Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Die Inti­mität als Ort der Grausamkeit

Der Doku­men­tar­film „Inter­cepted“ von Oksana Kar­povyč fei­erte auf der Ber­li­nale im Februar 2024, zwei Jahre nach Beginn der Tota­l­in­va­sion, Welt­pre­miere. Die in ver­schie­denen Teilen der Ukraine gefilmten Stand­bilder, unter­legt mit Frag­menten abge­hörter Tele­fon­ge­spräche rus­si­scher Sol­daten mit ihren Frauen und Müt­tern, sind ein krasses Zeugnis von Des­in­for­ma­tion und Grausamkeit.

 

Schon fast muten die ruhigen Stand­bilder des Doku­men­tar­films „Inter­cepted“ poe­tisch an: Sie zeigen die durch den rus­si­schen Angriffs­krieg ver­ur­sachte mas­sive Zer­stö­rung, aber auch das Leben, das sich trotz aller Angriffe in der Ukraine gehalten hat – und stehen im deut­li­chen Gegen­satz zur Ton­spur des Filmes. Gezeigt werden ost­ukrai­ni­sche Land­schaften, Innen­an­sichten zer­störter Gebäude und Stra­ßen­szenen aus einem Leben im Krieg. Zugleich hören wir, wie rus­si­sche Sol­daten ihren Frauen und Müt­tern aus dem Krieg berichten. In den Tele­fon­ge­sprä­chen geht es um banale Dinge: Den Ukrainer*innen würde es viel besser gehen, der Beweis dafür seien ihre Wohn­häuser voller Mar­ken­kleider und teurer Vit­amin­ta­bletten. Die rus­si­schen Sol­daten erzählen von ihren Plün­de­rungen jener Häuser – und die Frauen am anderen Ende des Drahtes sichern sich ab, dass auch für sie etwas dabei raus­springt. Nebenbei wird teil­nahmslos über die Ermor­dung von Zivilist*innen gesprochen.

 

Das Ber­li­nale-Publikum lacht unan­ge­nehm berührt ange­sichts der rus­si­schen Sehn­sucht nach Qua­li­täts­ware.  Es ist unklar, ob das deut­sche Publikum aus Ungläu­big­keit gegen­über der belang­losen Hab­gier der rus­si­schen Sol­daten auf Raubzug lacht, aus Ver­le­gen­heit über ihren eigenen Wohl­stand oder zum Span­nungs­abbau gegen­über der the­ma­ti­sierten Gewalt.

 

Der Film ist eine Mon­tage aus Tele­fon­ge­sprä­chen rus­si­scher Sol­daten, welche seit 2014 vom ukrai­ni­schen Sicher­heits­dienst abge­hört wurden, und den oben beschrie­benen teils idyl­li­schen, teils hoff­nungs­losen Auf­nahmen. Die Film­bilder hat Oksana Kar­povyč in Front­nähe in ver­schie­denen Teilen der Ost- und Süd­ukraine auf­ge­nommen. Bei den Tele­fon­ge­sprä­chen hat sie sich zuerst das gesamte auf You­Tube ver­füg­bare Mate­rial ange­hört. Eine Anfrage für das kom­plette Audio­ma­te­rial wurde vom ukrai­ni­schen Sicher­heits­dienst abge­lehnt, weil es noch als Beweis­ma­te­rial für offene Gerichts­fälle dient. Bei der Aus­wahl ging es ihr nicht nur darum, was in den Tele­fon­ge­sprä­chen gesagt wird, son­dern auch wie es gesagt wird.

 

Beson­ders weil das Mate­rial auf­grund der Grau­sam­keit, die sich in den zugleich intimen Gesprä­chen zeigt, so ver­stö­rend ist, kamen nach dem Film auch Fragen aus dem Publikum: Ob nicht die Bru­ta­lität der hoch­ge­la­denen Aus­sagen dem Algo­rithmus geschuldet sei, der immer das Schlimmste vom Schlimmsten (bzw. Beste vom Besten) auf Online­platt­formen wie hier auf You­Tube pusht?

