Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Fran­ziska Thun-Hohen­stein (I): „Die Vita­lität und Spreng­kraft kul­tu­reller Debatten war nicht zu unterdrücken“

Fran­ziska Thun-Hohen­stein ist Senior Fellow am Ber­liner Leibniz-Zen­trum für Lite­ratur- und Kul­tur­for­schung (ZfL), mit dessen Geschichte und Vor­ge­schichte sie als lang­jäh­rige wis­sen­schaft­liche Mit­ar­bei­terin des ZfL und, in den 1980er Jahren, des Zen­tral­in­sti­tuts für Lite­ra­tur­ge­schichte der Aka­demie der Wis­sen­schaften der DDR eng ver­bunden ist. Die bewegten Pere­strojka-Jahre hat sie zwi­schen Berlin (DDR) und Moskau intensiv miterlebt.

novinki ver­öf­fent­licht ein zwei­tei­liges Inter­view mit der Pere­strojka-Zeit­zeugin Fran­ziska Thun-Hohen­stein: Im ersten Teil spricht sie über ihre Erfah­rungen und Beob­ach­tungen jener Jahre in Berlin und Moskau – und dar­über, wie sich der „Umbau“ auf die Lite­ratur, Film­kultur und Publi­zistik aus­wirkte oder sogar davon aus­ging. Im zweiten Teil hebt sie die Rolle der Lite­ra­tur­zeit­schrift Ogonëk als Seis­mo­graph der Pere­strojka-Ära hervor – anhand einiger Zeit­schrift­aus­gaben der Jahr­gänge 1988 und 1989, die eine hoch­kon­zen­trierte Gleich­zei­tig­keit der Debatten offenlegen.

 

novinki: Fran­ziska Thun-Hohen­stein, Sie waren in den Jahren der Pere­strojka sowohl Beob­ach­terin als auch Akteurin mit Ein­bli­cken in die Ent­wick­lungen im sowje­ti­schen Zen­trum als auch in der DDR. Welche Bedeu­tung wurde der Pere­strojka in der DDR-Gesell­schaft bei­gemessen – und wie haben Sie diese his­to­ri­sche Phase für sich in Erin­ne­rung gehalten?

 

Fran­ziska Thun-Hohen­stein: Von der DDR aus habe ich die Pere­strojka als etwas sehr Exis­ten­zi­elles wahr­ge­nommen, in dop­pelter Hin­sicht: Ers­tens bin ich durch lang­jäh­rige Moskau-Auf­ent­halte seit meiner Kind­heit nahezu bilin­gual auf­ge­wachsen und fühle mich der rus­si­schen Kultur eng ver­bunden. Und zwei­tens habe ich die Pere­strojka, das Bemühen um eine Demo­kra­ti­sie­rung und Öff­nung – die glas­nost’, die Offen­heit – der sowje­ti­schen Gesell­schaft als prin­zi­piell wichtig für die dama­lige DDR emp­funden. Mit anderen Worten, ich bin mit der Pere­strojka-Zeit, die mitt­ler­weile fast vierzig Jahre zurück­liegt, sehr ver­woben – ich war damals Mitte dreißig.

Als ich nun in meinem Archiv auf der Suche nach Unter­lagen über meine dama­ligen Pere­strojka-Vor­träge gekramt habe, bin ich auf sehr inter­es­sante, teil­weise über­ra­schende Dinge gestoßen. Einiges habe ich mit­ge­bracht. (Im Fol­genden zitiert F. Thun-Hohen­stein aus Vor­trags­no­tizen und kom­men­tiert – im zweiten Teil – mit­ge­brachte Aus­gaben der Lite­ra­tur­zeit­schrift Ogonëk. Anm. d. Red.)

