Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Fran­ziska Thun-Hohen­stein (II): Die Zeit­schrift „Ogonëk“ als Seis­mo­graph der Zeit

Fran­ziska Thun-Hohen­stein ist Senior Fellow am Ber­liner Leibniz-Zen­trum für Lite­ratur- und Kul­tur­for­schung (ZfL), mit dessen Geschichte und Vor­ge­schichte sie als lang­jäh­rige wis­sen­schaft­liche Mit­ar­bei­terin des ZfL und, in den 1980er Jahren, des Zen­tral­in­sti­tuts für Lite­ra­tur­ge­schichte der Aka­demie der Wis­sen­schaften der DDR eng ver­bunden ist. Die bewegten Pere­strojka-Jahre hat sie zwi­schen Berlin (DDR) und Moskau intensiv miterlebt.

novinki ver­öf­fent­licht ein zwei­tei­liges Inter­view mit der Pere­strojka-Zeit­zeugin Fran­ziska Thun-Hohen­stein: Im ersten Teil spricht sie über ihre Erfah­rungen und Beob­ach­tungen jener Jahre in Berlin und Moskau – und dar­über, wie sich der „Umbau“ auf die Lite­ratur, Film­kultur und Publi­zistik aus­wirkte oder sogar davon aus­ging. Im zweiten Teil hebt sie die Rolle der Lite­ra­tur­zeit­schrift Ogonëk als Seis­mo­graph der Pere­strojka-Ära hervor – anhand einiger Zeit­schrift­aus­gaben der Jahr­gänge 1988 und 1989, die eine hoch­kon­zen­trierte Gleich­zei­tig­keit der Debatten offenlegen.

 

novinki: Was fällt Ihnen auf, lesen Sie Ihre eigenen Auf­zeich­nungen der Pere­strojka-Ära aus heu­tiger Position?

 

Thun-Hohen­stein: Ich habe einiges auf­ge­hoben, weil ich dachte: Das war ja doch eine span­nende Zeit, viel­leicht komme ich im Alter nochmal dazu, meine Kar­tei­karten mit den Stich­punkten durch­zu­sehen. Ich hatte sie jah­re­lang nicht mehr in der Hand – und als ich sie jetzt durch­ging, war ich wirk­lich über­rascht: Dass ich mich derart stark mit der unge­heuren Ver­wo­ben­heit und Kom­ple­xität der Pere­strojka-Zeit befasst habe und dar­über gespro­chen habe, wusste ich nicht mehr im Ein­zelnen. Die Dynamik der Ereig­nisse kommt einem wieder ent­gegen, wenn man sich diese Mate­ria­lien anschaut: Alles begann mit Reformen im Ver­wal­tungs­ap­parat und im Wirt­schafts­be­reich, mit der Frage der Öff­nung – der glas­nost’, dem Aussprechen.

Noch 1987 hatte ich geschrieben, es gäbe nie­manden in der Intel­li­gen­zija, der gegen radi­kale Ver­än­de­rung sei, aber die Motive und Ziele dahinter seien sehr unter­schied­lich. Das wird im Laufe der Jahre viel prä­ziser, weil man immer klarer nach­voll­ziehen konnte, wer eine rus­sisch-natio­na­lis­ti­sche, auch anti­se­mi­ti­sche, Hal­tung ein­nahm, wer auf dog­ma­ti­schen Par­tei­po­si­tionen beharrte und wer sich rasant in Rich­tung Moderne bewegte.

So sprach bei­spiels­weise Valentin Ras­putin in Ost­berlin  dar­über, dass die Lite­ratur wört­lich zu einer rasša­ty­vanie (Ins-Wanken-Bringen) bei­getragen und an der Gesell­schaft gerüt­telt habe, damit diese auf­wacht. Aber, sagte er, dann solle die Lite­ratur sich doch bitte an den „posi­tiven Trieben“ ori­en­tieren und nicht immer nur die Pro­bleme auswalzen.

In den Jahren 1987 bis 1989 habe ich meinen Vor­trägen eine per­sön­liche Vor­be­mer­kung vor­an­ge­stellt, die ich – im Unter­schied zum eigent­li­chen Vor­trag – aus­for­mu­liert hatte. Auf einer Kar­tei­karte vom Herbst 1987 fand ich fol­gende Vor­be­mer­kung zu meinem Vor­trag vor Schrift­stel­lern in Ost­berlin, deren Anfang ich zitieren möchte:

 

„So oft ich in den letzten Monaten über Sowjet­li­te­ratur und die Pere­strojka gespro­chen habe, es ist für mich jedesmal erre­gend. Erre­gend, weil es mir in meinem Leben das erste Mal wider­fährt, so unmit­telbar Zeuge von Ver­än­de­rungen in der Sowjet­union zu sein, die von wahr­haft his­to­ri­scher Trag­weite sind. Erre­gend war auch die Rede von Gor­bačev zum 70. Jah­restag der Okto­ber­re­vo­lu­tion, da sie doku­men­tiert, über welche enormen geis­tigen Potenzen wir ver­fügen, wenn offensiv, ohne Scheu vor den Rea­li­täten in Geschichte und Gegen­wart dia­lek­ti­sche Gesell­schafts­ana­lyse vor­ge­nommen wird. Die Pere­strojka, das ‚neue Denken‘ betreffen mich ganz kon­kret. Und das nicht nur, weil ich mich mit der Sowjet­li­te­ratur beschäf­tige, oder weil ich lange in Moskau gelebt habe. Ich emp­finde die ein­ge­lei­teten Ver­än­de­rungen in der Sowjet­union auf dem Wege einer umfas­senden Demo­kra­ti­sie­rung des gesell­schaft­li­chen Lebens zur Beschleu­ni­gung der sozial-öko­no­mi­schen Ent­wick­lung, die unge­heuren Anstren­gungen beim Durch­denken der Ent­wick­lungs­wege des Sozia­lismus, beim Ent­wi­ckeln neuer Fra­ge­stel­lungen, die sich mit zwin­gender Not­wen­dig­keit aus den Pro­blemen unserer Zeit ergeben, als enorme Her­aus­for­de­rung an uns alle. Es geht letzt­lich nicht nur um inner­so­wje­ti­sche Fragen, es geht um die Zukunft des Sozia­lismus, ja um die Geschicke der Welt.“

