kulturen geprägt, dort haben u.a. Slowak_innen, Pol_innen, Ukrainer_innen, Deutsche, Ungar_innen und Jüd_innen gelebt. Der zweite Film Reversing Oblivion (USA, 2016) von Ann Michel und Philip Wilde rekonstruiert die Familiengeschichte der Regisseurin, die sich auf die Suche nach ihren jüdischen Wurzeln begibt. Die Geschichte dreht sich um einen verlassenen und wiederbesiedelten Hof in Oberschlesien und wird mit Humor und Leichtigkeit erzählt.

Für eine interessante (auch räumliche) Abwechslung sorgte beim Festival außerdem der israelische Film Ha-Mashgichim  (God´s Neighbors, 2012) von Meni Yaesh. Als der fromme Avi die säkulare Miri kennenlernt, steht er vor einer schwierigen Entscheidung: entweder seinen strengen chassidischen Lebensstil oder seine Freundin aufgeben. Der Film erzählt von einer Jugend in Israel, die zwischen strengen religiösen Dogmen und Säkularisierung gespalten ist.

 

Filme aus Tschechien

Und zum Schluss: In der Kategorie Specials wurde der schwarz-weiße Animationsfilm Alois Nebel (Tschechien, 2011) von Tomáš Luňák gezeigt. Die politischen Ereignisse des Jahres 1989 in Prag werden kontrastiv zum Leben in einem kleinen Ort und zur Figur des Fahrdienstleiters Alois dargestellt, der für einen provinziellen tschechischen Bahnhof zuständig ist. Vergangenheit und Gegenwart kommen in diesem Umbruchsjahr zusammen, um noch einmal an die verdrängten Verbrechen zu erinnern und gegen das Vergessen anzukämpfen. Der letzte Festivalfilm war ebenfalls eine tschechische Produktion – Wilsonov (Wilsonstadt, 2015) von Tomáš Mašín. Der Abschlussfilm spielt während des Ersten Weltkrieges und stellt den amerikanischen FBI-Spezialisten Aaron Food in den Mittelpunkt der Handlung.

 

Festivalfazit

Das 26. FilmFestival Cottbus präsentierte eine Vielfalt an filmischen Stoffen. Kein Festival kann ein Gesamtbild des aktuellen Kinos aus Osteuropa zeichnen, aber trotzdem ließen sich in Cottbus länderübergreifende filmische Tendenzen und aktuelle thematische Schwerpunkte beobachten. So stand 2016 das Individuum verstärkt im Mittelpunkt. Nach wie vor setzen sich die osteuropäischen Regisseur_innen intensiv mit dem Zweiten Weltkrieg, dem Sozialismus und der postsozialistischen Zeit auseinander. Zwar war die Problematik der (erzwungenen) Migration beim Festival in einigen Sektionen präsent, trotzdem blieb der Eindruck, dass sich die osteuropäische Kinematografie wenig mit den aktuellen weltweiten Migrationsprozessen und Flüchlingsthematiken beschäftigt. Überraschend wenig Platz innerhalb des Programms nahmen außerdem die Filme aus der Ukraine ein. Jenseits des Hauptprogramms bot das Rahmenprogramm auch diesmal viele interessante und inspirierende Gesprächsrunden mit Filmemacher_innen, Schauspieler_innen und Produzent_innen aus unterschiedlichen osteuropäischen Ländern an. Cottbus ist eine wunderbare Film-Stadt mit vielen Spielstätten, die eine besondere Atmosphäre ausstrahlen und das Filmerlebnis noch intensiver machen.

 

Filmbesprechungen:

Socialist Zombie Massacre von Franziska Korte
Socialistický Zombi Mord (2014) war als Horrorfilm der einzige Vertreter seines Genres beim Filmfestival Cottbus 2016. Schon im Vorfeld wurde er als besonderer Genrefilm angepriesen. Die Neugierde war also groß. Wie der brechend volle Raum der Kammerbühne bewies, zog es viele Zuschauer_innen zu dem slowakischen low-budget Zombiefilm, der sich selbst nicht allzu ernst nimmt. mehr

 

Die Polizei ist tot von Katharina Gucia
Der Hund heißt Polizei und ist auf dem rumänischen Dorf ein vermeintlich verlässlicher Beschützer – anders als die gegenüber kriminellen Strukturen scheinbar machtlose Dorfpolizei. Ob der alte, todkranke Polizist Hogaș das Böse stoppen kann, erzählt Bogdan Mirică vor einer großartigen Landschaft in seinem ersten Spielfilm Câini (Hunde). mehr

 

Gefallene Helden von Franziska Eichmeier
Man mische ein dunkles Kapitel junger kubanischer Geschichte mit einem 08/15- Sportlerdrama, füge ein wenig Liebe, widerwillige Freundschaft, Solidarität und eine Trainingsmontage hinzu und fertig ist Pavel Girouds El Acompañante. Girouds Film versucht ein bisschen zu viele Genres zu bedienen. Trotzdem überzeugt das Drama durch starke schauspielerische Leistungen und eine ungewöhnliche Geschichte.  mehr

 

Killerkommando im Rollstuhl von Janina Semenova
Querschnittsgelähmt? Egal! In Kills On Wheels sitzt der Auftragskiller im Rollstuhl. Der Film des ungarischen Regisseurs Attila Till ist kurios, spannend und lustig zugleich – und kommt zum Glück ohne Mitleid aus. mehr

 

Vom Suchen nach Nähe von Elisabeth Müller
AbsolventInnen der Filmschule Gdynia zeigen in fünf Kurzfilmen Gespür für alltägliche und nicht so alltägliche Probleme des Lebens wie Drogen, Abtreibung, Pubertät und Auswanderung. mehr

 

Bittersüßes – über Leben und Tod von Olga Pokrzywniak
Was ist so komisch an einer sterbenden Mutter, einem kranken Vater und deren Töchtern, die sich dauernd streiten? Wer sich unter Kinga Dębskas Tragikomödie Moje córki krowy (Meine doofen Töchter, 2015) ein düsteres Familiendrama vorstellt, wird positiv überrascht sein. mehr

 

Wach auf! von Paula Sawatzki
In Annas Leben ist der Traum von der vermeintlich besseren Welt namens USA zum Greifen fern. Der georgische Film Anas Ckhovreba (Annas Leben) von Nino Basilia lässt spüren, was es bedeutet, wenn eine alleinerziehende Frau für die Zukunft ihres Sohnes und sich selbst kämpft, doch auch, dass tickende Zeitbomben nicht immer hochgehen müssen. mehr

 

Gottes rechte Hände von Anja Schulze
Alkohol, Drogen, Elektromusik und religiöser Extremismus in Israel. Der Film Ha-mashgichim (God’s Neighbors, 2012) liefert einen Einblick in das jüdische Glaubensleben der radikaleren Art. mehr

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