Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

„…das würde dir in Bos­nien eh kein Mensch glauben“

Inter­view mit Miranda Jakiša, Pro­fes­sorin für Süd- und Ost­sla­wi­sche Lite­ra­turen an der Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin

novinki: Zu jugo­sla­wi­scher Zeit galt Ivo Andrić als ein Brü­cken­bauer zwi­schen Nationen. Heute wird behauptet, er habe ein Land des Hasses geschil­dert, in dem die Dif­fe­renzen zwi­schen den Reli­gionen und Nationen als unüber­brückbar erscheinen. Wel­ches Bild Bos­niens zeichnet Ivo Andrić?

Miranda Jakiša: Das ist eine gute und gleich­zeitig auch schwierig zu beant­wor­tende Frage, weil sie sehr dif­fe­ren­ziert beant­wortet werden müsste. Ivo Andrić hat sich in seinem lite­ra­ri­schen Werk obsessiv mit dem Thema Bos­nien befasst, daher gibt es bei ihm viel­fäl­tige Beschrei­bungen Bos­niens, bos­ni­scher Lebensart, des bos­ni­schen Zusam­men­le­bens. Ich glaube nicht, dass man das Bos­nien-Bild Andrićs auf eine ein­fache Formel bringen kann. Die Apo­lo­geten des Hasses haben Ivo Andrić in einer ganz spe­zi­ellen, eben nicht dif­fe­ren­zierten und – viel­leicht könnte man es so sagen – allzu zuge­spitzten Weise gelesen, sie sind sehr selektiv mit seinen Texten umgegangen.

n.: Wo liegen denn die Missverständnisse?

M.J.: Das ist sehr gut gefragt, denke ich, wenn man von einem Miss­ver­ständnis aus­geht. Ich glaube, es sind ver­schie­dene Dinge. Ich würde mit einem Pro­blem beginnen, das viele Autoren, nicht nur Ivo Andrić betrifft: Sie werden his­to­risch dekon­tex­tua­li­siert gelesen. So liest man in den 1990er Jahren Texte, die in den 1940er Jahren erschienen sind und ver­steht sie als State­ments, die man in der Gegen­wart inter­pre­tieren kann. Das halte ich für ein grund­sätz­li­ches Pro­blem. Das große Miss­ver­ständnis, wenn wir es Miss­ver­ständnis nennen wollen, das sein Werk betroffen hat, liegt darin, dass man sich wei­gert, die Viel­fäl­tig­keit der Aus­rich­tungen dieser Bos­nier, die Ivo Andrić dar­stellt, und die kom­plexe Geschichte, die er immer wieder beschreibt, als solche wahr­zu­nehmen. Meines Erach­tens will Ivo Andrić Bos­nien als Ort beschreiben, der dop­pelt aus­ge­richtet ist. Bos­nien hat – heute müsste man das in Anfüh­rungs­zei­chen setzen – einen Orient- und einen Okzi­dent-Bezug, der his­to­risch durch­gängig die hoch­kom­pli­zierte Situa­tion in Bos­nien bestimmt. Beide Aus­rich­tungen sind immer da. Wenn man selektiv nur die Beschrei­bung der einen aus Andrićs Werk liest, unab­hängig davon, wer die Sätze spricht, die zitiert werden, dann kann man natür­lich den Ivo Andrić erschaffen, den nicht wenige in den 1990er Jahren als Apo­lo­geten des Hasses gelesen haben.

n.: Ist Andrić ein Apo­loget einer Zwei-Welten-Theorie? Sieht er also das Auf­ein­an­der­treffen des Ori­ents und des Okzi­dents in Bos­nien als das Kern­pro­blem dieser Gesellschaft?

M.J.: Zwei­fels­ohne ist Ivo Andrić, das sage ich mit einer gewissen Ein­schrän­kung, jemand, der in seinen Texten eine Zwei-Welten-Theorie ver­tritt. Dabei muss man das heute unter ver­schie­denen Maß­gaben betrachten. Das eine ist die Tat­sache, dass Ivo Andrić aus rein his­to­ri­schen Gründen mit einer gewissen Nai­vität von diesen beiden Welten – daher erwähnte ich eben die Anfüh­rungs­zei­chen – spricht. Ich bin mir sicher, dass ein Intel­lek­tu­eller wie Ivo Andrić in der heu­tigen Zeit diese Bos­nien-Dar­stel­lungs­form nicht mehr wählen würde.