 

Wenn ich das jetzt lese, 35 Jahre später, ist das für mich wirk­lich ein biss­chen skurril: Ich soll über die Lite­ratur reden, aber rede mit sol­chem Pathos über die Refor­mier­bar­keit des Sozia­lismus – und das in der DDR-Situa­tion 1988, in der vieles ver­boten war! Es wurden Leute kri­mi­na­li­siert, von der Stasi belangt, weil sie eben­jene Texte über­setzten und sich gegen­seitig zukommen ließen  (also hek­to­gra­fierten), über die ich in den Vor­trägen sprach und über die ich Ver­lags­gut­achten schrieb (für beides erhielt ich ja ein Honorar). Dieses Pathos wurde offenbar gebraucht – bei den Vor­trägen saßen oft sehr viele Leute im Raum.

Auf einer anderen Kar­tei­karte habe ich zunächst auf­ge­listet, welche Punkte ich anspre­chen werde: die Auf­gaben von Kunst und Lite­ratur in der Pere­strojka; das Selbst­ver­ständnis der Autoren; kul­tu­relles, lite­ra­ri­sches Leben; Erbe, Auf­ar­bei­tung; Neu­erschei­nungen. Meist habe ich aber zuerst – und das hat sich im Laufe der Zeit ver­stärkt – ganz all­ge­mein über den gesell­schaft­li­chen Hin­ter­grund gesprochen.

Es war für mich eine irr­sinnig wich­tige Situa­tion, dass die Pere­strojka im geistig-kul­tu­rellen, aber auch im poli­ti­schen Bereich etwas war, was einen fort­wäh­rend denken ließ: Wann geht es end­lich bei uns los? Da muss sich etwas bewegen – die Lite­ratur ist der Vor­reiter. Das war das Gefühl.

Es fällt auf, wie stark ich immer darauf insis­tiert habe, dass dies ein lang­wie­riger Pro­zess sein wird – und dass das Ent­schei­dende ist, dass die Leute auf­wa­chen und mit­ma­chen, dass es um die Akti­vität jedes Ein­zelnen geht: dass jeder an der Stelle, wo er kann, mit­macht, seinen Mund auf­macht und mit­denkt. Das war eigent­lich der Punkt, um den es mir bei diesen Ver­an­stal­tungen vor allem ging.

Noch ein Nach­trag zu meinen Vor­trägen, zu dieser neuen Offen­heit. Es gab 1988 mal eine kri­ti­sche Stel­lung­nahme eines hohen sowje­ti­schen Par­tei­funk­tio­närs, wahr­schein­lich aus dem Polit­büro, der sagte, er schlage mor­gens die Zei­tung auf und wisse nicht mehr, was drin­steht. Als sich Wochen später beim Schrift­stel­ler­kon­gress der DDR der Schrift­steller Chris­toph Hein, der einen meiner Vor­träge gehört hatte, auf diese For­mu­lie­rung bezog, ver­mu­tete ich damals, er könnte sie viel­leicht aus meinem Vor­trag haben. Chris­toph Hein betonte Grund­sätz­li­ches: Zei­tungen sollten Neues publi­zieren, dass man her­aus­ge­for­dert werde zum Denken. In der Presse müsse man über­haupt erst einmal mit Dingen kon­fron­tiert werden, die man nicht wisse – des­halb lese man sie. Man wolle ja nicht alles Fer­ti­gauf­be­rei­tete immer wieder vor­ge­tischt bekommen.

Der Raum des Publi­zier­baren wurde in der Sowjet­union immer weiter aus­ge­dehnt. Des­halb war es sehr inter­es­sant, die Leser­briefe im Ogonëk zu lesen. Inter­es­sant war, dass sich die Leute beschwerten: So schrieb jemand, sie wollten einen Lite­ra­tur­abend in einer sibi­ri­schen Stadt über einen bis­lang ver­bo­tenen Dichter – ich weiß nicht mehr, um wen es sich han­delte; ver­mut­lich um jemanden, der nach 1917 in den Westen emi­griert war, – durch­führen, doch das wurde ihnen ver­boten. In einem anderen Leser­brief wünschte sich jemand, dass die Zeit­schrift eine Liste erlaubter Autorinnen und Autoren ver­öf­fent­lichte, denn das, was in Moskau erlaubt war, schien noch lange nicht in irgend­einer fernen sibi­ri­schen Stadt erlaubt zu sein.

 

„(D)ie Pere­strojka im geistig-kul­tu­rellen, aber auch im poli­ti­schen Bereich war etwas, 

was einen fort­wäh­rend denken ließ: Wann geht es end­lich bei uns los?

Da muss sich etwas bewegen – die Lite­ratur ist der Vor­reiter. Das war das Gefühl.“

 

novinki: Lassen Sie uns zum wei­teren poli­tisch-his­to­ri­schen Kon­text der Pere­strojka-Jahre kommen – zur Öff­nung der Archive und einer ersten mög­li­chen gesell­schaft­li­chen Debatte über die Ver­bre­chen der Sta­lin­zeit, der sowje­ti­schen Gewaltherrschaft …

 

Thun-Hohen­stein: Das m.E. aus heu­tiger Sicht wich­tigste Ereignis war Ende 1988, Anfang 1989 die Grün­dung von Memo­rial, der Gesell­schaft für his­to­ri­sche Auf­klä­rung, Men­schen­rechte und soziale Für­sorge. Ehr­li­cher­weise muss ich sagen, dass ich die Grün­dung von Memo­rial damals nicht als ein so zen­trales Moment wahr­ge­nommen habe. Zuvor gab es schon meh­rere Artikel im Ogonëk: Es wurden Gelder gesam­melt für ein Denkmal zu Ehren der Opfer der Sta­lin­zeit. Von Memo­rial ging die Initia­tive aus, es wurden viele Erin­ne­rungen und mate­ri­elle Zeug­nisse von Opfern des GULAG gesam­melt. Die Reso­nanz war enorm.

