Franziska Thun-Hohenstein (I): „Die Vitalität und Sprengkraft kultureller Debatten war nicht zu unterdrücken“
Franziska Thun-Hohenstein ist Senior Fellow am Berliner Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL), mit dessen Geschichte und Vorgeschichte sie als langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin des ZfL und, in den 1980er Jahren, des Zentralinstituts für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR eng verbunden ist. Die bewegten Perestrojka-Jahre hat sie zwischen Berlin (DDR) und Moskau intensiv miterlebt.
novinki veröffentlicht ein zweiteiliges Interview mit der Perestrojka-Zeitzeugin Franziska Thun-Hohenstein: Im ersten Teil spricht sie über ihre Erfahrungen und Beobachtungen jener Jahre in Berlin und Moskau – und darüber, wie sich der „Umbau“ auf die Literatur, Filmkultur und Publizistik auswirkte oder sogar davon ausging. Im zweiten Teil hebt sie die Rolle der Literaturzeitschrift Ogonëk als Seismograph der Perestrojka-Ära hervor – anhand einiger Zeitschriftausgaben der Jahrgänge 1988 und 1989, die eine hochkonzentrierte Gleichzeitigkeit der Debatten offenlegen.
novinki: Franziska Thun-Hohenstein, Sie waren in den Jahren der Perestrojka sowohl Beobachterin als auch Akteurin mit Einblicken in die Entwicklungen im sowjetischen Zentrum als auch in der DDR. Welche Bedeutung wurde der Perestrojka in der DDR-Gesellschaft beigemessen – und wie haben Sie diese historische Phase für sich in Erinnerung gehalten?
Franziska Thun-Hohenstein: Von der DDR aus habe ich die Perestrojka als etwas sehr Existenzielles wahrgenommen, in doppelter Hinsicht: Erstens bin ich durch langjährige Moskau-Aufenthalte seit meiner Kindheit nahezu bilingual aufgewachsen und fühle mich der russischen Kultur eng verbunden. Und zweitens habe ich die Perestrojka, das Bemühen um eine Demokratisierung und Öffnung – die glasnost’, die Offenheit – der sowjetischen Gesellschaft als prinzipiell wichtig für die damalige DDR empfunden. Mit anderen Worten, ich bin mit der Perestrojka-Zeit, die mittlerweile fast vierzig Jahre zurückliegt, sehr verwoben – ich war damals Mitte dreißig.
Als ich nun in meinem Archiv auf der Suche nach Unterlagen über meine damaligen Perestrojka-Vorträge gekramt habe, bin ich auf sehr interessante, teilweise überraschende Dinge gestoßen. Einiges habe ich mitgebracht. (Im Folgenden zitiert F. Thun-Hohenstein aus Vortragsnotizen und kommentiert – im zweiten Teil – mitgebrachte Ausgaben der Literaturzeitschrift Ogonëk. – Anm. d. Red.)
Die Partei- und Staatsführung der DDR wollte das Land von der Perestrojka abschotten. Kurt Hager, der damals im Politbüro der SED für Ideologie zuständig war und als graue Eminenz galt, soll – sinngemäß – den Satz gesagt haben: „Wenn der Nachbar die Wohnung renoviert, warum muss ich dann auch tapezieren?“ Der Satz war bezeichnend: Man spürte die Besorgnis der Parteiführung, ihr könnte die Kontrolle über den ideologiekonformen Charakter aller Publikationen entgleiten. Die Zensur blockierte den Zugang zu vielen literarischen und essayistischen Texten sowie Filmen, die in der Sowjetunion heiß umstritten waren. Das hatte Konsequenzen: Wer Westfernsehen empfangen oder an andere westliche Medien gelangen konnte, war besser informiert als jene, die zum Beispiel in Dresden – im „Tal der Ahnungslosen“ – keinen Zugang zu diesen Informationsquellen hatten. Aber es gab natürlich vielfältige Kontakte: Arbeitskontakte, private Kontakte – es sickerte viel durch. Es war wie ein fortwährender, zunehmender Sog – ein Bedürfnis nach Offenheit, das für diese Zeit charakteristisch war. Auch in der DDR-Gesellschaft gärte es zunehmend.
„Es war wie ein fortwährender, zunehmender Sog – ein Bedürfnis nach Offenheit, das für diese Zeit charakteristisch war.“ |
novinki: Wie gestaltete sich Ihr Arbeitsalltag als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR in diesen bewegten Jahren? Wie nahmen Sie die Stimmung aus sowjetischer Perspektive wahr – und vermittelten sie an das DDR-Publikum?
Thun-Hohenstein: Neben meinen wissenschaftlichen Aufgaben am Akademieinstitut schrieb ich, wie andere Kolleginnen und Kollegen auch, interne Verlagsgutachten zu literarischen Neuerscheinungen in der Sowjetunion (vorwiegend für den Verlag Volk und Welt, manchmal auch für den Aufbau Verlag). In meinem Fall ging es ausschließlich um russischsprachige Literatur. Die Gutachten dienten als Expertise und sollten den Verlagen den Rücken stärken, damit wichtige Texte in der DDR erscheinen konnten. Darüber hinaus erhielt ich zahlreiche Anfragen, in internen und semiöffentlichen Kreisen über die Perestrojka zu sprechen. Auf diese Vortragstätigkeit kommen wir vielleicht noch zu sprechen.
Sowjetische Schriftsteller – darunter Daniil Granin, den ich persönlich gut kannte, – die oft in Ost- und in Westberlin auftraten, sprachen darüber, wie elektrisiert sie durch die Ereignisse in ihrem Land waren. Das Entscheidende in vielen Gesprächen war die Grundfrage nach gesellschaftlichen Veränderungen – und wie man damit umgehen sollte.