 

Es ist vor allem die Kälte und Grau­sam­keit in den Stimmen der Frauen zuhause, die schmerz­lich her­aus­sticht. Es ist eine hörbar wer­dende Teil­nahms­lo­sig­keit, die die Ent­mensch­li­chung der ukrai­ni­schen Zivilist*innen im von der Kreml-Pro­pa­ganda ver­blen­deten Teil der rus­si­schen Gesell­schaft wider­spie­gelt. Die Frauen bestä­tigen ihre Männer darin, dass auch die ukrai­ni­schen Zivilist*innen „Nazis“ seien und es keinen Grund gäbe, diese nicht zu töten. Fla­ckert in der Stimme eines Sol­daten mora­li­scher Zweifel auf, weiß seine Frau oder Mutter die pas­senden Worte der Legi­ti­ma­tion für den Krieg. Tagaus tagein der Des­in­for­ma­tion aus­ge­setzt, wie­der­holen die Frauen zuhause die bekannten Nar­ra­tive und fragen nach NATO-Stütz­punkten und Seu­chen­la­boren.

 

Immer wieder geht es darum, was im rus­si­schen Fern­sehen behauptet wird. Einmal fällt der Satz eines Sol­daten als Ant­wort darauf, dass die rus­si­sche Armee im Begriff sei, den Krieg zu gewinnen: „Das sagen sie euch im Fern­sehen, in Wirk­lich­keit ist es viel kom­pli­zierter.“ Zuweilen ist aus den Worten der rus­si­schen Sol­daten eine Plan- und Ahnungs­lo­sig­keit her­aus­zu­hören. Sie spre­chen am Telefon über ihre eigenen Erfah­rungen im Krieg, eine Erfah­rung der Ver­ro­hung. Trotz den Zwei­feln, die an wenigen Stellen anklingen, schlagen sie immer wieder den Bogen zu den rus­si­schen Des­in­for­ma­ti­ons­nar­ra­tiven, vor allem zu jenem, dass die Ukraine von „ukrai­ni­schen Faschisten“ befreit werden müsse – eine Behaup­tung, die der Recht­fer­ti­gung der eigenen Gewalt­taten dient. Auch in den Frau­en­stimmen wird vor allem diese von der rus­si­schen Regie­rung vor­ge­fer­tigte Erzäh­lung hörbar, welche auto­ma­ti­siert wie­der­ge­geben wird. Dieser mecha­ni­sche Wie­der­ga­be­modus ver­stärkt die Grau­sam­keit des Inhalts massgeblich.

 

In all den Gesprä­chen gibt es nur eine Frau, die trotz aller Pro­pa­gan­da­kam­pa­gnen zu wissen scheint, was sich tat­säch­lich ereignet. Anstelle moti­vie­render Worte für wei­teres Morden lässt sie eine wütende Tirade ab: Er, der Soldat, solle erst gar nicht nach Hause zurück­kehren. Sie wird die ein­zige Stimme im Film bleiben, die ihr in der rus­si­schen Armee kämp­fendes Gegen­über als Ver­bre­cher anprangert.

 

Im an den Film anschlies­senden Q&A auf der Ber­li­nale stellte eine Zuschauerin der Fil­me­ma­cherin Oksana Kar­povyč die Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, den Fokus anstatt auf die Grau­sam­keit der rus­si­schen Sol­daten auf „Empa­thie und Huma­nität“ zu legen. Kar­povyč winkte vehe­ment ab: Sie ver­folge nicht das Ziel, die rus­si­schen Sol­daten zu huma­ni­sieren, son­dern sie als die Ver­bre­cher zu zeigen, die sie seien, sagte sie emo­tional. Unter den 130 Kon­ver­sa­tionen – ins­ge­samt ca. 30 Stunden Audio­ma­te­rial – habe sich schlicht und ein­fach nur eine ein­zige kri­ti­sche Stimme finden lassen, ant­wor­tete sie.

 

Fragen wie diese spie­geln die Ungläu­big­keit der Zuschau­enden gegen­über dem Inhalt der abge­hörten Tele­fon­ge­spräche wider, in denen es an jeg­li­cher Empa­thie fehlt. Oksana Kar­povyč findet im Inter­view mit arte eine klare Ant­wort darauf: „Der Krieg hat eine sehr starke dehu­ma­ni­sie­rende Kraft und die rus­si­sche Pro­pa­ganda dehu­ma­ni­siert sogar noch stärker als der Krieg.“ Sie ver­weist als Erklä­rung aber auch auf die enge Ver­knüp­fung von Doku­men­tar­filmen und Objek­ti­vität in den Köpfen der Zuschauer*innen. Ent­gegen dieser Dicho­tomie zeigt der Doku­men­tar­film von Kar­povyč, dass Auf­klä­rung unter Ein­satz doku­men­ta­ri­schen Mate­rials künst­le­risch umge­setzt werden kann.