Was er zu seiner Zeit tat­säch­lich getan hat, ist Geschichten erzählen, die Bos­nien in dieser dop­pelten Aus­rich­tung nach­zeichnen. Ich würde das die Zwei­ge­rich­tet­heit der Kultur nennen. Sein Zugang zum Syn­kre­tismus Bos­niens, den er ja nie als befrie­dete Zone des har­mo­ni­schen Mit­ein­an­ders beschreiben möchte, ver­läuft ent­lang his­to­ri­scher Linien, in denen die Aus­rich­tung Orient oder die Aus­rich­tung Okzi­dent in unter­schied­li­chem Ausmaß eine Rolle spielt. Inso­fern ist er ein Ver­treter einer Zwei-Welten-Theorie. Diese ist aber, würde ich sagen, nie­mals so kon­zi­piert wie die Zwei-Welten-Theorie etwa in Samuel Hun­ting­tons Clash of Civi­liza­tions. Es geht also nicht um die Vor­stel­lung von Kul­turen im Kampf mit­ein­ander und schon gar nicht um Islam als Feind­bild. Andrić geht es um die kul­tu­relle Aus­rich­tung Bos­niens. Sie ist gewis­ser­maßen gespalten und weist – his­to­risch jeweils unter­schied­lich aus­ge­prägt – gleich­zeitig in zwei Rich­tungen. Das ist kein Wider­spruch, son­dern für Andrić das Wesen und Schicksal Bosniens.

n.: Die Inter­preten sehen in Andrićs Werk nicht nur den Ant­ago­nismus zwi­schen den beiden Welten, dem Orient und dem Okzi­dent, son­dern vor allen Dingen auch den Ant­ago­nismus zwi­schen den ein­zelnen reli­giösen und natio­nalen Gruppen in Bos­nien. Wie kommen diese Gruppen in diesem Werk vor, wie ver­stän­digen sie sich unter­ein­ander, gibt es da nur ein Gegen­ein­ander oder gibt es auch ein Wir-Gefühl?