Im Frühjahr 1989 war ich drei Monate in Moskau. Eigentlich sollte ich an meiner Habilitation arbeiten, doch das rückte unweigerlich in den Hintergrund. Zwar wurde mir vor der Abreise in der Akademie bedeutet, ich solle mich in keine politischen Aktivitäten einmischen, vielmehr fleißig in Bibliothek und Archiv arbeiten, doch das war nicht immer so einfach. Im Juni war die Atmosphäre in Moskau so aufgeladen, dass die Leute selbst im kleinen Lesesaal des Zentralen Literaturarchivs vor mitgebrachten kleinen Fernsehmonitoren saßen und den ersten Kongress der Volksdeputierten verfolgten. Das war eine ungewohnt lebendige Atmosphäre. In diesen aufregenden Jahren habe ich Unmengen gelesen und Exzerpte gemacht, auch von politischen Texten. Monat für Monat wertete ich 1988 z.B. die Literaturzeitschrift Znamja (Das Banner) aus. Ich hatte sie abonniert, genauso wie die zentrale Parteizeitung Pravda (Die Wahrheit), die Zeitungen Moskovskie Novosti (Moskauer Neuigkeiten) und Literaturnaja gazeta (Literaturzeitung) sowie die illustrierte Wochenzeitschrift Ogonëk (Feuerchen).
Nach dem Mauerfall im November 1989 überstürzten sich die Ereignisse dann auch in der DDR und die Prioritäten verschoben sich.
„Wenn ich in die damalige emotionale Atmosphäre zurückgehe, ist zunächst eine allgemeine Beobachtung
wichtig: Es war eine Gleichzeitigkeit an unterschiedlichen Themen und Fragestellungen, die nicht nur die Literatur betrafen, schon gar nicht nur die Ästhetik.“ |
novinki: Wenn Sie die Perestrojka-Periode aus heutiger Perspektive reflektieren – was fällt auf, welche Blickverschiebungen haben sich in dieser Umbruchszeit, aber auch in der historischen Distanz für Sie ergeben?
Thun-Hohenstein: In der Rekapitulation dieser Jahre habe ich gemerkt, wie sehr sich auch meine eigene Wahrnehmung verändert hat. Wenn ich in die damalige emotionale Atmosphäre zurückgehe, ist zunächst eine allgemeine Beobachtung wichtig: Es war eine Gleichzeitigkeit an unterschiedlichen Themen und Fragestellungen, die nicht nur die Literatur betrafen, schon gar nicht nur die Ästhetik. Fragen der Poetik rückten zeitweise mehr in den Hintergrund.
Auch über die Sprache wurde diskutiert. Man stolperte etwa über die Umwertung bestimmter Begriffe. Der Begriff ‚chozjain‘ (хозяин) etwa im Sinne von ‚Hausherr‘, der das Sagen hat, war vorher in der Sowjetunion ein anrüchiger Begriff – denn man hatte kein Privateigentum zu haben.
Ich erinnere mich an einen Fall, der mich damals erschütterte: Bei Moskau wollte jemand im Dorf eine Kälberzucht aufbauen, das war nun gesetzlich erlaubt. Es wurde Land gekauft, der Hof wurde mit Abfällen aus Moskauer Restaurants und Kantinen versorgt (Moskovskoe obščestvennoe pitanie). Dieser Kälberstall wurde zweimal angezündet – mit der Begründung: „Die Kulaken kommen zurück.“ Ein ‚Kulak‘ war im Bewusstsein vieler immer noch jemand, der Eigentum hat und nur für sich wirtschaftet. – Zur Erinnerung: Stalins Kampf gegen die Bauernschaft, gegen die ‚Kulaken‘, die „als Klasse vernichtet“ werden sollten, endete in einer Hungerkatastrophe (ukr.: Holodomor). Die negative Einstellung gegenüber der Privatwirtschaft hatte tiefe Wurzeln geschlagen. Nun aber sollte der Mensch Herr seines Grund und Bodens sein. („Čelovek – chozjain svoej zemli.“) – Was heißt das eigentlich wirklich? Darf man ein eigenes Haus bauen, Schweine oder andere Tiere züchten? Wer ist man dann? Etwa ein ‚Kulak‘? Das waren Begriffe, die Sprengkraft hatten – und das galt auch für viele andere Begriffe. Es ging also darum, diese Denkweisen aus dem Kopf rauszubekommen, zu zeigen, dass es noch ganz andere Umgangsweisen geben könne – zum Wohle aller.
Die Themenfelder waren insgesamt von einer ungeheuren Brisanz und Komplexität – es ging um tabuisierte Fragen der sowjetischen Geschichte, insbesondere zur Dimension des Massenterrors, um ökologische Fragen, um mögliche Wege einer Demokratisierung des Sowjetsystems oder auch um gravierende soziale Probleme in der Gegenwart. Die politische Sprache änderte sich rasant. In den geistig-kulturellen Debatten zeigte sich die Konfrontation unterschiedlicher weltanschaulicher Perspektiven – neben liberalen, weltoffenen Positionen standen verhärtete Positionen eines dogmatischen Kommunismus, Spielarten der Mystik oder auch offener Antisemitismus. Plötzlich konnte man öffentlich über alles sprechen, konnte alles lesen. Solche Debatten wurden ab etwa 1986, nach dem Kongress der Filmschaffenden in der Öffentlichkeit ausgetragen. Das war etwas völlig Neues, das gab es einfach vorher nicht. Doch setzte sich diese Freiheit erst nach und nach durch. Die Hierarchie des Zugelassenen und Nicht-Zugelassenen war ein Dauerthema: Das Wahrheitsmonopol des Moskauer Zentrums war zwar gebrochen – aber bis zu welchem Punkt?
