Causa Julija Cvetkova: Viva la Vulva gegen die Allianz von Staat und Kirche

Die russische Aktivistin und Theaterregisseurin Julija Cvetkova ist nach drei Jahren Hausarrest, Gerichtsprozessen und Bedrohungen Ende November 2022 freigekommen. Als Aktivistin für LGBT-Rechte ist sie kein Einzelfall. Queere Menschen werden als „störende Verwestlichung“ diffamiert, das macht sie besonders während des Russisch-Ukrainischen Krieges zur öffentlichen Zielscheibe und zur Exemplifizierung des Feindes im Inneren.

novinki stellt Cvetkovas vielseitiges Schaffen vor.

 

Der Fall Julija Cvetkova , eine russische Künstlerin, Aktivistin und Jugendtheater-Regisseurin, sorgte die letzten drei-vier Jahre für internationale Empörung und Anteilnahme. Für das Erstellen und Veröffentlichen queer-feministischer Zeichnungen u.a. in sozialen Medien drohten der jungen Aktivistin aus Chabarowsk bis zu sechs Jahre Haft. Ende November 2022 kam Bewegung in das Verfahren und mit ihr die Erleichterung: Freispruch. Eine zynische Geste, denn am Tag des Freispruchs lagen Hausarrest und Strafverfahren am 22. November 2019 genau drei Jahre zurück. Ihr Fall steht beispielhaft für die rechtsnational-konservative und autoritäre Innenpolitik Russlands, wie sie sich schon vor Beginn des russischen flächendeckenden Angriffskriegs auf die Ukraine im Februar 2022 zu erkennen gab.

Als Julija Cvetkova im November 2019 in ihrer Heimatstadt Komsomolsk am Amur, im Osten Russlands, von der Polizei festgenommen und verhört wurde, sollten für sie Hausarrest, mehrere Gerichtsprozesse, Schikanen und ein Hungerstreik folgen. Auch Schikanen in Form einer verordneten psychiatrischen Untersuchung im Februar 2020 erlebte die queere Feministin aus Chabarowsk. Der im Hauptprozess erhobene Vorwurf lautete: „Herstellung und Verbreitung von pornographischem Material“ nach Paragraf 242 (3b) des russischen Strafgesetzbuchs. Die Nebenanklagen bezogen sich auf den Vorwurf der Propaganda „nicht-traditioneller Beziehungen“. Nach dreijähriger Prozessdauer schließlich bestätigte Ende November 2022 das Landgericht Chabarowsk in einer Berufungsverhandlung den im Juli 2022 in erster Instanz durchgebrachten Freispruch – und das trotz vielfacher Bemühungen der Staatsanwaltschaft, die das Verfahren immer wieder zu verlängern versucht hatte. Neben dem Hauptverfahren wurde sie allerdings im Rahmen dreier weiterer Anklagen mit Geldstrafen belegt. Im Falle einer Verurteilung in allen Verfahren hätten Cvetkova schlimmstenfalls bis zu sechs Jahren Straflager-Haft gedroht.

Queere Menschen als „westlicher“ Feind im Inneren

 

Menschen mit diversen sexuellen Orientierungen werden infolge der Verabschiedung eines neuen Gesetzes zum Verbot von Geschlechtsangleichung vom 13. Juli 2023 endgültig kriminalisiert: Schon zuvor war queeren Menschen schlichtweg die Existenz untersagt, queere Beziehungen durften nicht mehr gelebt werden, transsexuelle Menschen mussten sich verstecken. Selbst jedwedes Sprechen über Homosexualität oder Transgeschlechtlichkeit galt bereits als „westliche“ und somit feindliche Propaganda – und wurde im Dezember 2022 (ein Monat nach Cvetkovas Entlassung) in einer Gesetzesänderung mit Pädophilie gleichgesetzt. Doch nun sind auch Operationen und Hormonbehandlungen, die nötig sind, um das Geschlecht anzugleichen, gesetzlich verboten. Trans und Inter darf es dem Kreml‘ zufolge nicht geben.

All diese rechtlichen Verschärfungen gehen auf das 2013 in Kraft getretene „Gesetz zum Verbot der Propagierung nichttraditioneller sexueller Beziehungen“ zurück, das bis Dezember 2022 bloß für Minderjährige galt. Die Altersangabe 18+, derer sich NGOs und Medien u.a. zur Legitimierung gegenüber dem Gesetz über die „Propaganda für Beziehungen unter Minderjährigen“ in Russland bedienten, konnte Cvetkova allerdings schon damals vor Gericht nicht vor der Willkür des Staates schützen.