M.J.: Ivo Andrićs Beschrei­bung Bos­niens umfasst die Dar­stel­lung all der unter­schied­li­chen Gruppen, die sich dort befinden. Er spricht viel­fach von „den Serben“, er spricht mit­unter auch von „den Ortho­doxen“, es gibt immer wieder katho­li­sche Figuren, beson­ders Fran­zis­ka­ner­mönche, die eine große Rolle in seinen Erzäh­lungen spielen. Es kommen mus­li­mi­sche Figuren bei ihm vor und auch „cigani“ (Zigeuner). Juden sind eben­falls viel­fach Prot­ago­nisten seiner Erzäh­lungen. Aller­dings macht Ivo Andrić in seinen Texten keine eth­ni­schen Unter­schiede zwi­schen all diesen Figuren. Es sind reli­giöse Unter­schiede! Er nennt nun diese Reli­gionen in ihrem Mit‑, teil­weise auch in ihrem Gegen­ein­ander, wobei es aber weniger darum geht, dass inner­halb Bos­niens reli­giöse Aus­ein­an­der­set­zungen statt­finden. Im Gegen­teil! Es gibt bei ihm so viele Texte des Mit­ein­an­ders, dass ich immer wieder bedaure, wie wenig sie zitiert werden, gerade im Ver­gleich zu jenen Romanen und Erzäh­lungen, in denen man Tren­nungen aus­macht. Wenn man sich die lite­ra­ri­schen Texte Ivo Andrićs genauer ansieht, dann sind die Dif­fe­renzen, die es dort gibt, die Schwie­rig­keiten zwi­schen Reli­gionen oder den Welt­aus­rich­tungen auf Orient und Okzi­dent, eigent­lich ohnehin der Rede von Fremden in Bos­nien vor­be­halten. Es sind die diplo­ma­ti­schen Ver­treter, es sind Kon­suln, Bot­schafter in Bos­nien, es sind auch die osma­ni­schen Wesire, die solche Unter­schiede reli­giöser Art auf­ma­chen. Wenn die bos­ni­schen Figuren, also diese viel­fäl­tigen, oft auch reli­giös unter­schie­denen Bos­nier bei Ivo Andrić spre­chen, dann werden Unter­schiede benannt, dis­ku­tiert, aber letzt­lich gemein­schaft­lich abge­han­delt. Warum wird in der pole­mi­schen Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Werk Ivo Andrićs nicht die Erzäh­lung Die Probe (Proba) her­an­ge­zogen, in der der Fran­zis­ka­ner­mönch Ser­afin mit seinem mus­li­mi­schen Freund Ras­imbeg spricht? Beide Figuren sind betrunken, als Ras­imbeg erwähnt, dass Ser­afin, der Fran­zis­kaner, einen guten Muezzin abge­geben hätte. Ras­imbeg legt ihm also die Kon­ver­sion nahe. Der Fran­zis­kaner ent­gegnet, er müsste gestehen, er habe sich das auch schon mal über­legt. Dar­aufhin sei ihm aller­dings im Traum Jesus Christus erschienen mit einem Hin­weis, den ich Ihnen gern hier zitieren würde: „Er [Jesus] sagt nichts, aber sieht mich an, schaut und bewegt den Kopf, als sage er, Ser­afin, Ser­afin, las­ter­hafter Sohn, glaubst du etwa, ich sehe nicht, wer was denkt? Ich erschrak, näherte mich seiner Hand, fiel auf die Knie und sagte ihm auf­richtig alles, was ich vor­hatte. (…) Bruder Ser­afin, sagte er mild zu mir, du willst den Glauben wech­seln? Was willst du damit errei­chen? Auch in deinem jet­zigen Glauben fas­test du nicht und betest nicht zu Gott, wie man es sollte, dann wirst du das auch im neuen nicht. Und was das Leben anbe­langt, auch jetzt lebst du mehr oder weniger wie ein Türke. Wenn ich es dir ehr­lich sagen soll, Fra Ser­afin, die Sache mit den Reli­gionen ist nicht so wichtig hier bei uns – in dieser Welt, wie sie es dort ist bei euch, vor allem in Bos­nien. Hier, wenn du es wissen willst, fragt man gar nicht, wer wel­chen Glau­bens ist, son­dern wie er von Herzen und von der Seele her ist. Danach urteilen wir. Also, das habe ich dir gesagt, denn auch du warst auf­richtig zu mir. Aber sag dies nie­mandem, denn das würde dir in Bos­nien eh kein leben­diger Mensch glauben, und es könnte dir schlecht ergehen.“ Ich denke, diese Pas­sage gibt die Hal­tung, die Ivo Andrić in Bezug auf das reli­giöse Mit­ein­ander in Bos­nien ver­tritt, ziem­lich gut wieder.

n.: Gleich­wohl bleibt die Frage, ob der Autor und der Erzähler Andrić Partei für eine Seite ergreift? Wenn ja, wo macht sich das bemerkbar? Man hat den Ein­druck, dass er im Roman Wesire und Kon­suln (Trav­nička hro­nika) sein eigenes Denken über lange Mono­loge eines Serben trans­por­tiert. In der Brücke über die Drina (Na Drini ćuprija) flicht er an ver­schie­denen Stellen – nicht sehr häufig, aber in mar­kierten, wich­tigen Pas­sagen – ein ser­bi­sches „Wir“ ein.