Die Partei- und Staats­füh­rung der DDR wollte das Land von der Pere­strojka abschotten. Kurt Hager, der damals im Polit­büro der SED für Ideo­logie zuständig war und als graue Emi­nenz galt, soll – sinn­gemäß – den Satz gesagt haben: „Wenn der Nachbar die Woh­nung reno­viert, warum muss ich dann auch tape­zieren?“ Der Satz war bezeich­nend: Man spürte die Besorgnis der Par­tei­füh­rung, ihr könnte die Kon­trolle über den ideo­lo­gie­kon­formen Cha­rakter aller Publi­ka­tionen ent­gleiten. Die Zensur blo­ckierte den Zugang zu vielen lite­ra­ri­schen und essay­is­ti­schen Texten sowie Filmen, die in der Sowjet­union heiß umstritten waren. Das hatte Kon­se­quenzen: Wer West­fern­sehen emp­fangen oder an andere west­liche Medien gelangen konnte, war besser infor­miert als jene, die zum Bei­spiel in Dresden – im „Tal der Ahnungs­losen“ – keinen Zugang zu diesen Infor­ma­ti­ons­quellen hatten. Aber es gab natür­lich viel­fäl­tige Kon­takte: Arbeits­kon­takte, pri­vate Kon­takte – es sickerte viel durch. Es war wie ein fort­wäh­render, zuneh­mender Sog – ein Bedürfnis nach Offen­heit, das für diese Zeit cha­rak­te­ris­tisch war. Auch in der DDR-Gesell­schaft gärte es zunehmend.

 

„Es war wie ein fort­wäh­render, zuneh­mender Sog – ein Bedürfnis nach Offenheit, 

das für diese Zeit cha­rak­te­ris­tisch war.“

 

novinki: Wie gestal­tete sich Ihr Arbeits­alltag als wis­sen­schaft­liche Mit­ar­bei­terin am Zen­tral­in­stitut für Lite­ra­tur­ge­schichte der Aka­demie der Wis­sen­schaften der DDR in diesen bewegten Jahren? Wie nahmen Sie die Stim­mung aus sowje­ti­scher Per­spek­tive wahr – und ver­mit­telten sie an das DDR-Publikum?

 

Thun-Hohen­stein: Neben meinen wis­sen­schaft­li­chen Auf­gaben am Aka­de­mie­in­stitut schrieb ich, wie andere Kol­le­ginnen und Kol­legen auch, interne Ver­lags­gut­achten zu lite­ra­ri­schen Neu­erschei­nungen in der Sowjet­union (vor­wie­gend für den Verlag Volk und Welt, manchmal auch für den Aufbau Verlag). In meinem Fall ging es aus­schließ­lich um rus­sisch­spra­chige Lite­ratur. Die Gut­achten dienten als Exper­tise und sollten den Ver­lagen den Rücken stärken, damit wich­tige Texte in der DDR erscheinen konnten. Dar­über hinaus erhielt ich zahl­reiche Anfragen, in internen und semi­öf­fent­li­chen Kreisen über die Pere­strojka zu spre­chen. Auf diese Vor­trags­tä­tig­keit kommen wir viel­leicht noch zu sprechen.

Sowje­ti­sche Schrift­steller – dar­unter Daniil Granin, den ich per­sön­lich gut kannte, – die oft in Ost- und in West­berlin auf­traten, spra­chen dar­über, wie elek­tri­siert sie durch die Ereig­nisse in ihrem Land waren. Das Ent­schei­dende in vielen Gesprä­chen war die Grund­frage nach gesell­schaft­li­chen Ver­än­de­rungen – und wie man damit umgehen sollte.

Im Früh­jahr 1989 war ich drei Monate in Moskau. Eigent­lich sollte ich an meiner Habi­li­ta­tion arbeiten, doch das rückte unwei­ger­lich in den Hin­ter­grund. Zwar wurde mir vor der Abreise in der Aka­demie bedeutet, ich solle mich in keine poli­ti­schen Akti­vi­täten ein­mi­schen, viel­mehr fleißig in Biblio­thek und Archiv arbeiten, doch das war nicht immer so ein­fach. Im Juni war die Atmo­sphäre in Moskau so auf­ge­laden, dass die Leute selbst im kleinen Lese­saal des Zen­tralen Lite­ra­tur­ar­chivs vor mit­ge­brachten kleinen Fern­seh­mo­ni­toren saßen und den ersten Kon­gress der Volks­de­pu­tierten ver­folgten. Das war eine unge­wohnt leben­dige Atmo­sphäre. In diesen auf­re­genden Jahren habe ich Unmengen gelesen und Exzerpte gemacht, auch von poli­ti­schen Texten. Monat für Monat wer­tete ich 1988 z.B. die Lite­ra­tur­zeit­schrift Znamja (Das Banner) aus. Ich hatte sie abon­niert, genauso wie die zen­trale Par­tei­zei­tung Pravda (Die Wahr­heit), die Zei­tungen Moskovskie Novosti (Mos­kauer Neu­ig­keiten) und Lite­ra­tur­naja gazeta (Lite­ra­tur­zei­tung) sowie die illus­trierte Wochen­zeit­schrift Ogonëk (Feu­er­chen).

