Michail Šiškin präsentiert seinen Roman Venushaar auf dem ilb
Das Wort Asyl kommt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie „unberaubt“, „sicher“, eine Zufluchtsstätte oder Freistatt. Es ist ein Raum der Gesetzlosigkeit mitten in den engen Maschen des Gesetzes. Das Recht auf Asyl ist ebenso alt wie das Wort und soll politisch oder religiös Verfolgten Zuflucht bieten. In Deutschland wurde dieses im Grundgesetz festgeschriebene Asylrecht für politisch Verfolgte 1993 erheblich eingeschränkt, nicht nur durch die sogenannte Drittstaatenregelung, sondern auch dadurch, dass das in der Verfassung festgeschriebene Grundrecht seitdem ans Gesetz und die Frage delegiert wird, welche Länder überhaupt als politisch ausreichend unzuverlässig gelten. Das Asylrecht ist damit zum Gegenstand der Gefahrenabwehr geworden. Angela Merkel spricht von den skandalösen Vorgängen an den europäischen Außengrenzen heute als „Flüchtlingsbekämpfung“. Asylsuchende sehen sich seither dem Kampf mit dem „Asylbewerberleistungsgesetz“ sowie einer für ihr Land geltenden Quote ausgesetzt.
Michail Šiškin hat seinen Roman Venushaar (DVA 2011, russ.: Venerin volos, 2005), der besser ist als sein Titel befürchten lässt, gerade auf dem Internationalen Literaturfestival vorgestellt. Der Roman beginnt mit Asylsuchenden und einem Dolmetscher, der für die Schweizer Einwanderungsbehörde arbeitet und die Gespräche mit Flüchtlingen aus der ehemaligen Sowjetunion übersetzen muss. Auch in der Schweiz wurde das Asylrecht im Jahr 2005 verschärft, und zwar nach dem Vorbild Deutschlands. Der Roman nennt diesen Ort die „Flüchtlingskanzlei des Ministeriums für Paradiesverteidigung“ (S. 16). Die Befragung wird zur Untersuchung, zum Verhör, die Asylbewerber zu Angeklagten, denn „für einen abschlägigen Bescheid genügt es, Unstimmigkeiten in den Aussagen des Räubers zu finden“ (S. 17) und so folgt der Beamte der Logik: „Wenn man schon nicht hinter die Wahrheit kommt, sollte man zumindest hinter die Unwahrheit kommen.“ (S. 18). Das Wichtigste einer solchen auf dem Migrationsamt erzählten Flüchtlingsgeschichte ist eigentlich die offene Frage, ob sie „gut ausgeht“ (S. 51). Es erinnert an Dostojevskij, wenn der „Untersuchungsrichter“ seine Rolle im Folgenden radikal überschreitet und dabei mit den Erzählungen der Asylbewerber konkurriert. Und auch die Sehnsucht, mit der die Idee des Asyls vielleicht verbunden ist, kommt später zur Sprache: Einer der Asylbewerber sagt klar, er möchte „frei von Vaterländern“ (S. 129) sein. So beginnt der Roman mit einem interessanten Narrationsproblem: Es scheint auf die Erzählungen der Flüchtlinge anzukommen. Diese müssen wahr sprechen, Literatur aber weiß, wie heikel das ist, ist sie doch an einem Wahrheitsbegriff orientiert, der sich nicht deckt mit dem von Historie oder Recht, welche nichtsdestotrotz beide auf Erzählungen angewiesen sind.
Und eine weitere Frage stellt der Beginn des Romans: was nämlich ist eigentlich „politisch“, wenn doch nur politischen Flüchtlingen Asyl gewährt wird. Denn zwischen Russland und Westeuropa zeigt sich eine eindeutige Asymmetrie: Während Russland ökonomisch und diplomatisch mit dem Westen auf Augenhöhe agiert, fliehen aus dem selben Land zumindest in Venushaar immer noch zahlreiche Menschen aus „politischen“ Gründen nach Westeuropa: weil sie wegen politischer Aktivität von den Behörden unter Druck gesetzt werden, weil sie sich an die Gesetze halten und der Korruption trotzen wollen und dafür verprügelt werden oder weil sie aus einer Region kommen, in der auf ihre HIV-Infektion nicht mit medizinischer Hilfe, sondern mit sozialer Ausgrenzung reagiert wird. Was aber ist eigentlich ein „politischer“ Grund?
Mit diesen beiden Problemen, einem narratologischen und einem „politischen“ beginnt der Roman und enttäuscht dann die Hoffnung auf eine ernsthafte Auseinandersetzung aus einem einfachen Grund. Wie Šiškin uns berichtet, ist es eigentlich egal, was die Asylbewerber, im Roman und in der Bürokratensprache GS – Gesuchsteller genannt, erzählen und ob es wahr ist oder nicht. Weil im zynischen Asylrecht sowieso „nur die Quote entscheidet“. Es sei doch klar, gibt auch der „Untersuchungsrichter“ im Roman zu, „dass das, was Sie hier erzählen, für die Entscheidungsfindung schlussendlich nicht von Belang ist!“ (S. 51). Wenngleich der Roman immer wieder zu den Interviews und den an dem harten Erzählstoff leidenden Dolmetscher zurückkommt, zweigt er doch genau an dieser Funktionsstelle von jedem Realismus ab. Die Erzählungen der Flüchtlinge Ufern ins Historische und Mythologische aus. Sie werden ergänzt durch das fiktive Tagebuch der Sängerin Isabella Jurjewa, an die jene Ich-Form delegiert wird, die der Dolmetscher selbst abgeben muss. Neben einem antiken Nebenschauplatz – der Dolmetscher liest in den Pausen Xenophons Anabasis – bildet noch die scheiternde Beziehung des Dolmetschers zu seiner Frau einen wichtigen Erzählstrang. Diese nämlich, mit Namen Isolde, war früher mit Tristan liiert, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Sie denkt beim Sex mit dem „Dolmetsch“ noch immer an Tristan, was natürlich zur Trennung führt.