M.J.: Eine Par­tei­nahme würde ich Ivo Andrić nicht unter­stellen wollen. Es gibt genü­gend von denen, welche eine meiner Mei­nung nach selek­tive Lek­türe betreiben, da werde ich mich nicht auch noch ein­klinken. Diese Lek­türen sind ange­sichts der Texte nicht ver­tretbar. Sie spra­chen von einem ser­bi­schen „Wir“, das in der Brücke über die Drina aus­findig zu machen sei, und ich sehe das eben nicht! Ich denke, wenn man das gesamte Werk betrachtet, gibt es tat­säch­lich meh­rere „Wir“. Es hängt immer davon ab, in wel­cher Zeit wir uns in Andrićs Erzäh­lungen befinden, in wel­cher kon­kreten Kon­stel­la­tion und an wel­chem geo­gra­phi­schen Ort. Von einer ein­deu­tigen Par­tei­nahme sehe ich nichts, im Gegen­teil, ich sehe etwas anderes. Wenn Sie nach dem Autor und Erzähler Andrić fragen, und damit vor­aus­setzen, beide seien iden­tisch, dann muss ich natür­lich als Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lerin wider­spre­chen. Eine solche Gleich­set­zung stellt einen Kurz­schluss dar. Der Erzähler eines Textes ist eine Instanz, die eine wich­tige ästhe­ti­sche Rolle in der Kon­zep­tion eines lite­ra­ri­schen Textes spielt, die aber kei­nes­falls mit dem Autor gleich­ge­setzt werden kann, also mit der his­to­ri­schen Person außer­halb des Textes. Und wenn wir uns diesen Erzähler in Andrićs Texten anschauen, dann ist das in der Tat eine span­nende Instanz. Wir finden so gut wie immer einen aukt­orialen, also auto­ritär über Bos­nien schwe­benden Erzähler vor, der alles weiß. Er weiß mehr als die bos­ni­schen Gemeinden, die er jeweils beschreibt, von sich selbst wissen. Die über­ge­ord­nete Erzähl­in­stanz berichtet mit einem Zoom­blick von ver­schie­denen Orten in Bos­nien zu unter­schied­li­chen his­to­ri­schen Zeiten. Die Beschrei­bungen sind dann vom Spre­cher und der His­torie abhängig. Und wenn wir den Roman Wesire und Kon­suln betrachten, nach dem Sie fragen, können wir sehr genau sehen, dass zum Bei­spiel das Wort „Orient“ oder auch „Türken“ sehr häufig vor­kommt, aber stets in der Rede von Nicht-Bos­niern. Es sind also nicht die Serben, die von „Türken“ inner­halb der beschrie­benen Stadt spre­chen, son­dern es sind die Aus­länder, die in Bos­nien weilen. Ich glaube, das sind die feinen Unter­schiede, die man genauer betrachten müsste. Von einer Par­tei­nahme sehe ich nichts bezie­hungs­weise ich glaube, man könnte ganz unter­schied­liche Par­tei­nahmen im Werk von Ivo Andrić kon­stru­ieren, wenn man sich bei der Lek­türe auf die ent­spre­chenden Posi­tionen kon­zen­triert. Der Autor Andrić – das ist noch einmal eine ganz andere Geschichte, die man bio­gra­phis­tisch angehen kann. Ich tue das nicht.

n.: Sie haben das sehr ein­drucks­voll wider­legt. Zugleich möchte ich Ihnen ein wei­teres Vor­ur­teil ser­vieren. Kann man Andrić nicht doch als Gegner des mul­ti­kul­tu­rellen Bos­nien sehen, als jemanden, der die Bewe­gungs­lo­sig­keit, die Fort­schritts­feind­lich­keit, die Inhu­ma­nität sehr deut­lich her­aus­stellt, wenn man seine Dis­ser­ta­tion mit einbezieht?

M.J.: Die Frage habe ich erwartet. Ich freue mich, dass Sie sie stellen und beant­worte sie viel­leicht so: Sie haben genü­gend Per­sonen, die Ihnen infor­mierte Aus­kunft über die Dis­ser­ta­tion geben können und geben wollen. Als Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lerin unter­suche ich seine lite­ra­ri­schen Texte, weniger seine diplo­ma­ti­schen oder seine his­to­ri­schen Schriften. Und es han­delt sich hier um eine his­to­ri­sche Schrift. Ich möchte dazu aller­dings, wenn wir schon von der Person Ivo Andrićs spre­chen, doch ein bio­gra­phi­sches Detail erwähnen. Ivo Andrić war zum Zeit­punkt des Erschei­nens der Dis­ser­ta­tion Anfang der 1920er Jahre bereits län­gere Zeit im diplo­ma­ti­schen Dienst. Er hatte vorab in der Vor­kriegs­zeit an ver­schie­denen Habs­burger Uni­ver­si­täten stu­diert, der Erste Welt­krieg ver­hin­derte einen Abschluss. Als es Jahre später im diplo­ma­ti­schen Dienst des dama­ligen Staates Jugo­sla­wien plötz­lich zur Vor­aus­set­zung wird, über einen Hoch­schul­ab­schluss zu ver­fügen, ist die Pro­mo­tion die ein­fachste Lösung. Andrićs Dis­ser­ta­tion soll an der Uni­ver­sität Graz inner­halb kür­zester Zeit ein­ge­reicht werden. Dieses sehr prag­ma­ti­sche Detail, den Zeit­druck und die Gründe für diese his­to­rio­gra­phi­sche Arbeit gilt es mit zu berück­sich­tigen, wenn von den Inhalten dieser Dis­ser­ta­tion die Rede ist. Heute sind in Deutsch­land solche Pro­mo­tionen ‚für den Lebens­lauf‘ ja viel im Gespräch.