Ich kann anhand meiner Notizen teilweise rekonstruieren, wie sich meine eigene Sicht verändert hat: Ich war ein großer Perestrojka-Fan und bezog mich immer wieder auf Gorbačёv als Autorität im Kampf um eine Demokratisierung des Landes und eine Öffnung in vielen Bereichen – bis, vielleicht 1988, der Begriff vom „sozialistischen Pluralismus“ aufkam. Dann stand für mich die Frage im Raum: Wer bestimmt denn nun, bis wohin der Sozialismus geht und wo der Pluralismus innerhalb des Sozialismus aufhört? War damit doch wieder der Anspruch auf ein Wahrheitsmonopol verbunden?
„Aus meiner heutigen Sicht bestand ein Grundproblem der Perestrojka darin, dass keine unabhängigen
juristischen Institutionen entstanden sind. (…) Die Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte, vor allem der Geschichte der politischen Repressionen, der ungeheuren Terror- und Gewaltexzesse unter Stalin, blieb daher ohne juristische Konsequenzen.“ |
novinki: Was hätte in jenen Jahren anders laufen sollen? Es gab damals Prognosen, die vor einem Bürgerkrieg warnten: War das ein reelles Szenario?
Thun-Hohenstein: Ich bin keine Politikwissenschaftlerin, aber ich denke schon, dass es Kräfte gab, die bereit waren, einen Bürgerkrieg zum Erreichen ihrer Anliegen in Kauf zu nehmen – das hat ja der Putsch gegen Gorbačёv 1991 gezeigt.
Aus meiner heutigen Sicht bestand ein Grundproblem der Perestrojka darin, dass keine unabhängigen juristischen Institutionen entstanden sind. Da würde ich Grigorij Javlinskij (Politiker, 1989 als Mitglied des Ministerrats der UdSSR an der Ausarbeitung der Wirtschaftsreformen beteiligt, langjähriger Vorsitzender der Partei Jabloko – Anm. d Red.) zustimmen. Die Stellung der juristischen Institutionen im Staat ist geblieben, wie sie war: Die Jurisprudenz ist dem Staat praktisch untergeordnet – und das hat dazu geführt, dass die politischen Interessen der jeweiligen Machthaber auch das Rechtssystem steuern.
Damals habe ich das nicht so klar erkannt, aber heute bin ich davon überzeugt, dass dies ein Grundproblem der Perestrojka war und gravierende Folgen für die postsowjetische Ära in Russland hatte und hat. Vielleicht ist ein Grund dafür darin auszumachen, dass Opfer und Täter in der sowjetischen Terrorgeschichte von je her nicht so streng zu trennen waren, weil aus Tätern auch Opfer werden konnten – bei aller Problematik der Abgrenzung. Die Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte, vor allem der Geschichte der politischen Repressionen, der ungeheuren Terror- und Gewaltexzesse unter Stalin, blieb daher ohne juristische Konsequenzen. Letztendlich wurde die Macht des KGB, des Sicherheitsapparats nicht gebrochen.
novinki: Aus der Perestrojka-Ära ist ein Literatur- und Filmkanon hervorgegangen, der sich durch bestimmte ästhetische, inhaltliche Aspekte auszeichnet; gleichzeitig fanden filmische wie literarische Werke, die der Zensur anheimgefallen waren und teils jahrzehntelang unter Verschluss blieben, (zurück) in die Öffentlichkeit. Wie wirkte sich das auf die Vielfalt kultureller Praktiken aus?
Thun-Hohenstein: In meinen Augen begann die Perestrojka in der Kultur mit dem Kongress des sowjetischen Filmverbands (Sojus kinematografistov), der vom 13. bis 15. Mai 1986 tagte. Das war der eigentliche Startschuss, denn dieser Kongress wurde als ein Aufstand gegen Tabuisierungen durch die Zensur wahrgenommen – bis dahin war es in der Kultur relativ ruhig gewesen, obwohl Gorbačёv ja schon 1985 an die Macht gekommen war.
Die gesamte Leitung des Verbands der Filmschaffenden wurde ausgewechselt (ein namhafter Regisseur wie Sergej Bondarčuk war nicht einmal als Delegierter gewählt worden). Ėlem Klimov, der seit 1986 Erster Sekretär des Verbands gewesen war, wurde dann zwar als Präsident wiedergewählt, drehte danach aber keine eigenen Filme mehr, sondern unterstützte die Jüngeren bei der Durchsetzung ihrer Filmprojekte. Er setzte sich auch für das snjatie s polok (Dt. etwa: vom-Regal-Nehmen) ein, also die Öffnung der Filmarchive – dafür, dass bis dato verbotene Filme gezeigt werden konnten.
Ein ganz zentrales Thema in allen Debatten, egal ob es um bildende Kunst, Theater oder Film, vor allem aber um Literatur ging, war der Umgang mit Künstlerinnen und Künstlern der Emigration. Das Spannungsverhältnis zwischen Werken der Sowjetliteratur, der offiziell publizierten russischen Literatur, und jenen Werken, die nur im Samizdat kursierten bzw. die über den sog. ‚tamizdat‘ (eine Publikation im Ausland) in die Sowjetunion zurückgeschmuggelt wurden, war und blieb ein Dauerthema bei der Frage nach der zukünftigen Einordnung in einen Kanon.