Michail Šiškin hat in Russland nicht erst mit seinen Romanen große Erfolge gefeiert und alle denkbaren Preise gewonnen. Dass dieser Erfolg ihm auch im deutschsprachigen Raum zuteil wird, ist nicht selbstverständlich, denn, wie Šiškin sagt: „Der Übersetzer kann alles übersetzen außer dem Leser.“ Für Venushaar, die erste Übersetzung ins Deutsche, wurde er auf jeden Fall auch hier zu Lande gefeiert und sogar mit dem Internationalen Literaturpreis prämiert, und zwar nicht alleine, sondern zusammen mit seinem Übersetzer Andreas Tretner. Seit 1995 lebt Šiškin in Zürich und hat tatsächlich als ein solcher Dolmetscher gearbeitet. Neu in der Schweiz – so erzählt er beim ilb – sei ihm zunächst unklar gewesen, worüber man in „so einem langweiligen Land wie der Schweiz“ schreiben solle. Auf dem Migrationsamt aber seien ihm dann plötzlich diese „russischen Geschichten“ begegnet, die in Russland „überall in der Luft“ seien, die aber niemand hören wolle, vor denen man sich nur zu schützen versuche. Er musste sich also genau jene Geschichten anhören, vor denen er vielleicht geflohen ist, als er selbst das Weite gesucht hat.
In Šiškin will man wieder einmal in einem Gegenwartsautor die Fortsetzung der großen russischen Erzähler vor allem des 19. Jahrhunderts erkennen. Problematisch ist jedoch, dass er solche Assoziationen und Einordnungen scheinbar gezielt evoziert, dass er zu jenen Erzählern gehört, die bei jeder Gelegenheit ihre unheimliche Kenntnis der gesamten Mythologie und Literaturgeschichte vorführen müssen. Das wirft wiederum ein neues Licht auf den Titel, der diesen Umstand aber zugleich erklärt. Das Venushaar ist nämlich keine erotische Metapher, sondern ein Farngewächs, das durch alte Mauern sprießt und Ruinen überwuchert wie das überschäumende Erzählen Šiškins selbst. Auf jeden Fall nötigt er dem Übersetzer damit einen fast zwanzigseitigen Kommentarteil mit Worterklärungen ab. Dass das spannende Thema des Anfangs dabei immer mehr aus den Augen gerät, ist kein Wunder. Man kann die Worte des Untersuchungsrichters über die Flüchtlinge nicht vergessen: „In Wirklichkeit gibt es euch gar nicht.“ (S. 140). In Šiškins Romanen geht es, wie er uns erzählt, um etwas Wichtigeres, und zwar immer um das gleiche, nämlich um den Tod. Heute, sagt er mit gestreiftem Polohemd auf dem Podium des ilb sitzend, wisse er, dass es „die höchste Gabe“ sei, „den Tod genießen zu können“. Im Roman hört sich das dann so an: „Das Leben ist eine Saite, und der Tod ist die Luft. Ohne Luft lässt sich keine Saite zum Klingen bringen.“ (S. 140).
Als Šiškin nach dem Konzept gefragt wird, mit dem er die zahlreichen Erzählungen geordnet hat oder nach seiner Ausgangsidee und Vorgehensweise, sagt er nicht als erster kluger Autor: „Der Roman ist klüger als der Autor.“ Für Šiškin mangelt es der Flüchtlingsgeschichte scheinbar an literarischer Buntscheckigkeit, sodass er einen Stil der fortwährenden Abschweifung pflegt. In nicht nur grausamen und tragischen, sondern auch grotesken, fast phantastischen Erzählungen und einem möglichst listigen Spiel des Autors mit dem Leser scheint es manchmal etwas zu sehr um die eigene Virtuosität zu gehen. Dies zusammen mit der kaleidoskopischen Zitathaftigkeit ergibt eine Erzählweise die man noch immer postmodern nennen kann, die aber selbst dafür verantwortlich ist, dass sich ein solches Label aufdrängt. Es erhärtet sich endgültig dann, wenn der Untersuchungsrichter Dinge sagt wie „Alles ist schon mal da gewesen“ (S. 53) oder feststellt, dass „alle Geschichten schon hundertmal erzählt worden“ (S. 55) sind. Den verschiedenen Erzählsträngen gelingt es selten, das konkrete, vor ihm stehende Phänomen des Flüchtlings besser zu verstehen oder mit irgendeinem Mehrwert zu versehen. Vielleicht liegt eben darin die Antwort des Romans auf den Autor und der Sinn all der Abschweifungen: zu erkennen, dass sie nicht helfen, dass sie nichts sind als eine Flucht vor dem Flüchtling. Der Roman sagt das auch, der Dolmetscher lese nämlich nur, „um auf andere Gedanken zu kommen“ (S. 28). Und so entsteht ein Buch, das wohl vor allem für jene Leser von unbedingtem Interesse ist, die – wie man so schön sagt – vom Autor entführt werden wollen.
von Roman Widder
Michail Schischkin: Venushaar. Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011, 560 Seiten.