Das Erschre­cken über die Dimen­sionen des Ter­rors war groß. Viele Details aus den nun publi­zierten Mate­ria­lien waren mir vorher nicht bekannt. Ich gehörte nicht zur Oppo­si­tion, die das alles vorher schon mit­er­forscht hatte – auch von meiner inneren Hal­tung her nicht. Aber ich merkte damals, wie wichtig es war, sich damit zu beschäf­tigen. Das Thema sollte mich nicht mehr loslassen.

Zu all diesen Fragen hinzu kamen die sozi­al­öko­no­mi­schen Pro­bleme in der Sowjet­union. Ich war nicht naiv, ich kannte vieles aus der Lebens­rea­lität, weil ich dort gelebt hatte. Ende der Sech­ziger, Anfang der Sieb­ziger wohnte ich in einem Mos­kauer Stu­den­ten­wohn­heim – dort waren Küchen­schaben quasi unsere „liebsten“ Gäste und es gab nur Mann­schafts­du­schen. Im Nach­hinein ist das etwas amü­sant, aber damals waren die Wohn­be­din­gungen z.T. recht hart.

Mit anderen Worten: Viele Pro­bleme, die unter­schwellig bro­delten und im All­tags­leben der Men­schen prä­sent waren, wurden nun offen the­ma­ti­siert und, bei­spiels­weise im Ogonëk, in vielen Foto­re­por­tagen sichtbar.

 

Ogonëk war in diesen Jahren geprägt durch eine starke Viel­falt der Themen und Genres (…).

Es ist diese Leben­dig­keit und Dynamik, die wirk­lich schwer unter einen Hut zu bekommen war. 

Ogonëk war ein Seis­mo­graph der Zeit.“

 

novinki: Ogonëk (Feu­er­chen), die älteste rus­si­sche illus­trierte Wochen­zeit­schrift, deren Repor­tagen über alle Regionen und Errun­gen­schaften der Sowjet­union in den 1920er und 1930er Jahren vor allem auch der Pro­pa­ganda dienten, kann wohl als Sprach­rohr der Pere­strojka bezeichnet werden. Kann man das so sagen?

 

Thun-Hohen­stein: Vitalij Korotič über­nahm die Zeit­schrift 1986 als Chef­re­dak­teur – damit wurde Ogonëk zu einem Vor­reiter von Glas­nost und Pere­strojka. Diese his­to­ri­sche Zeit­schrift, in der seit den 1920er Jahren das Leben in der Sowjet­union doku­men­tiert wurde, hatte 1987 eine Auf­lage von andert­halb Mil­lionen Exem­plaren. Mitte 1988 waren es rund 1,8 Mil­lionen und 1989 bereits über 3 Mil­lionen. Ihre Auf­la­gen­höhe explo­dierte regelrecht.

Ogonëk war in diesen Jahren geprägt durch eine starke Viel­falt der Themen und Genres: In vielen Heften wurden erst­mals bisher unpu­bli­zierte lite­ra­ri­sche Texte ver­öf­fent­licht (Gedichte, Aus­züge aus Pro­sa­texten, Erin­ne­rungen) – zu den für mich wich­tigen gehörten Aus­züge aus den Tage­buch­auf­zeich­nungen von Marina Cve­taeva von 1919–1920, Aus­züge aus bisher unpu­bli­zierten Kapi­teln der Erin­ne­rungen von Il’ja Ėren­burg Ljudi, gody, žizn’ (Men­schen, Jahre, Leben). Berichtet (viel­fach mit Fotos) wurde über die ver­schie­densten Bereiche des Lebens – über das Leben in Straf­ko­lo­nien für Jugend­liche ebenso wie über die schlechte Ver­sor­gung Blinder in der Sowjet­union oder die erschre­ckenden Bedin­gungen, unter denen Mili­tär­flieger und deren Fami­lien in ent­fernten Regionen leben mussten. Durch die Leser­briefe bekam man ein Gefühl dafür, was in der jewei­ligen Woche die neur­al­gi­schen Punkte waren bzw. sein könnten. Ich habe die Zeit­schrift zwar immer etwas später bekommen, aber für meine Vor­träge waren die Hefte wirk­lich zentral.

Die Zeit­schrift hatte ver­schie­dene Funk­tionen: Bericht­erstat­tung, Publi­ka­tionen aus Archiven, Auf­klä­rung, Neu­gierig-machen, Durch­setzen von Posi­tionen, Inter­ven­tion in Pole­miken. Es ist diese Leben­dig­keit und Dynamik, die wirk­lich schwer unter einen Hut zu bekommen war. Ogonëk war ein Seis­mo­graph der Zeit.

 

novinki: Sie haben einige Aus­gaben der Zeit­schrift Ogonëk aus ihrem Archiv geholt und mit­ge­bracht, lassen Sie uns einige Aus­gaben durch­sehen. Wie äußerte sich das für jene Jahre cha­rak­te­ris­ti­sche Umdenken auf diesen Seiten? Was war aus­sprechbar, welche Themen wie­der­holten sich?