Andrićs Dis­ser­ta­tion möchte ich dar­über hinaus nicht kom­men­tieren, ich habe mich dazu aber in Publi­ka­tionen geäußert.

n.: Einige pro­mi­nente bos­nia­ki­sche For­scher, auch Poli­tiker und Publi­zisten, werfen Ivo Andrić vor, er habe gar das Ter­rain für Kriegs­ver­bre­chen gegen die bos­ni­schen Mus­lime in den 1990er Jahren bereitet. Sie ver­weisen auf einige Gewalt­szenen, z.B. in der Brücke über die Drina auf die Pfäh­lung, die mög­lichst lang­wie­rige Fol­te­rung eines Serben, oder auf eine Szene in Wesire und Kon­suln, wo in der Gegen­wart des Wesirs nach einem Erobe­rungs­feldzug die abge­schnit­tenen Kör­per­teile der Besiegten, Nasen und Ohren, prä­sen­tiert werden. Was kann man Inter­preten, die sagen, Andrić habe den Hass geschürt, entgegenhalten?

M.J.: Man sollte den Inter­preten, die Ivo Andrić in dieser Weise lesen, vor allem ent­ge­gen­halten, dass sie, wenn sie lite­ra­ri­sche Texte schon his­to­risch lesen, dies doch bitte in der Erschei­nungs­zeit – Anfang der 1940er Jahre bezie­hungs­weise 1945 – tun sollten. Worum es viel eher geht, wenn man diese grau­same Beschrei­bung einer Pfäh­lung betrachtet, ist nicht die Bru­ta­lität des reli­giösen Zusam­men­le­bens, son­dern die Bru­ta­lität der Geschichte, der geschicht­li­chen Ereig­nisse. Über die Erfah­rung geschicht­li­cher Grau­sam­keit in Jugo­sla­wien mit einer stark dezi­mierten Bevöl­ke­rung im Jahr 1945 und über­haupt über die Bru­ta­lität der Geschichte im Nach­kriegs­eu­ropa brauche ich wohl nicht viele Worte zu ver­lieren. Dann erscheint es, denke ich, in einem anderen, weniger ein­fach isla­mo­phob deut­baren Licht, dass hier die Osmanen als bru­tale Besatzer auf­treten. Es ist die Bru­ta­lität der Geschichte und kei­nes­falls die Bru­ta­lität des reli­giösen Zusam­men­le­bens, die hier zum Aus­druck kommt. Was aber grund­sätz­lich anzu­merken bleibt, ist nach wie vor die theo­re­tisch auch schwer zu beant­wor­tende Frage, wie denn Lite­ratur über­haupt in Geschichte ein­greifen kann. Das wird Andrić ja unter­stellt. Über­spitzt kann man fragen: Wie wird denn Kunst zum Ver­bre­chen? Das ist eine Frage, die nicht unbe­ant­wortbar, aber recht kom­pli­ziert ist. Gerade jene, die Ivo Andrić als Weg­be­reiter des Krieges beschreiben, ver­kennen die Kom­ple­xität einer sol­chen Fra­ge­stel­lung. Man könnte ver­ein­facht natür­lich auch immer fragen: Sind lite­ra­ri­sche Texte in ihrer Beschrei­bung für die Inter­pre­ta­tion ver­ant­wort­lich, die ihnen zuteil wird? Und wenn Andrićs Prosa, die in den 1990er Jahren mit sol­chen Lek­türen ver­ge­wal­tigt wurde, das nahe­legt, dann kann man sich auch fragen: Warum wurden sie denn zwi­schen 1945 und den späten 1980er Jahren nicht so gelesen? Warum feiert Jugo­sla­wien Andrićs Nobel­preis in den 1960ern? Die Unter­drü­ckungs­these ist doch lächerlich!

n.: Auch in den 1940er Jahren, als die Werke ent­standen, gab es einen Krieg. Ser­bi­sche Tschet­niks betei­ligten sich an den Ver­bre­chen gegen Mus­lime. Das konnte Andrić nicht ver­borgen bleiben. Aber worauf ich hinaus wollte, das ist das Lite­ra­tur­ver­ständnis des Autors Ivo Andrić. Es gibt Zitate, in denen Andrić, und das ist das Beson­dere an ihm, Lite­ratur als bes­seren Garanten der his­to­ri­schen Wahr­heit hin­stellt denn die Geschichtsschreibung.