„Wir wissen heute aus vielen verschiedenen Bereichen bis hin zum Verbot von Memorial:
Wenn die systematischen politischen Verbrechen nicht bis zum Schluss aufgeklärt und benannt sind, dann wuchert es unterirdisch weiter – die erschreckenden Folgen sind heute zu beobachten.“ |
novinki: Lassen Sie uns zunächst über die Filmlandschaft sprechen, da hier der Umbau der Kultur ja ihren Anfang genommen hat. Welche Filme, die in der Perestrojka-Phase entstanden sind, sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben? Welche Themen wurden zu Filmsujets erklärt?
Thun-Hohenstein: Einer der bekanntesten Filme, die in diesen ersten Perestrojka-Jahren wiederentdeckt wurden, war Komissar (Die Kommissarin) von Aleksandr Askol’dov, der 1967 gedreht, danach aber nie gezeigt wurde – der Regisseur bekam Berufsverbot und der Film verschwand in der Versenkung. Filmschaffende setzten durch, dass Die Kommissarin im Sommer 1987 auf dem Moskauer Filmfestival, wenn auch außerhalb des Programms, gezeigt wurde. Im Dezember des gleichen Jahres fand in Moskau die offizielle Premiere statt.
Oft waren es Dokumentarfilme, die eine große Rolle spielten. Etwa der Film Legko li byt’ molodym? (Ist es leicht, jung zu sein?) von 1987 des Rigaer Dokumentarregisseurs Juris Podnieks über Jugendliche, die nach einem Rockkonzert randalierten. Über den Film wurde heftig gestritten, im Ogonëk (24/1987) wurde z.B. der Leserbrief eines Mannes veröffentlicht, der den Film zwar nicht gesehen hatte, die Schuld für viele Probleme Jugendlicher aber einzig schädlichen westlichen Einflüssen zuschrieb. Aus seiner Sicht sollte die sowjetische Jugend weder mit der „westlichen“ Rockmusik konfrontiert werden, noch solche Filme zu sehen bekommen, das würde sie nur verderben.
Grundsätzliche Fragen zum Umgang mit der Geschichte des GULAG-Systems warf der Dokumentarfilm Vlast’ Soloveckaja (Die Macht von Solovki; 1988) auf – ein Film über das Arbeitslager Solovki in einem ehemaligen Kloster auf den Solovecki-Inseln (Soloveckie ostrova) im russischen Norden. Der Film war insofern brisant, als er dokumentarische Sequenzen aus einem Propagandafilm von 1927 verwendet, der das Solovki-Arbeitslager als ein im Rahmen der Politik der „perekovka“ („Umschmiedung“) mustergültiges Umerziehungslager vorstellte.
Ich habe Vlast’ Soloveckaja in Moskau gesehen, wahrscheinlich während einer Dienstreise. Es gibt darin eine Szene mit Dmitrij Lichačev, einem der wichtigsten damaligen Experten für altrussische Literatur, der als Jugendlicher verhaftet worden war und in dieses Lager kam. Er war vor Ort, als der Propagandafilm gedreht wurde. In dem neuen Dokumentarfilm werden ihm die Bilder des Dokumentarfilms von 1927 gezeigt und er wird gefragt, ob er die Bewacher, die Lagerchefs erkennt und beim Namen nennen kann, damit eine Auseinandersetzung, eine Art Gericht über die Täter stattfinden kann. Lichačev weigert sich. Er lehnt das aus ethischen Gründen ab, weil er befürchtet, dass das zu einem Bürgerkrieg in der Sowjetunion führen könnte oder neue militante Fronten aufbrechen könnten.
Damals fand ich diese Haltung in Ordnung. Im Nachhinein würde ich sagen, sie war falsch. Wie wir es heute aus vielen verschiedenen Bereichen bis hin zum Verbot von Memorial wissen: Wenn die systematischen politischen Verbrechen nicht bis zum Schluss aufgeklärt und benannt sind, dann wuchert es unterirdisch weiter – die erschreckenden Folgen sind heute zu beobachten. (Die Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich der Aufarbeitung der sowjetischen Gewaltherrschaft, insbesondere in Bezug auf das GULAG-System, angenommen hat, wurde 1989 in Moskau gegründet und im Dezember 2021 von der russischen Staatsanwaltschaft verboten. – Anm. d. Red.)
Ein anderer, in der Sowjetunion viel diskutierter Film war Pokajanie (Die Reue; 1984) von Tengiz Abuladze, thematisierte er doch gleichnishaft den Umgang mit dem stalinistischen Erbe in der Gesellschaft. Dass der Film Die Reue auch in der DDR eine sehr große Rolle spielte, lässt sich an den lebhaften Reaktionen in der Gesellschaft und in Zeitungen nachvollziehen. Im Oktober 1987 – ein Jahr, nachdem er auf dem Westberliner Filmfestival gezeigt worden war – wurde er im ZDF ausgestrahlt. Wer konnte, sah sich Die Reue an; ein-zwei Tage später erschienen in DDR-Zeitungen mehrere Verrisse: auch in der zentralen Parteizeitung Neues Deutschland, in der der Film als Schwarzmalerei komplett niedergemacht wurde.
Unvergesslich bleibt mir eine Szene in der Nähe des Alexanderplatzes, wo eine Person eine andere traf und jene Ausgabe des Neuen Deutschland übergab, um diesen Verriss lesen und sich damit auseinandersetzen zu können – und um wenigstens irgendwo mal etwas schwarz auf weiß darüber zu lesen, warum dieser Film in der DDR offiziell abgelehnt wurde. Der Umgang mit diesem Film in der Sowjetunion ebenso wie seine Tabuisierung in der DDR markieren m.E. die damaligen Differenzen in der jeweiligen Innenpolitik sehr deutlich.
novinki: Die Filmschaffenden führten den kulturellen „Umbau“ also an – wie und wann reagierte der Schriftsteller-Verband auf die Umbruchsstimmung der Perestrojka, wann setzte hier das Umdenken ein?