 

Thun-Hohen­stein: Das Ent­schei­dende war der Bruch mit gewohnten Denk­weisen der Men­schen – eine psy­cho­lo­gi­sche Umge­stal­tung (psy­cho­lo­gičes­kaja pere­strojka). Das betraf den Umgang mit Geschichte ebenso wie mit der Gegen­wart. Viele Doku­men­ta­tionen befassten sich mit Ver­tre­tern der inner­par­tei­li­chen Oppo­si­tion, die Sta­lins Terror zum Opfer fielen, wie bei­spiels­weise Nikolaj Bucharin und Fedor Raskol’nikov. Es ging grund­sätz­lich um das Benennen, das Auf­de­cken von Pro­blemen, so etwa um die Frage der Ver­sor­gung der Vete­ranen, der alten Men­schen. In vielen Rubriken wurden Pere­strojka-Vor­haben dis­ku­tiert, auch wurde nach­ge­fragt, ob nach einer Publi­ka­tion zu pro­ble­ma­ti­schen sozialen oder All­tags­themen etwas getan worden war.

Ein Bei­spiel aus der sowje­ti­schen Gegen­wart war die dra­ma­tisch schlechte medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung in „Mit­tel­asien“, wie die Sowjet­re­pu­bliken Usbe­ki­stan, Turk­me­ni­stan, Tadschi­ki­stan und Kasach­stan im Rus­si­schen genannt wurden. Aus einem Bericht erfuhr ich, dass es dort eine mas­sive Säug­lings­sterb­lich­keit gab und Magen-Darm-Infek­tionen gras­sierten. 1987 wurden 240 Ärzte-Bri­gaden dorthin geschickt. In Turk­me­ni­stan waren 1988 mehr als 60 Pro­zent der Ent­bin­dungs­heime ohne Warm­wasser, zwei Drittel ohne Kana­li­sa­tion. Diese Berichte scho­ckierten, aber dass solche Zif­fern und Maß­nahmen im Ogonëk über­haupt benannt wurden, bedeu­tete sehr viel. Ich machte mir Notizen und nahm diese Infor­ma­tionen in meine Vor­träge auf, weil das in der DDR natür­lich nicht bekannt war.

 

(Fran­ziska Thun-Hohen­stein nimmt mit­ge­brachte Aus­gaben zur Hand, blät­tert sie erzäh­lend durch.)

Nr. 12, 1988. Dieses Heft habe ich damals ganz durch­ge­ar­beitet, es ist voller Anstrei­chungen. Im Ogonëk gab es gene­rell ver­schie­dene Rubriken, zum Bei­spiel den „Runden Tisch“: Diese Aus­gabe ent­hält ein langes Rund­tisch­ge­spräch unter der Über­schrift „Mehr Sozia­lismus!“ über Grund­fragen der Pere­strojka. An einer Stelle wird Stalin zitiert – und ich klemmte mir das deut­sche Zitat dran, damit ich es in den Vor­trägen zitieren konnte.

In dieser, wie übri­gens in einigen Aus­gaben, gibt es einen Bericht über indi­gene Völker vor allem des Nor­dens und deren auch öko­lo­gi­sche Bedroht­heit. Dann gibt es ein langes Inter­view mit Sergej Mich­alkov, dem  Kin­der­buch­autor und später stark kri­ti­sierten Text­autor aller drei Natio­nal­hymnen (der sta­lin­schen, der post­sta­lin­schen sowje­ti­schen und selbst der rus­sisch-post­so­wje­ti­schen) und Vater der Film­re­gis­seure Nikita Mich­alkov und Andrej Mich­alkov-Kon­ča­lovskij. Es folgt eine Repor­tage über Oleg Dal’, einen sehr bekannten Theater- und Film­schau­spieler und ein Por­trät­foto des Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lers Viktor Šklovskij von Jurij Rost (begleitet von einem kurzen Text). Auch eine Fort­set­zung des Romans Der mensch­liche Faktor von Graham Greene ist hier abge­druckt. Zum Schluss gibt es einen Artikel über Alek­sandr Jašin, einen jung gestor­benen Dichter aus Nord­russ­land, dessen par­tei­k­ri­ti­sche Erzäh­lung Ryčagi (Die Hebel) in der Tau­wetter-Zeit für Auf­sehen gesorgt hatte.

Nr. 49, 1988. In diesem Heft gibt es einen län­geren Über­blicks­ar­tikel über neuere lite­ra­ri­sche Ver­öf­fent­li­chungen. Ein für das lite­ra­ri­sche Leben äußerst wich­tiger Text ist die hier abge­druckte Mit­schrift der Jour­na­listin Frida Vik­do­rova vom Pro­zess gegen Iosif Brod­skij (Joseph Brodsky), der im Februar 1964 statt­fand. Am Schluss steht eine Foto­re­por­tage über die „Woche des Gewis­sens“ (Nedelja sovesti) – einer Woche, wäh­rend der bei ver­schie­denen Ver­an­stal­tungen Geld gesam­melt wurde für ein Denkmal für die Opfer der sta­lin­schen Repressionen.

Nr. 6, 1989. Diese Aus­gabe erschien, kurz nachdem die Gesell­schaft Memo­rial gegründet worden war, wes­halb auf den ersten beiden Seiten Fotos von der Grün­dungs­kon­fe­renz zu sehen sind, auf einem befindet sich Andrej Sacharov als Grün­dungs­vor­sit­zender im Zen­trum. Publi­ziert sind zahl­reiche Leser­briefe; Evgenij Zam­ja­tins Erzäh­lung Navod­nenie (Über­schwem­mung); ein langes Inter­view mit dem Poli­tiker Nikolaj G. Ego­ryčev (1962–1967 erster Sekretär des Mos­kauer Stadt­ko­mi­tees der KPdSU, von Februar bis November 1988 sowje­ti­scher Bot­schafter in Afgha­ni­stan) über seine Erin­ne­rungen an Chruščёv, Brežnev u.a. sowie ein Bericht über Kunst­ver­käufe ins Aus­land nach 1917.