M.J.: Also, das sind zwei Fragen. Viel­leicht die erste: Ich finde es sehr inter­es­sant, dass Sie gerade dieses Erschei­nungs­jahr 1945 und die schwie­rige his­to­ri­sche Situa­tion Jugo­sla­wiens noch mal auf­rufen. Sie haben ganz Recht, dass natür­lich auch immer die Kon­stel­la­tion des neu gegrün­deten Jugo­sla­wien, das mit einer sehr kom­pli­zierten, wech­sel­vollen Geschichte umzu­gehen hat, in Ivo Andrićs Dar­stel­lung der bos­ni­schen Viel­falt inter­fe­riert. Das ist ein inter­es­santer Gedanke, der wahr­schein­lich bei der Inter­pre­ta­tion seiner Texte viel zu wenig betrachtet wird. Im Grunde müsste man ja vor Ivo Andrić, dem über­zeugten Jugo­slawen, den Hut ziehen und sagen: Na, der hat den Mut, 1945 die Kom­ple­xität der Lage lite­ra­risch zum Aus­druck zu bringen, anstatt eine Geschichte vom fröh­lich-ver­einten ein­heit­li­chen Jugo­sla­wien zu erzählen, wie es ja in spä­teren Jahr­zehnten auch der Fall war, als die Unter­schiede mehr oder weniger geleugnet oder ein­ge­ebnet wurden. Was Ivo Andrićs Ein­stel­lung zur Lite­ratur und Ihre zweite Frage anbe­langt, es ist wahr: Das ist unheim­lich inter­es­sant zu sehen, dass er eine impli­zite Theorie zur Inter­fe­renz von Fakt und Fik­tion ent­worfen hat, die der Lite­ratur mehr Wahr­heits­ge­halt als der Geschichte zuspricht bzw. den erfun­denen Cha­rakter der Geschichts­schrei­bung her­aus­stellt. Man könnte fast sagen, man findet bei Andrić einen Gedanken vor­weg­ge­nommen, wie er sich dann in der Geschichts­wis­sen­schaft seit Hayden Whites Meta­history durch­setzen wird: Den nar­ra­tiven Cha­rakter von Geschichts­schrei­bung, die selbst natür­lich den Struk­turen des Geschich­ten­er­zäh­lens unter­worfen ist. Sie bringt Geschichten hervor, die bestimmte Wahr­heiten kon­stru­ieren und selektiv wahr­neh­mend Wissen erzeugen. Das hat Ivo Andrić in seinen lite­ra­ri­schen Texten vor­weg­ge­nommen. Andrić erzählt dann gewis­ser­maßen die Geschichte Bos­niens lite­ra­risch und es gibt auch Essays von ihm, in denen er explizit den Wahr­heits­ge­halt von Lite­ratur über den der Geschichts­schrei­bung stellt. Das alles gilt es aus meiner Warte mit zu bedenken, wenn man hier einen Kriegs­vor­be­reiter oder gar Kriegs­ver­bre­cher im Nach­hinein zeichnen möchte, den man posthum nach Den Haag ver­flucht, um ihn ver­ant­wort­lich zu machen für seine Kunst.

n.: Frau Jakiša, eine kurze Frage zum Schluss: Warum pola­ri­siert die Lite­ratur von Ivo Andrić heute so sehr?

M.J.: Ivo Andrić pola­ri­siert so sehr, weil er einer der wenigen war, der es wagte, den Syn­kre­tismus in Bos­nien in seiner vollen Kom­ple­xität und Dif­fe­ren­ziert­heit auf­zu­schlüs­seln. Wenn man es wagt, all diese Posi­tionen und Grup­pie­rungen in der his­to­ri­schen Breite, die ja Andrićs Spe­zia­lität ist, gegen- und neben­ein­ander zu stellen und sie dar­zu­stellen, dann bietet man natür­lich allen mög­li­chen Par­teien Rei­bungs­fläche und dank­bare Feind­bilder an. Pro­ble­ma­tisch ist hier nicht die Dar­stel­lung der Diver­sität, son­dern der Miss­brauch des daraus Selektierten.

Das Inter­view führten Kse­nija Cvet­ković-Sander und Martin Sander.