Nach dem Mau­er­fall im November 1989 über­stürzten sich die Ereig­nisse dann auch in der DDR und die Prio­ri­täten ver­schoben sich.

 

„Wenn ich in die dama­lige emo­tio­nale Atmo­sphäre zurück­gehe, ist zunächst eine all­ge­meine Beobachtung

wichtig: Es war eine Gleich­zei­tig­keit an unter­schied­li­chen Themen und Fragestellungen,

die nicht nur die Lite­ratur betrafen, schon gar nicht nur die Ästhetik.“

 

novinki: Wenn Sie die Pere­strojka-Periode aus heu­tiger Per­spek­tive reflek­tieren – was fällt auf, welche Blick­ver­schie­bungen haben sich in dieser Umbruchs­zeit, aber auch in der his­to­ri­schen Distanz für Sie ergeben?

 

Thun-Hohen­stein: In der Reka­pi­tu­la­tion dieser Jahre habe ich gemerkt, wie sehr sich auch meine eigene Wahr­neh­mung ver­än­dert hat. Wenn ich in die dama­lige emo­tio­nale Atmo­sphäre zurück­gehe, ist zunächst eine all­ge­meine Beob­ach­tung wichtig: Es war eine Gleich­zei­tig­keit an unter­schied­li­chen Themen und Fra­ge­stel­lungen, die nicht nur die Lite­ratur betrafen, schon gar nicht nur die Ästhetik. Fragen der Poetik rückten zeit­weise mehr in den Hintergrund.

Auch über die Sprache wurde dis­ku­tiert. Man stol­perte etwa über die Umwer­tung bestimmter Begriffe. Der Begriff ‚choz­jain‘ (хозяин) etwa im Sinne von ‚Haus­herr‘, der das Sagen hat, war vorher in der Sowjet­union ein anrü­chiger Begriff – denn man hatte kein Pri­vat­ei­gentum zu haben.

Ich erin­nere mich an einen Fall, der mich damals erschüt­terte: Bei Moskau wollte jemand im Dorf eine Käl­ber­zucht auf­bauen, das war nun gesetz­lich erlaubt. Es wurde Land gekauft, der Hof wurde mit Abfällen aus Mos­kauer Restau­rants und Kan­tinen ver­sorgt (Moskovskoe obščest­vennoe pitanie). Dieser Käl­ber­stall wurde zweimal ange­zündet – mit der Begrün­dung: „Die Kulaken kommen zurück.“ Ein ‚Kulak‘ war im Bewusst­sein vieler immer noch jemand, der Eigentum hat und nur für sich wirt­schaftet. – Zur Erin­ne­rung: Sta­lins Kampf gegen die Bau­ern­schaft, gegen die ‚Kulaken‘, die „als Klasse ver­nichtet“ werden sollten, endete in einer Hun­ger­ka­ta­strophe (ukr.: Holo­domor). Die nega­tive Ein­stel­lung gegen­über der Pri­vat­wirt­schaft hatte tiefe Wur­zeln geschlagen. Nun aber sollte der Mensch Herr seines Grund und Bodens sein.  („Čel­ovek – choz­jain svoej zemli.“) – Was heißt das eigent­lich wirk­lich? Darf man ein eigenes Haus bauen, Schweine oder andere Tiere züchten? Wer ist man dann? Etwa ein ‚Kulak‘? Das waren Begriffe, die Spreng­kraft hatten – und das galt auch für viele andere Begriffe. Es ging also darum, diese Denk­weisen aus dem Kopf raus­zu­be­kommen, zu zeigen, dass es noch ganz andere Umgangs­weisen geben könne – zum Wohle aller.