 

Nach dem Ber­li­nale-Scree­ning hob Oksana Kar­povyč auch ihre Absicht hervor, durch diese gegen­läu­figen Spuren von Bild und Ton eine kogni­tive Dis­so­nanz erzeugen zu wollen: Mit­hilfe der par­al­lel­lau­fenden Nar­ra­tive, also der Gegen­über­stel­lung von teil­weise hoff­nungs­vollen Bil­dern aus der Ukraine und den intimen rus­si­schen Gesprä­chen voller Grau­sam­keit, ist ihr das gelungen. Sie habe die Rea­lität des Krieges abbilden wollen, die nicht unbe­dingt „film­taug­lich“ ist, sagte Kar­povyč: die Span­nung, das Warten und die Stille, welche sie selbst an der Front im Zuge ihrer Arbeit als „Fixerin“ erlebt hatte. Erreicht hat sie das vor allem durch die Wahl des Bild­ma­te­rials in Form von Stand­bil­dern, aber auch durch den spar­samen Ein­satz span­nungs­voller Musik, welche zwingt, sich der drü­ckenden Stille auszusetzen.

 

Im Film „Inter­cepted“ gibt es gegen Ende Auf­nahmen von rus­si­schen Kriegs­ge­fan­genen, deren Gesichter nach­träg­lich unkennt­lich gemacht worden sind. Die Folgen des Krieges sind an ihren gekrümmten, vom Krieg aus­ge­laugten Kör­pern sichtbar; die Aus­wir­kungen auf die Psyche lassen sich nur erahnen. Kar­povyč war es wichtig, die Sol­daten im Film nicht als unschul­dige Opfer dar­zu­stellen, son­dern zu zeigen, dass sie Ver­ant­wor­tung für die von ihnen began­genen (Kriegs-)Verbrechen tragen. Dass die rus­si­schen Sol­daten zu sadis­ti­schen Tätern degra­dieren, wird an einem Tele­fon­ge­spräch beson­ders deut­lich, wenn der Sol­da­ten­sohn zur Mutter sagt „Ich werde total ver­rückt hier!“ und ihr anschlie­ßend begeis­tert die Fol­ter­me­thoden erläu­tert, welche er bereits ange­wendet habe. Min­des­tens genauso ver­stö­rend ist die Ant­wort der Mutter, die ihm bei­pflichtet, ihn ermu­tigt und meint, dass sie immer gewusst hätte, aus wel­chem Holz er geschnitzt sei: „Nur weiter so.“

 

In dieser Kon­ver­sa­tion kul­mi­niert die Grau­sam­keit. Sogar die intimsten Kon­ver­sa­tionen sind durch­drungen von den ent­mensch­li­chenden Des­in­for­ma­ti­ons­nar­ra­tiven der rus­si­schen Regie­rung, wie jener Erzäh­lung, die Ukraine müsse von „Nazis“ befreit werden im Zuge eines hei­ligen Krieges gegen das Böse, den west­li­chen Impe­ria­lismus. In all diesen ver­drehten Behaup­tungen tritt das zen­trale Kalkül rus­si­scher Pro­pa­ganda – im Sinne der Legi­ti­ma­tion der eigenen Kriegs­hand­lungen dem ukrai­ni­schen Volk sein Recht auf die schiere Exis­tenz abzu­spre­chen ­­– deut­lich hervor.

 

Oksana Kar­povyč, „Inter­cepted“ (ukr. „Myrni ljudy“), 95 Minuten, Canada / France / Ukraine 2024.

Bei­trags­bild: Inter­cepted, Film­still. © Chris­to­pher Nunn. Bild­quelle: Lightbox, https://lightdox.com/intercepted/.

Bilder im Bei­trag: Inter­cepted, Film­stills. © Chris­to­pher Nunn. Bild­quelle: Lightbox, https://lightdox.com/intercepted/.