Mit dieser Zeit­schrift war man sozu­sagen mit­ten­drin, wurde mit ver­schie­denen Themen und Genres kon­fron­tiert. Prak­tisch jedes Detail war bedeutsam – nicht nur die Texte, son­dern schon allein die Über­schriften bedeu­teten etwas. Zum Bei­spiel das Wort ‚Mankurt‘: Das ist eine Legende aus dem kir­gi­si­schen Natio­nal­epos „Manas“, die Ajt­matov in seinem Roman I dol’še veka dlitsja den’ (in der DDR: Der Tag zieht den Jahr­hun­dertweg; in der BRD: Ein Tag länger als ein Leben) lite­ra­risch ver­ar­beitet hat. In diesem Heft geht es unter der Über­schrift „Keine Mank­urten sein“ um die Wie­der­eröff­nung des Großen Kon­zert­saales des Mos­kauer Kon­ser­va­to­riums und die Not­wen­dig­keit, den Men­schen die klas­si­sche Musik nahe­zu­bringen. Im Kon­text der Pere­strojka wurde ‚Mankurt‘ – auch dank sol­cher Artikel im Ogonëk – zu einer Meta­pher für Geschichts­ver­ges­sen­heit in der Sowjet­union, der nun mit der Pere­strojka ein Ende gemacht werden sollte. Die Zeit­schrift arbei­tete mit Titeln, die die Leser anspra­chen und ihr Gegen­warts­be­wusst­sein ver­än­dern sollten.

Ogonëk kodierte quasi die Gegen­wart der Pere­strojka. So etwa auch – in einem anderen Heft – mit der Foto­re­por­tage Galak­tika po imeni pod”ezd (Eine Galaxie namens Trep­pen­haus). Hier wird am Bei­spiel des Hauses, in dem Bul­gakov gewohnt hatte, der „pod”ezd“ (das Trep­pen­haus), der mit den Jahren in Erman­ge­lung anderer – offi­zi­eller – Orte zu einem sym­bo­li­schen Treff­punkt der Jugend geworden war, als sozialer Ort in den Blick gerückt. Man fragt in dieser Repor­tage: „Wo sollen wir uns denn treffen? Wir haben keine Räume. So wird ein Nicht-Ort zu einem einem Ort – und bleibt aber gleich­zeitig etwas, bei dem auf­fällt: da fehlt was. Die Repor­tage deckt ein Manko in der Gesell­schaft auf. Das ist die Wucht dieser Foto­re­por­tagen im Ogonëk.

Nr. 9, 1989. Dieses Heft zählt zu den span­nendsten in meiner Samm­lung. Es ent­hält ein Por­trät der Avant­garde-Malerin Ljubov’ Popova; in der Rubrik „Aus lite­ra­ri­schen Archiven des 20. Jahr­hun­derts“ finden sich Aus­züge aus den in der Sowjet­union lange unver­öf­fent­licht geblie­benen Werken Vasilij Roza­novs: Uedinënnoe (Soli­taria) und Opa­všie lis­st’ja (Gefal­lene Blätter). Dann kann man hier Aus­züge aus John Stein­becks Tage­buch aus den 1930er Jahren lesen, als er gemeinsam mit dem Foto­grafen Robert Capa die Sowjet­union bereiste – das war bis dahin eben­falls nicht publi­ziert worden (auch einige Fotos sind abgedruckt).

Dieses Heft ent­hält außerdem die Doku­men­ta­tion über einen auf­se­hen­er­re­genden Skandal in der Musik­welt der späten 1970er Jahre. In der Pariser Oper war 1978 nach einer Denun­zia­tion aus der Sowjet­union die Neu­in­sze­nie­rung von Čaj­kovs­kijs (Tschai­kow­skis) Oper „Pique Dame“ durch den Regis­seur Jurij Lju­bimov (damals noch Chef­re­gis­seur des Mos­kauer Tag­anka-Thea­ters) ver­hin­dert worden. Was war der Hin­ter­grund? Lju­bimov hatte gemeinsam mit dem Büh­nen­bildner David Borovskij ver­sucht, – so wie Mey­er­hold schon einmal in den 1920er Jahren – die Abwei­chungen im Libretto gegen­über Puškins Poem zurück­zu­nehmen und das Libretto gleichsam wieder an Puškin zurück­zu­führen. Der Kom­po­nist Alfred Schnittke wollte ent­spre­chende Ände­rungen in der Par­titur vor­nehmen. Der dama­lige Diri­gent des Bol­schoj Thea­ters, der Litauer Algis Žiūraitis (Tran­skript. aus dem Russ.: Al’gis Žju­rajtis) schrieb einen offenen Brief an die Pravda, in dem er die Ände­rungen scharf ver­ur­teilte. Sein denun­zia­to­ri­scher Ton­fall war nicht zu über­hören. Er pran­gerte das Vor­haben als bewusste Aktion zur „Zer­stö­rung eines Denk­mals der rus­si­schen Kultur“ an. Der Skandal schlug inter­na­tional hohe Wogen. Das Vor­haben wurde noch vor der Pre­miere abge­sagt. Das ist so inter­es­sant, weil ein eigent­lich künst­le­ri­scher Kon­flikt ganz in sta­li­nis­ti­scher Manier in einen poli­ti­schen Fall umge­münzt wurde.

Im glei­chen Heft steht ein kri­ti­scher Bericht über den Zustand des Aus­stel­lungs­ge­ländes VDNCh (leider mit wenigen Fotos); ein Aufruf, die Volga vor einer öko­lo­gi­schen Kata­strophe zu retten; ein Gespräch mit der Kom­po­nistin Sofija Gubaj­du­lina, deren moderne klas­si­sche Kom­po­si­tionen in den 1960er und 1970er Jahren in der Sowjet­union ver­boten waren.