Die Allianz von Kirche und Staat hat nicht nur den Weg zu einer breiten Akzeptanz von Putins Krieg gegen die Ukraine geebnet. Durch ihren Einfluss hat sie u.a. die politisch-motivierte Homophobie gesellschaftsfähig gemacht. Nach dem Religionssoziologen Detlef Pollack ist die Zahl derer, die sich mit der Orthodoxie identifizieren, von 1990 bis 2020 von einem Drittel auf mehr als zwei Drittel gestiegen; die Zahl der Gläubigen stieg von 44 auf 78 Prozent. Zusätzlich zum Schulfach Religion, das eine freie Wahl der Konfession gewährleistete, ist 2007 das Pflichtfach „Grundlagen der orthodoxen Kultur“ an staatlichen Schulen hinzugekommen. Auch die Stiftung zur Förderung russischer Kultur „Russkij mir“ (Russische Welt) wurde von der Russisch-Orthodoxen Kirche in Zusammenarbeit mit russischen Politideologen erarbeitet, die in über 29 Ländern Ableger haben.

Patriarch und Präsident geeint haben einen neuen „Nationalstolz“ in Abgrenzung zum Westen und dessen Werten entwickelt: „Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die Kirche zum Hoffnungsträger einer gedemütigten Nation“ , sagt Detlef Pollack. Seit den 1990er Jahren pflegen russische Intellektuelle Kontakte mit religiös motivierten fundamentalistischen Gruppierungen der ganzen Welt; so fand beispielsweise die Gründung des sogenannten „World Congress of Families“ 1997 in Moskau in Kooperation zwischen dem Regierungsvertreter der damaligen Reagon-Regierung und den russischen Intellektuellen Anatoly Antonov und Viktor Medkov statt. Seitdem hat sich diese Bewegung, mit Sitz in Rockford, Illinois, die Verteidigung der „natürlichen Familie, definiert als heterosexuell verheiratete Paare mit deren biologischen Kindern“, zum Ziel gesetzt. Der damalige WCF-Geschäftsführer Larry Jacobs bezeichnete das russische Propaganda-Gesetz von 2013, das LGBT-Personen daran hindern soll, dass Kinder vermeintlich korrumpiert werden könnten, eine „großartige Idee“.

Rechte christliche internationale Kräfte wissen sehr genau um die Allianz von Staat und Russisch-Orthodoxer Kirche, wenn sie – wie etwa der frühere Produzent von Fox News und Mitglied des WCF Jack Hanick – die russische Orthodoxie und den Bau von über 25.000 Kirchen seit dem Zerfall der Sowjetunion loben. Auch anderen homophoben, weißen, rechtskonservativen Christen, so auch den Nationalisten Matthew Heimbach, den Alt-Right Führer Richard Spencer oder dem Ku Klux Klan-Anwalt Sam Dickson, erscheint Russland mit seinem auf der Orthodoxie basierenden Nationalismus als Verbündeter für ein traditionelles biologistisches Familienbild und globales Bollwerk des Christentums gegen das freie Ausleben unterschiedlicher sexueller Orientierungen, Bedürfnisse und Beziehungen.

 

Julija Cvetkova ist kein Einzelfall: Aktivistische Kunst unter Beschuss

In Reaktion auf die absurde juristische Verfolgung der jungen Feministin aus Chabarowsk sind landesweit und international zahlreiche Proteste organisiert worden. So fand im Sommer 2020 in Berlin im Rahmen des „Red Square“, einem transdisziplinären Festival für Aktivismus und kritische Kunst aus Osteuropa, eine Ausstellung der Theaterpädagogin und Kuratorin Kyra Shmyreva‌ statt. Neben Straßendemonstrationen vor der Russischen Botschaft gab es zudem digitalen Support: Aktivist_innen verbreiteten in Foren, auf Webseiten und Social Media-Kanälen die Parolen: „Mein Körper ist keine Pornographie“ und „Mein Körper, meine Sache“. In Russland wurden Proteste, die „Freiheit für Julija Cvetkova“ verlangten, brutal aufgelöst.