Thun-Hohenstein: Bezeichnenderweise war der Schriftsteller-Verband viel zurückhaltender – er tagte anderthalb Monate nach dem Verband der Filmschaffenden, Ende Juni 1986, und brachte nichts Vergleichbares in Bewegung. Die Kontroversen unter den Schriftstellern müsste man differenzierter besprechen, vor allem die damals schon öffentlich werdenden nationalistischen und antisemitischen Tendenzen innerhalb der russischen Literaturszene, die sich insbesondere im neugegründeten Verband der russischen Schriftsteller und in den Programmen einiger Literaturzeitschriften – vor allem in Naš sovremennik (Unser Zeitgenosse) – manifestierten.
„(D)ie Literaturzeitschriften dieser Jahre beförderten durch ihre literarischen wie publizistischen
Publikationen die kontroversen Debatten in vielen Bereichen, wenn sie diese nicht gar anstießen. (…) Ogonëk (nahm) eine Vorreiterrolle in den Kontroversen um Glasnost und Perestrojka ein, setzte sich mit seinen Publikationen für die Aufdeckung der Terrorpraktiken nach 1917 ebenso ein wie für eine Öffnung zur kulturellen Moderne, auch der des Westens.“ |
novinki: Sie waren Abonnentin und Leserin verschiedener sowjetischer wie DDR-Zeitschriften. Welche Rolle spielten die (Literatur-)Zeitschriften in jener gesellschaftspolitischen Umbruchszeit? Hat die DDR-Öffentlichkeit die Diskussionen, die in der Sowjetunion in Kultur und Politik – und teils auf den Seiten der Illustrierten – ausgetragen wurden, überhaupt überblicken können?
Thun-Hohenstein: Zu dieser Frage wäre vieles zu sagen, zumal die Literaturzeitschriften dieser Jahre in der Sowjetunion durch ihre literarischen wie publizistischen Publikationen die kontroversen Debatten in vielen Bereichen beförderten, wenn nicht gar anstießen. Von der DDR aus gesehen, war es ein Einschnitt, dass 1988 in der DDR die Zeitschrift Sputnik verboten wurde. Mit dem Sputnik-Verbot verschwand eine wichtige gedruckte deutschsprachige Informationsquelle, die in der Sowjetunion für das Ausland zusammengestellt worden war. Sie wurde zuvor bereits sehr kritisch wahrgenommen, publizierte sie doch auch Diskussionsbeiträge, die das offizielle Geschichtsbild zur Diskussion stellen (u.a. zum Hitler-Stalin-Pakt). Am 19. November gab es eine Pressemitteilung im Neuen Deutschland – ich zitiere:
„Wie die Pressestelle des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen mitteilt, ist die Zeitschrift Sputnik von der Postzeitungsliste gestrichen worden. Sie bringt keinen Beitrag, der der Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft dient, stattdessen verzerrende Beiträge zur Geschichte.“
Das war die ganze Mitteilung, die Aufregung war riesig. Natürlich wurde danach in der BRD kritisch über das Sputnik-Verbot in der DDR berichtet – und anschließend setzte sich das Neue Deutschland wiederum mit den kritischen Reaktionen aus der BRD auseinander. Der Wissensdurst in der DDR wurde durch das Verbot nur angestachelt.
Ich möchte ein weiteres Beispiel anführen. In der DDR-Berichterstattung gab es die Praxis, mit einem kritischen Kommentar auf ein Ereignis oder eine Veröffentlichung in westlichen Medien zu reagieren, ohne dass der eigentliche Hintergrund nachvollziehbar war. Einen ähnlichen – und doch ganz anders gelagerten – Fall gab es Anfang 1989 im Hinblick auf die sowjetischen Kontroversen für oder gegen Glasnost und Perestrojka. Am 20. Januar 1989 wurde im Neuen Deutschland ein offener Brief einiger russischer Schriftsteller abgedruckt, der zwei Tage zuvor in der Pravda erschienen war. Autoren wie z.B. Viktor Astaf’ev, Vasilij Belov, Pëtr Proskurin und Valentin Rasputin nahmen eine Kritik an der Position Jurij Bondarevs im Ogonëk zum Anlass, um dagegen zu protestierten, dass in der Zeitschrift „die Geschichte unter dem Deckmantel lebenswichtiger Losungen beispiellos verzerrt“, die sozialen Errungenschaften des Volkes relativiert und die kulturellen Werte banalisiert würden. In der Tat nahm Ogonëk eine Vorreiterrolle in den Kontroversen um Glasnost und Perestrojka ein, setzte sich mit seinen Publikationen für die Aufdeckung der Terrorpraktiken nach 1917 ebenso ein wie für eine Öffnung zur kulturellen Moderne, auch der des Westens. Die Briefschreiber werteten das als Abkehr von den traditionellen russischen geistigen und geistlichen Werten (duchovnye cennosti). Ihr Brief wurde kommentarlos im Neuen Deutschland abgedruckt, ohne dass jemand den Kontext nachvollziehen konnte. Es gab einen offenen Brief gegen diese Anschuldigungen namhafter, nicht allein russischer, Autoren – u.a. des Belorussen Vassil Bykau (Transkription aus dem Russ.: Vasilij Bykov), des Moldauers Ion Druṭă (Transkription aus dem Russ.: Ion Druce), des Abchasen Fazil’ Iskander sowie von Andrej Vosnesenskij, Daniil Granin, Vladimir Dudincev, Evgenij Evtušenko, Bulat Okudžava u.a. Er sollte den Leserinnen und Lesern offenbar vorbehalten werden. Das Neue Deutschland positionierte sich damit offen gegen die Perestrojka.