Nr. 22, 1989. In diesem Heft wurden zwei kurze Erzäh­lungen von Varlam Šalamov aus dem ersten Erzähl­zy­klus der Kolymskie rass­kazy (Erzäh­lungen aus Kolyma) ver­öf­fent­licht. Begleitet wird die Publi­ka­tion mit einer bio­gra­phi­schen Notiz und drei Fotos – dem glei­chen, etwas retu­schierten Foto, das auch auf meiner Šalamov-Bio­gra­phie abge­bildet ist, einem der letzten Fotos von Šalamov im Alten­heim und einem Bild von der ortho­doxen Trau­er­feier. Das war nicht die aller­erste Publi­ka­tion seiner Texte, sie erschienen damals in ver­schie­denen Zeitschriften.

Im glei­chen Heft gibt es einen Bericht über die Thea­ter­in­sze­nie­rung nach Evge­nija Ginz­burgs Lager-Erin­ne­rungen Krutoj maršrut (Grat­wan­de­rung) im Mos­kauer Theater Sov­re­mennik und den Artikel eines His­to­ri­kers über den Sowje­tisch-Fin­ni­schen Krieg von 1939–1940, einen damals weit­ge­hend „unbe­kannten Krieg“.

Nr. 23, 1989. In dieser Aus­gabe beginnt der Abdruck von Alek­sandr Solže­ni­cyns Erzäh­lung Matrenin dvor (Matrjonas Hof), deren Erst­ver­öf­fent­li­chung in Novyj mir 1/1963 plat­ziert war. Solže­nicyn lebte zu dieser Zeit noch in den USA. Begleitet wird die Publi­ka­tion von einer Zusam­men­stel­lung von Stel­lung­nahmen aus der sowje­ti­schen Presse nach Solže­ni­cyns Aus­wei­sung von 1974, in denen er ein­hellig als Ver­räter ver­ur­teilt wurde (dar­unter von Jurij Bon­darev und Sergej Michalkov).

Aus Anlass der Tat­sache, dass der Oberste Sowjet Jurij Lju­bimov auf seine Bitte hin wieder die sowje­ti­sche Staats­bür­ger­schaft zuer­kannte und ihm so die Rück­kehr an das Tag­anka-Theater ermög­lichte, gibt es einen Artikel des Schau­spie­lers Veniamin Sme­chov über das Theater, begleitet von Fotos, dar­unter von einem Foto des Sän­gers und Schau­spie­lers Vla­dimir Vyso­ckij in seiner berühmten Hamlet-Rolle.

Das in Bei­trägen der natio­na­lis­ti­schen Zeit­schrift Naš sov­re­mennik (Unser Zeit­ge­nosse) domi­nie­rende Geschichts­bild ist Anlass für einen pole­mi­schen Artikel, in dem vor der Gefahr einer extrem ver­ein­fachten und dog­ma­ti­schen Sicht gewarnt wird – analog zur berüch­tigten Partei-Fibel, dem Kratkij kurs, dem Kurz­lehr­gang der Geschichte der KPdSU.

Nr. 31, 1989. Das Heft enhält eine Bild­re­por­tage über das Kon­zept­künstler-Duo Vitalij Komar und Alek­sandr Melamid. Das war natür­lich eine Sen­sa­tion: Sie waren damals seit zehn Jahren im Exil in den USA, wes­halb ihre Bilder in der Sowjet­union de facto unbe­kannt waren; auch ich kannte sie nicht. In der glei­chen Aus­gabe steht ein Inter­view mit dem Film­re­gis­seur Alek­sandr Sokurov. Fort­ge­setzt wird der Abdruck mit Aus­zügen aus den Erin­ne­rungen von Nikita Chruščёv. Als der Spiegel sie sei­ner­zeit publi­zierte, hieß es in der Sowjet­union, sie wären eine Fäl­schung. Dar­über hinaus ent­hält diese Aus­gabe des Ogonëk vom Juli ein großes Inter­view mit dem Men­schen­rechtler Andrej Sacharov zur Pere­strojka-Situa­tion in der Sowjet­union. Das alles im glei­chen Heft: Diese Gleich­zei­tig­keiten sind his­to­risch höchst interessant.

(Fort­set­zung des Interviews.)

 

novinki: Was war in lite­ra­ri­scher Hin­sicht das Inter­es­san­teste für Sie in den Jahren der Perestrojka?

 

Thun-Hohen­stein: Aus heu­tiger Sicht zählen für mich Pla­tonov – seine Romane Čevengur (Tsche­wengur) und vor allem Kot­l­ovan (Die Bau­grube) – sowie Šala­movs Kolymskie rass­kazy (Erzäh­lungen aus Kolyma) zu den wich­tigsten ästhe­ti­schen Ent­de­ckungen dieser Zeit. Šalamov war zwei­fellos eine so große Erschüt­te­rung, dass ich Jahre später begann, mich intensiv mit seinem Werk und seinem Leben zu befassen.

Die Aus­ein­an­der­set­zung mit den sta­li­nis­ti­schen Repres­sionen war für mich kein völlig neues Thema: Zur Vor­be­rei­tung auf das bevor­ste­hende Stu­dium in Moskau bekam ich im Früh­jahr 1969 drei Bücher in die Hand (ich war knapp acht­zehn Jahre alt, mitten im Abitur) – das war die (schlechte) erste west­deut­sche Über­set­zung von Pas­ter­naks Doktor Živago; außerdem der erste Teil von Evge­nija Ginz­burgs Lager-Auto­bio­gra­phie Krutoj maršrut (dt. zunächst unter dem Titel: Marsch­route des Lebens) und Solže­ni­cyns Rakovyj korpus (Die Krebs­sta­tion). Ich las die drei Bücher in deut­scher Über­set­zung hin­ter­ein­ander weg. Ich weiß noch, dass Živago den stärksten Ein­druck auf mich gemacht hat. Aber ich ver­drängte ihn wieder, schließ­lich war ich pro-sozia­lis­tisch, pro-DDR und pro-Sowjet­union ein­ge­stellt und wagte nicht, mich damit inner­lich weiter aus­ein­an­der­zu­setzen – das hätte bedeutet, diese Welt­sicht über Bord schmeißen zu müssen. Ginz­burg und Solže­nicyn kap­selte ich irgendwie ein, hielt die Bücher eher auf Distanz, der Roman Doktor Živago war aus meiner Sicht welt­an­schau­lich wie ästhe­tisch prin­zi­pi­eller. Trotz schlechter Über­set­zung haben die erzählte Geschichte sowie bestimmte Ideen und Motive einen so starken Ein­druck hin­ter­lassen, dass ich mich in den 1990er Jahren nochmal inten­siver mit Pas­ternak beschäf­tigen sollte.