Amnesty International sowie die in Russland bereits verbotene Organisation Memorial (konkret die internationale Dachorganisation und das Moskauer Menschenrechtszentrum) stuften Cvetkova aufgrund ihres äußerst brisanten Falls als politische Gefangene ein. Sie erhielt Morddrohungen, Polizisten veröffentlichten ihre private Wohnadresse und stellten ein Vernehmungsvideo ins Netz, in dem sie als „Lesbe, Sexualtrainerin und Propagandistin“ diffamiert wird. Auch Cvetkovas Mutter wurde Ziel von Attacken. Deshalb startete Amnesty International einen supranationalen Aufruf zur Beendigung dieser repressiven Maßnahmen gegen sie. Der Forderung, Julija Cvetkovas Arbeits- und Publikationsverbot aufzuheben und sie frei zu lassen, schlossen sich über 150 weltweit agierende Kunstschaffende an. Die öffentlich-rechtliche BBC listete Cvetkova unter die hundert einflussreichsten Frauen des Jahres 2020.

Die internationale Aufmerksamkeit blieb lange erfolglos: Ganz im Gegenteil führte die internationale Unterstützung dazu, dass Julija Cvetkova zum „ausländischen Agenten“ erklärt wurde. Das Gesetz über „ausländische Agenten“ hat seit 2012 unliebsame NGOs adressiert und ähnlich wie das „Propaganda-Gesetz“ über die Jahre eine Verschärfung erfahren. Seit 2017 trifft es Medien, seit 2019 können Einzelpersonen zu „ausländischen Agenten“ erklärt werden, seit 2022 ist es noch willkürlicher nach Interpretation des Justizministeriums einsetzbar.

Als Aktivistin ist Julija Cvetkova kein Einzelfall: Seit 2013 hat sich in Russland die Lage für Queerfeminist_innen, Regenbogenfamilien und Menschenrechtsbewegungen grundlegend verschärft. Diese Entwicklungen in der russischen Provinz stehen im Kontext zu anderen Regionen bzw. Ländern Osteuropas; auch derer, die in der Europäischen Union sind. Die menschenverachtende Annahme, sexuelle Orientierungen seien Ideologien und westlicher „Lifestyle“, zeigte unter anderem in Polen schwerwiegende Folgen: Ein Drittel aller Kommunen und Städte labelte sich seit 2019 als „LGBT-Ideologie-freie Zonen“. In Ungarn wurde die Geschlechterforschung als Masterstudiengang 2018 abgeschafft, außerdem wurde Bürger_innen die Änderung von Personenstandsdaten im Standesamt verboten. Die Ereignisse in Russland reihen sich in diesen Kulturkampf ein – gehen in ihrer Funktion als Kriegsstrategie jedoch deutlich darüber hinaus.

Aktivistisches Balagan-Jugendtheater „Merak“ und Vulva-Monologe

Die Kinder- und Jugendtheater-Gruppe, die Julija Cvetkova leitete und für welche sie auch diverse Stücke schrieb, wurde im März 2019 Ziel einer offen queerfeindlichen Kampagne. Das Konzept des Jugendtheaters klingt bereits im Namen an. Die Gruppe erarbeitete ein diverses Performancestück mit dem Titel „Blau und Rosa“ zum Abbau von genderbasierten Vorurteilen, Mobbing und Diskriminierung. Ganz nach der Idee des durch Augusto Boal begründeten „Forumtheaters“ sollte dieses Stück das Publikum involvieren und Handlungsimpulse geben. Methodisch werden hierbei Strategien der Selbstermächtigung und -bestimmung (sog. Empowerment) eingesetzt, um eine benachteiligte und marginalisierte Gruppe sprechen lassen zu können. Die Jugendlichen im Alter von sieben bis siebzehn Jahren brachten eigene Ideen mit, aus denen dann unter Anleitung der Theaterprädagogin eigene Zugänge entwickelt wurden. Nach Polizeiermittlungen durfte Cvetkova ihre Arbeit nicht fortsetzen – und die Theatergruppe, die sie 2018 gegründet hatte, musste ihre Arbeit ebenfalls einstellen. Der Vorwurf „Propaganda für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen zwischen Minderjährigen“ stand schmähend im Raum.