In meinem Archiv fand ich eine maschinenschriftliche Kopie, der ich entnehme, dass ich damals gebeten worden bin (von wem, weiß ich nicht mehr), die für viele unverständlichen Hintergründe der hitzigen Auseinandersetzung zu erklären. Ich stellte zunächst Bondarevs Haltung vor, ich schrieb u.a.:
„Bondarev spielt seit mindestens zwei Jahren eine ziemlich negative Rolle in den aktuellen geistigen Auseinandersetzungen. Im März 1987 prägte er ein Schlagwort, das sogar von den Extremisten der ‚Pamjat’‘ viel zitiert wird: Er verlangte nach einer ‚Stalingrader Schlacht in der Kultur‘, denn die Öffnung der Kulturszene für die westliche Massenkunst, vor allem auch die Publikation vieler, nach 1917 emigrierter Schriftsteller bedeute einen Angriff auf die russische Kultur, auf die ureigensten Werte des russischen Volkes. Zur westlichen Massenkunst gehört bei Bondarev, wie seltsam das auch scheinen mag, auch das Schaffen solcher sowjetischer Autoren wie Mande’lštam, Zamjatin, Cvetajeva und anderer. Im Januar des vergangenen Jahres bekräftigte Bondarev diese Haltung mit der Formulierung, er rieche schon den Rauch des angezündeten Reichstages, und bis zur Volga seien es nur noch 200 Meter. Im Sommer 1988, auf der 19. Parteikonferenz der KPdSU, verglich Bondarev die Perestrojka mit einem Flugzeug, das zwar gestartet sei, aber nicht wisse, wo es landen werde. Mit anderen Worten: Der Prozeß der Zerstörung der russischen Kultur nehme jetzt, in der Zeit der Umgestaltung, dramatische Dimensionen an.“
Es sei gesagt, dass Bondarevs Haltung, insbesondere sein Ruf nach einer „Stalingrader Schlacht in der Kultur“, in weiten Kreisen der Intelligenzija große Empörung hervorrief. Die nationalistischen und stark antisemitischen Töne waren nicht zu überhören.
Zur Vorgeschichte dieser Auseinandersetzung gehört zudem, dass Valentin Rasputin im Oktober 1988 in einer Sekretariatssitzung des Schriftstellerverbandes der RSFSR, also der Russischen Föderation, offen antisemitisch argumentierte. Das war für uns – die DDR-Leser und mich als Leserin seiner Texte – enttäuschend und sehr erschreckend. Er sprach davon, dass sich gleichsam ein verbrecherisches Vorhaben mit einem anderen getroffen habe, um dem Volk das Gedächtnis und das Gespür dafür zu nehmen, was, woher und warum geschieht. Die Ursprünge dieser die russische Kultur zerstörenden Tendenz lägen in der Zeit nach der Oktoberrevolution. Damals sei die traditionelle, d.h. die klassische russische Literatur und Kunst über Bord geworfen worden und durch eine neue, die sich als revolutionär bezeichnete, ersetzt worden. Damit wandte er sich indirekt, aber prononciert gegen die Avantgarde-Kunst.
Das ist nur ein Beispiel dafür, wie schwierig es war, diese komplizierte Gemengelage zu vermitteln.
Die publizierte Literatur, vor allem die Prosa, hatte großen Anteil an einer Aufklärung über die reale Situation gerade auf dem russischen Land – ich denke etwa an Autoren der sogenannten Dorfprosa wie Vasilij Belov oder Valentin Rasputin. Doch der schwelende Konflikt unter Schriftstellern zwischen nationalkonservativen, antisemitischen Positionen und jenen, die pro Perestrojka waren, die auf moderne Positionen setzten und das sowohl im Weltbild als auch im Ästhetischen, war wirklich das Dauerthema und wurde je nach Situation mit bestimmten Beispielen untermauert. Diese beiden Lager, die jeweils mit Zeitschriften verkoppelt waren, bekriegten sich massivst mit Worten. Die Debatten wurden mit Stichworten geführt, wie Nekrophilie, Nabokov-tum, Überschwemmung der russischen Literatur mit der Massenkultur, die alles zerstöre. Unter dem Stichwort „Stalingrader Schlacht“ wurde nach der harten Hand geschrien; nach einem Stalin in der Literaturpolitik. Solche Stimmen forderten einen Beschluss, wie ihn 1946 Andrej Ždanov gegen Anna Achmatova und Michail Zoščenko gefordert hatte.
„Was ist sowjetische Literatur, was ist russische Literatur in der Sowjetzeit?
Hinter all diesen Debatten stand ein für diese Zeit charakteristisches Phänomen: Es kam zu Anerkennungs- und Rangkämpfen von Schriftstellern, die sich in einer Situation der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen abspielten.“ |
novinki: Sie waren mit den literarischen sowjetischen Neuveröffentlichungen natürlich auch aufgrund Ihrer Arbeit als Slawistin vertraut. Welche Texte würden Sie als Schlüsselmomente für jene Phase des Umbruchs bezeichnen, der unter den Vorzeichen der Perestrojka vollzogen werden sollte?
Thun-Hohenstein: Ich will zunächst einen wichtigen Text von Viktor Erofeev erwähnen: Pominki po sovetskoj literature (Totenfeier für die sowjetische Literatur; Anfang 1990). Das war eine Zäsur, eine Neubewertung der Leitlinien und der Diskussionen darüber, wie man weiter mit Literatur umzugehen habe: Was ist sowjetische Literatur, was ist russische Literatur in der Sowjetzeit?