Es gibt eine Reihe anderer Werke, die ähn­lich stark gewirkt haben, etwa Zam­ja­tins My (Wir) oder Gedichte und Essays von Osip Man­del’štam, die ich vorher nicht gekannt hatte. Ich habe auch Notizen gefunden, in denen ich schrieb, dass mich Gross­mans Leben und Schicksal als Roman ästhe­tisch nicht über­zeugt hat. Natür­lich gab es noch viele andere Texte, die mich sehr beschäf­tigt haben.

 

novinki: Und Nabokov?

 

Thun-Hohen­stein: Nein. Warum nicht, kann ich nicht beant­worten, das ist für mich auch eine offene Frage. Es gibt natür­lich noch Ach­ma­tova, das Requiem. Und schon im Stu­dium bin ich mit Gedichten von Pas­ternak und Cve­taeva durch Mos­kaus Straßen gelaufen – ich bin dort ja durchaus etwas roman­ti­siert groß geworden.

 

novinki: Kommen wir nochmal zu Ihren Erfah­rungen der Pere­strojka-Jahre zurück. Wie groß war damals die Angst vor einem großen Krieg im Jahre 1988 – die Angst, die noch in den 1960er Jahren sehr prä­sent war? 

 

Thun-Hohen­stein: Seit Gor­bačёv an der Macht war, war bei mir die Angst weg – mit einer per­sön­li­chen Ein­schrän­kung. Ich habe mich ja damals sehr intensiv durch die sowje­ti­sche Presse gewühlt, viel gelesen. Wenn ich in Moskau war – ich war sehr häufig in Moskau und im Früh­jahr 1989 dann auch drei Monate am Stück – hatte ich die Mög­lich­keit, mich mit vielen Men­schen über die ver­schie­densten Dinge zu unter­halten; dar­unter auch mit einem Mann, der lange Zeit Dekan der jour­na­lis­ti­schen Fakultät gewesen war und viele kannte. Ich bekam teil­weise Ein­blick in die innere Dra­matik der Situa­tion: Des­halb wusste ich im Herbst 1989, als die Ereig­nisse in der DDR sehr bri­sant wurden, dass es in der Sowjet­union – wie auch in den USA – zwar Gene­räle gab, die an dem alten Feind­bild fest­hielten, aber Gor­bačёv immer noch das Sagen hatte. Zudem war die Situa­tion in der Sowjet­union innen­po­li­tisch derart kom­pli­ziert und wider­spruchs­voll, dass mir klar war, dass von dieser Seite keine mili­tä­ri­sche Ein­mi­schung kommen würde. Die größte Angst hatte ich zu dieser Zeit wohl vor der DDR-Armee – davor, dass sie innen­po­li­tisch zuschlagen könnte. Eine Inter­ven­tion, die von den auf DDR-Ter­ri­to­rium befind­li­chen sowje­ti­schen Truppen aus­gehen könnte, befürch­tete ich nicht. In den 1960er Jahren war das anders, das stimmt.

Was die Frage eines Bür­ger­kriegs angeht, so gab es zum Ende der Sowjet­zeit natür­lich Befürch­tungen – beson­ders stark nach dem Putsch von 1991: Wer hat die Macht über die Atom­bomben, wenn Anar­chie und Chaos aus­bre­chen und keine geord­neten Befehls­struk­turen bleiben? Was geschieht dann? Diese Fragen waren prä­sent – und bleiben es ja auch in unserer Welt.

Ich habe Gor­bačёv später, nachdem er nicht mehr Prä­si­dent war, dol­met­schen dürfen; u.a. auch ein Gespräch, das Alex­ander Kluge mit Gor­bačёv über sein Treffen mit Reagan in Reykjavik geführt hat – eine sehr inter­es­sante Erfah­rung für mich. Die Politik, die Gor­bačёv ein­ge­schlagen hat, war eine echte, eine abso­lute Zäsur in der ganzen Ost-West-Auseinandersetzung.

 

Dann fragte mich Granin, was ich davon hielte, wenn die Ber­liner Mauer fiele.

Ich weiß noch, dass ich ant­wor­tete, wenn, dann aber bitte schrittweise.

Seine Ant­wort habe ich noch im Ohr: „Du hast bloß Angst vor den Winden der Geschichte.“

Wir hatten es beide nicht geahnt, aber ein halbes Jahr später in Berlin – nach dem Fall der Mauer –

liefen wir zusammen zum Bran­den­burger Tor, wo die Devo­tio­na­lien der Sowjet­armee ver­kauft wurden.

 

novinki: Haben Sie erwartet und sich vor­stellen können, dass es in der DDR zur Wende kommt und dass die Mauer fällt?

 

Thun-Hohen­stein: Nein, das habe ich nicht erwartet. Im Früh­jahr 1989 war ich in Moskau – damals waren schon einige Depu­tierte des Volks­kon­gresses gewählt worden. Dazu gehörte auch der Schrift­steller Daniil Granin.