Die Bilderserie „Ženščina ne kukla“ (engl.: “A Woman Is Not A Doll“) widmet sich dem Thema der Körperpositivität, für die sie mit einer Geldbuße von 75.000 Rubel (in Euro nach jetzigem Kurs ca. 747 Euro) verurteilt wurde – das ist nur einer von drei administrativen Prozessen neben der Hauptanklage. Für ebenjene Zeichnungen wurde Cvetkova nach Paragraf 242 (3b) des russischen Strafgesetzbuchs der „Herstellung und Verbreitung von pornographischem Material“ bezichtigt. Zu sehen sind selbstbewusst lächelnde weibliche Figuren, die etwa menstruieren, schiefe Zähne haben, Behaarung, Falten, Speckröllchen, Knochen, Pickel, Muskeln und viele weitere menschliche Normalitäten. Auch diese Serie trägt eine aktivistische Handschrift, die Betrachtende empowern will.

Ihre Zeichnungen, die Cvetkova in sozialen Netzwerken veröffentlichte, betrachten sowohl die queer-feministische Künstlerin als auch Kunstexpert_innen, wie etwa die russische „Assoziation der Theater-Kritiker“ oder die amerikanische Dramatikerin Eve Ensler, nicht als Pornografie, sondern berufen sich – unter Verweis auf Gemälde großer Meister von nackten Frauen, die in Museen der Welt zu sehen sind, – auf die Kunstfreiheit. Viele prominente Russ_innen aus dem Show- und Mediengeschäft, Menschenrechtler_innen und Politiker_innen hatten das Vorgehen der Justiz gegen Cvetkova ab 2019 verurteilt. Die Anklage und drohende Haftstrafe von sechs Jahren rief vielfach Reaktionen von Künstler_innen hervor, wie etwa von der zeitgenössischen russischen Dichterin Galina Rymbu. Sie veröffentlichte auf dem ukrainischen Portal ShO (shoizdat.com) das Gedicht „Moja vagina“ (dt.: „Meine Vagina“) mit der Hashtag-Markierung unterhalb des Gedichts „Für Yulia“ (#заЮлю). Das Gedicht von Galina Rymbu spielt auch stilistisch an die von Yulia vormals betriebene gleichnamige Gruppe im russischen Facebook-Äquivalent Vkontakte „Monologi variny“ („Vagina-Monologe“) an, in dem sie durch Postings verschiedener künstlerischer Vagina- und Vulva-Darstellungen gegen Stigmatisierung (wie etwa der Menstruation) vorgehen und zur Erkundung des weiblichen Organs aufrufen wollte.

Wenn auch von der ausgebildeten Theaterpädagogin Julija Cvetkova selbst nicht ausgewiesen, so stellen sich ihre Vagina-Monologe in die Tradition des gleichnamigen Theaterstücks und Buchs der New Yorker Theaterautorin Eve Ensler, The Vagina Monologues, uraufgeführt als Solo-Performance in New York 1996. Dreieinhalb Jahre wurde es anschließend am Off-Broadway gespielt, Ensler erhielt zahlreise Preise. In Russland gab es Adaptionen im DOK-Theater 2018 (Moskau) und im Konzertsaal des Museums Erarta-Scena 2016 (Sankt Petersburg).

In dem 2021 geschriebenen Gedicht von Galina Rymbu avanciert die Vagina zu einer Kampfansage: an Militarismus, imperialistische, von Männern gemachte Kriege und Machtansprüche. Es liest sich unter den Vorzeichen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auch als ein feministisches Antikriegs-Gedicht, von einer russischsprachigen und in Omsk geborenen Schriftstellerin, die allerdings seit vielen Jahren in Lwiw lebt und deren Großeltern aus der Ukraine (Region Charkiw) nach dem ersten und zweiten Holodomor nach Sibirien fliehen mussten. Cvetkovas Theater „Merak“ hat sich im Übrigen auch als pazifistisches Projekt gegen die schon damals allmählich wachsende Militarisierung der russischen Gesellschaft verstanden, da es öffentlich zu Antikriegs-Filmabenden einlud oder im Jugend-Theaterstück „Segne den Herrn und seine Munition“ die Gefahr von Waffen herausarbeitete.

 
Auszug aus dem Gedicht „Meine Vagina“ von Galina Rymbu:

Quelle des Gedichts: https://shoizdat.com/galina-rymbu-moya-vagina/

 

Die Bilder im Textbeitrag stammen von der Webseite „Free Yulia Tsvetkova“ und wurden hier unter Einwilligung der Mutter der Künstlerin veröffentlicht.

 

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