Hinter all diesen Debatten stand ein für diese Zeit charakteristisches Phänomen: Es kam zu Anerkennungs- und Rangkämpfen von Schriftstellern, die sich in einer Situation der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen abspielten. Autoren wie Bondarev mussten sich nun im eigenen Land gegen Autorinnen und Autoren der bisher tabuisierten Literatur behaupten. Sie bangten um ihre Privilegien, um ihre etablierte Position in der russischen Gegenwartsliteratur. Das literarische Niveau ihrer Texte konnte mit vielen der jetzt publizierten Werke nicht mithalten – von Autorinnen bzw. Autoren, die dem Terror in der Sowjetunion zum Opfer gefallen waren wie Osip Mandel’štam, von jenen, die in der westlichen Emigration gelebt haben wie Marina Cvetaeva, Zinaida Gippius und Vladimir Nabokov, oder von jenen, die die Terrorzeit in der Sowjetunion überlebt haben wie Andrej Platonov, Boris Pasternak, Anna Achmatova oder Evgenija Ginzburg. Die Liste ließe sich fortsetzen, denn hinzu kamen Werke noch lebender Autoren, die in den Westen emigriert waren wie Vladimir Vojnovič, Iosif Brodskij (Joseph Brodsky), um nur einige zu nennen. Und hinzu kam eine Flut an Erinnerungen und Memoiren, an philosophischen Texten und Dokumentationen. All diese Texte wurden jetzt gleichzeitig publiziert.
Es ist aufschlussreich, sich die Listen der Werke anzusehen, über die ich damals in meinen Vorträgen sprach. In meinen ersten Vorträgen von 1987 bezog ich mich oft auf Werke, die sich vielen Problemfeldern noch recht traditionell bzw. zaghaft näherten wie Vladimir Dudincevs Roman Belye odeždy (Weiße Gewänder) über das Vorgehen gegen die Genetik in der späten Stalin-Zeit oder Anatolij Rybakovs Deti Arbata (Die Kinder vom Arbat) sowie Aleksandr Tvardovskijs Poem Po pravu pamjati (Das Recht auf Gedächtnis), die sich mit dem Stalin-Terror auseinandersetzen. Besondere literarische Ereignisse im Jahre 1987 waren Anna Achmatovas Versdichtung Rekviem (Requiem) und Michail Bulgakovs Erzählung Sobač’e serdce (Hundeherz). Eine der erschütterndsten Neuerscheinungen war für mich vielleicht Kotlovan (Die Baugrube) von Andrej Platonov, veröffentlicht 1987 in der Zeitschrift Novyj mir. Im gleichen Jahr erschien Andrej Bitovs Roman Puškinskij dom (Das Puschkin-Haus). Interessant war, dass die Schlachten in der russischen Kultur dort grandios in einer Kampfszene um die Totenmaske von Puškin metaphorisch auf den Punkt gebracht worden sind. Es war wahnsinnig spannend zu sehen, wie die Kämpfe um die Kultur, die sich in der Gegenwart abspielten, literarisch bereits verarbeitet waren.
1988 wurden in sowjetischen Zeitschriften viele, mittlerweile zu Klassikern des 20. Jahrhunderts gehörenden Prosatexte veröffentlicht, darunter Zamjatins My (Wir), Pasternaks Doktor Živago (Doktor Schiwago) und Vasilij Grossmans monumentaler Roman Žizn’ i sud’ba (Leben und Schicksal). Erst 1989 konnten einige Kapitel aus Aleksandr Solženicyns Archipelag Gulag (Der Archipel Gulag) in der Zeitschrift Novyj mir erscheinen.
Ein relativ kleiner Text im Vergleich zu diesen großen Romanen war der 1987 erschienene Roman Nočevala tučka zolotaja (Schlief ein goldnes Wölkchen) von Anatolij Pristavkin, den er schon 1981 geschrieben hatte. Das war eines der zentralen Bücher, über das ich damals oft gesprochen habe, weil es das tragische Schicksal der Tschetschenen und Inguschen behandelt, die 1944 auf Stalins Befehl alle nach Sibirien deportiert wurden. Es ist eine, auf autobiographischen Erfahrungen basierende Geschichte über ein Zwillingspaar: zwei russische Jungs, die im Krieg 1944 in einem Moskauer Kinderheim leben, immer von Hunger geplagt. Die Brüder werden mit anderen Kindern des Heims in den Nordkaukasus evakuiert, wo man ihnen bessere Verpflegung verspricht. Auf ihrer Bahnfahrt von Moskau in den Nordkaukasus begegneten sie einem Zug mit Viehwaggons voller Menschen, die Unverständliches riefen. In einem der entvölkerten Dörfer werden sie in Häuser der deportierten Tschetschenen eingewiesen. Von tschetschenischen Rebellen, die sich in den Bergen versteckt hatten, werden sie mehrfach angegriffen. Der eine der Brüder wird bei einem solchen Überfall getötet, der überlebende Zwillingsjunge kann fliehen, trifft auf einen tschetschenischen Jungen, der ihn nicht an die Tschetschenen verrät und mit dem er sich dann verbrüdert. Von ihm erfährt er, dass die in Viehwaggons gepferchten Menschen Tschetschenen waren, die nach Wasser schrien. Die beiden Jungs treten jetzt als Zwillingsbrüder auf. Als die Kinder – auch die beiden Jungs, der Tschetschene und der überlebende russische Junge – mit dem Zug an einen ungenannten, fernen Ort gebracht werden sollen, liegt die Vermutung nahe, auch dieser Transport könnte nach Sibirien gehen. Das ist ein sehr poetisch geschriebener Text, der mich damals stark beschäftigt hat.