Granin war ein lang­jäh­riger Freund unserer Familie. Ich kannte ihn und er kannte mich schon lange. Als sich der Kon­flikt zwi­schen Gor­bačёv und Boris El’cin ver­schärfte, gab es in Moskau eine Pro-El’cin-Demo auf der Tver­s­kaja, damals ulica Gor’­kogo (Gorki-Straße). Ich bin kein Demo-Mensch, aber Granin war gerade in Moskau und for­derte mich auf, mit ihm dorthin zu gehen – schließ­lich sei er schon als Depu­tierter für den Volks­kon­gress gewählt, mit ihm brauchte ich keine Angst zu haben, wir würden schon nicht ein­kas­siert werden. Dann trafen wir uns am Hotel Moskva – es wurde später abge­rissen und neu­ge­baut – und liefen die ulica Gor’­kogo hoch. Gegen­über vom Dom Mos­s­oveta, dem Sitz der Mos­kauer Stadt­ver­wal­tung, am Denkmal für Jurij Dol­gorukij, dem Gründer von Moskau, sollte eine Kund­ge­bung statt­finden. Wir liefen den schmalen Bür­ger­steig die Straße ent­lang – bei lau­fendem Berufs­ver­kehr. Die Straße war nicht gesperrt, der Bür­ger­steig war kra­chend voll mit Men­schen, die teils über­haupt nichts mit der Demo zu tun hatten, und jenen, die zur Kund­ge­bung wollten. Die Miliz hatte den Bür­ger­steig abge­sperrt: Ganz dicht stand ein kleiner Milizbus hinter dem anderen. Alles war abge­rie­gelt, es ging nur noch in eine Rich­tung, zur Kund­ge­bung, zum Platz mit dem Denkmal.

Dort ange­kommen wurde es immer enger auf der Straße, das ZDF filmte die Demo. Es war eine skur­rile Szene: Jemand saß mit einer roten Fahne auf dem Jurij Dol­gorukij-Denkmal und redete ins Mega­phon – ein biss­chen wie in einem Revo­lu­ti­ons­film. Granin und mir wurde das dann zu dicht und wir wichen in eine Sei­ten­straße aus. Aber auch die Zugänge zu den Sei­ten­straßen waren alle abge­sperrt. Wir blieben stehen. Dann fragte mich Granin, was ich davon hielte, wenn die Ber­liner Mauer fiele. Ich weiß noch, dass ich ant­wor­tete, wenn, dann aber bitte schritt­weise. Seine Ant­wort habe ich noch im Ohr: «Ty tol’ko boiš’sja vetrov istorij.» Also: „Du hast bloß Angst vor den Winden der Geschichte.“ Wir hatten es beide nicht geahnt, aber ein halbes Jahr später – nach dem Fall der Mauer – war er in Berlin und wir liefen zusammen zum Bran­den­burger Tor, wo die Devo­tio­na­lien der Sowjet­armee ver­kauft wurden. Das hat ihn dann doch geschockt.

In dieser Schnel­lig­keit und mit all seinen Kon­se­quenzen kam der Mau­er­fall total über­ra­schend. Gott sei Dank, auf die Weise. Das ist schon ein Glücks­fall der Geschichte: Wenn es Gor­bačёv an dieser Stelle nicht gegeben hätte, wer weiß..? Was nicht heißt, dass alles ohne Fehler gelaufen ist.

Die Wende und ihre Folgen – das wäre nochmal ein ganz anderes Thema.

 

novinki: Herz­li­chen Dank für das Gespräch!

Rück­seiten der oben bespro­chenen Ogonëk-Aus­gaben, chro­no­lo­gisch sor­tiert. Die in diesem Bei­trag abge­bil­deten Journal-Aus­züge sind dem frei zugäng­li­chen Zeit­schriften-Archiv magzDB.org ent­nommen, in dem auch das Ogonëk-Archiv (1923–2020) plat­ziert ist.

Fran­ziska Thun-Hohen­stein ist Ver­fas­serin der kürz­lich erschie­nenen Bio­gra­phie Das Leben schreiben. Warlam Scha­lamow: Bio­gra­phie und Poetik (Matthes & Seitz Berlin, 2022). Das für ein brei­teres Publikum geschrie­bene Buch ver­mit­telt viel Infor­ma­tion in einer nar­rativ, sti­lis­tisch sehr ange­nehm les­baren Weise – nicht nur über die Person und den Autor Varlam Šalamov, son­dern auch über die kul­tur­his­to­ri­schen Hin­ter­gründe und Zusam­men­hänge seines Schrei­bens von den 1920er bis in die 1970er Jahre.

Die Idee zu diesem Buch wur­zelt in den Erfah­rungen, die Fran­ziska Thun-Hohen­stein als Her­aus­ge­berin der deutsch­spra­chigen Werk­aus­gabe Varlam Šala­movs bei Matthes & Seitz seit 2007 sam­meln konnte. Bereits in ihrem Buch Gebro­chene Linien. Auto­bio­gra­phi­sches Schreiben und Lager­zi­vi­li­sa­tion (Kul­tur­verlag Kadmos Berlin, 2007), ver­weist sie im Epilog auf Varlam Šalamov. Anhand ver­schie­dener Erin­ne­rungs­texte (vor allem von Lidija Ginz­burg, Evge­nija Ginz­burg, Oleg Volkov, Evf­ro­si­nija Kers­novs­kaja und Abram Terc/Andrej Sin­javskij) beschäf­tigt sich die Lite­ratur- und Kul­tur­wis­sen­schaft­lerin mit Formen auto­bio­gra­phi­schen Schrei­bens vor dem Hin­ter­grund der sowje­ti­schen Lager­zi­vi­li­sa­tion. Mit diesen beiden Büchern hat die Sla­wistin Fran­ziska Thun-Hohen­stein die Aus­ein­an­der­set­zung mit der rus­si­schen Lite­ratur im Kon­text der inter­na­tio­nalen Debatten über Gedächtnis, Zeu­gen­schaft und die Mög­lich­keiten der Sub­jekt­for­mie­rung „nach dem GULAG“ im deutsch­spra­chigen Raum wesent­lich mitinitiiert.