„Das Bedürfnis nach Information in der DDR wuchs: (…) Es sickerte durch,
dass da über Texte, die man in der DDR nicht lesen konnte, gesprochen wurde (…).“ |
novinki: Viele Werke wurden erst Jahre danach auch in der DDR publiziert. Haben Sie oft Materialien aus der Sowjetunion mitgebracht, um sie dem DDR-Publikum zu vermitteln? Welche Informationen nahmen Sie mit in ihre Vorträge auf?
Thun-Hohenstein: Ja, einige der Werke, die in diesen Jahren erschienen, wurden auch noch in den letzten Jahren der DDR publiziert. Von einigen Werken gab es daher zwei Übersetzungen ins Deutsche – in der DDR und in der Bundesrepublik. Und natürlich habe ich mir Materialien von meinen Dienstreisen mitgebracht. Das Bedürfnis nach Information in der DDR wuchs: Irgendwann brauchte ich eine Bescheinigung von der Akademie der Wissenschaften, die ich an der Grenze vorzulegen hatte und die es mir erlaubte, solche Materialien (Kopien, Zeitschriften) aus der Sowjetunion einzuführen.
Zwischen 1987 und 1989 habe ich enorm viele Vorträge gehalten, wobei ich weder im Tonfall noch in den Informationen einen Unterschied machte, vor wem ich sprach – das entnehme ich meinen Karteikarten. Ich sprach vor ganz unterschiedlichen Zuhörern: vor Parteigruppen (u.a. im Aufbau Verlag und in der Redaktion der Zeitschrift Sinn und Form), vor Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Instituten der Akademie der Wissenschaften (u.a. im Institut für Molekularbiologie) oder im Sommer 1988 beim Zentralen Poetenseminar der FDJ in Schwerin.
Im Herbst 1987 kam eine Bitte aus dem Schriftstellerverband der DDR: Die sogenannten Kandidaten des Schriftstellerverbandes wollten mehr darüber erfahren, was in der DDR nicht publiziert werde. Da der Leiter der Forschungsgruppe, der das übernehmen sollte, erkrankte, bat man mich, am 30. September 1987 vor den jungen Autorinnen und Autoren zu sprechen. Das war der erste Vortrag, aus dem sich dann eine unglaubliche Kette an Folge-Vorträgen ergab: Es sickerte durch, dass da über Texte, die man in der DDR nicht lesen konnte, gesprochen wurde – und nicht alle konnten ja Russisch. So habe ich erst vor Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Schriftstellerverbandes gesprochen, dann hielt ich Vorträge vor Schriftstellerinnen und Schriftstellern in Berlin, Rostock, Leipzig und Dresden – also in ganz verschiedenen Regionen.
Dann kam über den Schriftstellerverband der DDR sogar eine Anfrage, in Westberlin zu sprechen. Man durfte ja nur nach Westberlin oder ins westliche Ausland reisen, wenn man sogenannter Reisekader war. Ich war alleinstehend mit Kind – solche Leute machte man nicht so gern zum Reisekader. Der Schriftstellerverband erreichte es dennoch, dass ich Reisekader wurde und so im Juni 1988 im Rahmen einer Veranstaltung zur russischen Literatur in der Majakovskij-Galerie am Ku’damm, die von der Sozialistischen Einheitspartei Westberlin unterhalten wurde, über Perestrojka und Glasnost sprach.
Fortsetzung des Gesprächs:
Franziska Thun-Hohenstein (II): Die Zeitschrift „Ogonëk“ als Seismograph der Zeit
Franziska Thun-Hohenstein ist Verfasserin der kürzlich erschienenen Biographie Das Leben schreiben. Warlam Schalamow: Biographie und Poetik (Matthes & Seitz Berlin, 2022). Das für ein breiteres Publikum geschriebene Buch vermittelt viel Information in einer narrativ, stilistisch sehr angenehm lesbaren Weise – nicht nur über die Person und den Autor Varlam Šalamov, sondern auch über die kulturhistorischen Hintergründe und Zusammenhänge seines Schreibens von den 1920er bis in die 1970er Jahre.
Die Idee zu diesem Buch wurzelt in den Erfahrungen, die Franziska Thun-Hohenstein als Herausgeberin der deutschsprachigen Werkausgabe Varlam Šalamovs bei Matthes & Seitz seit 2007 sammeln konnte. Bereits in ihrem Buch Gebrochene Linien. Autobiographisches Schreiben und Lagerzivilisation (Kulturverlag Kadmos Berlin, 2007), verweist sie im Epilog auf Varlam Šalamov. Anhand verschiedener Erinnerungstexte (vor allem von Lidija Ginzburg, Evgenija Ginzburg, Oleg Volkov, Evfrosinija Kersnovskaja und Abram Terc/Andrej Sinjavskij) beschäftigt sich die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin mit Formen autobiographischen Schreibens vor dem Hintergrund der sowjetischen Lagerzivilisation. Mit diesen beiden Büchern hat die Slawistin Franziska Thun-Hohenstein die Auseinandersetzung mit der russischen Literatur im Kontext der internationalen Debatten über Gedächtnis, Zeugenschaft und die Möglichkeiten der Subjektformierung „nach dem GULAG“ im deutschsprachigen Raum wesentlich mitinitiiert.
Bei dem Beitragsbild handelt es sich um einen Ausschnitt eines doppelseitigen Beitrags über Proteste gegen die industrielle Verschmutzung des Volga-Flusses in Moskau, veröffentlicht im Februar 1989 in der Zeitschrift Ogonëk (Nr. 9, 1989). Quelle: magzDB.org.