Die The­men­felder waren ins­ge­samt von einer unge­heuren Bri­sanz und Kom­ple­xität – es ging um tabui­sierte Fragen der sowje­ti­schen Geschichte, ins­be­son­dere zur Dimen­sion des Mas­sen­ter­rors, um öko­lo­gi­sche Fragen, um mög­liche Wege einer Demo­kra­ti­sie­rung des Sowjet­sys­tems oder auch um gra­vie­rende soziale Pro­bleme in der Gegen­wart. Die poli­ti­sche Sprache änderte sich rasant. In den geistig-kul­tu­rellen Debatten zeigte sich die Kon­fron­ta­tion unter­schied­li­cher welt­an­schau­li­cher Per­spek­tiven – neben libe­ralen, welt­of­fenen Posi­tionen standen ver­här­tete Posi­tionen eines dog­ma­ti­schen Kom­mu­nismus, Spiel­arten der Mystik oder auch offener Anti­se­mi­tismus. Plötz­lich konnte man öffent­lich über alles spre­chen, konnte alles lesen. Solche Debatten wurden ab etwa 1986, nach dem Kon­gress der Film­schaf­fenden in der Öffent­lich­keit aus­ge­tragen. Das war etwas völlig Neues, das gab es ein­fach vorher nicht. Doch setzte sich diese Frei­heit erst nach und nach durch. Die Hier­ar­chie des Zuge­las­senen und Nicht-Zuge­las­senen war ein Dau­er­thema: Das Wahr­heits­mo­nopol des Mos­kauer Zen­trums war zwar gebro­chen – aber bis zu wel­chem Punkt?

Ich kann anhand meiner Notizen teil­weise rekon­stru­ieren, wie sich meine eigene Sicht ver­än­dert hat: Ich war ein großer Pere­strojka-Fan und bezog mich immer wieder auf Gor­bačёv als Auto­rität im Kampf um eine Demo­kra­ti­sie­rung des Landes und eine Öff­nung in vielen Berei­chen – bis, viel­leicht 1988, der Begriff vom „sozia­lis­ti­schen Plu­ra­lismus“ aufkam. Dann stand für mich die Frage im Raum: Wer bestimmt denn nun, bis wohin der Sozia­lismus geht und wo der Plu­ra­lismus inner­halb des Sozia­lismus auf­hört? War damit doch wieder der Anspruch auf ein Wahr­heits­mo­nopol verbunden?

 

„Aus meiner heu­tigen Sicht bestand ein Grund­pro­blem der Pere­strojka darin, dass keine unabhängigen 

juris­ti­schen Insti­tu­tionen ent­standen sind. (…) Die Auf­ar­bei­tung der sowje­ti­schen Geschichte,

vor allem der Geschichte der poli­ti­schen Repres­sionen, der unge­heuren Terror- und Gewaltexzesse

unter Stalin, blieb daher ohne juris­ti­sche Konsequenzen.“

 

novinki: Was hätte in jenen Jahren anders laufen sollen? Es gab damals Pro­gnosen, die vor einem Bür­ger­krieg warnten: War das ein reelles Szenario?

 

Thun-Hohen­stein: Ich bin keine Poli­tik­wis­sen­schaft­lerin, aber ich denke schon, dass es Kräfte gab, die bereit waren, einen Bür­ger­krieg zum Errei­chen ihrer Anliegen in Kauf zu nehmen – das hat ja der Putsch gegen Gor­bačёv 1991 gezeigt.

Aus meiner heu­tigen Sicht bestand ein Grund­pro­blem der Pere­strojka darin, dass keine unab­hän­gigen juris­ti­schen Insti­tu­tionen ent­standen sind. Da würde ich Gri­gorij Jav­lin­skij (Poli­tiker, 1989 als Mit­glied des Minis­ter­rats der UdSSR an der Aus­ar­bei­tung der Wirt­schafts­re­formen betei­ligt, lang­jäh­riger Vor­sit­zender der Partei Jabloko – Anm. d Red.) zustimmen. Die Stel­lung der juris­ti­schen Insti­tu­tionen im Staat ist geblieben, wie sie war: Die Juris­pru­denz ist dem Staat prak­tisch unter­ge­ordnet – und das hat dazu geführt, dass die poli­ti­schen Inter­essen der jewei­ligen Macht­haber auch das Rechts­system steuern.

Damals habe ich das nicht so klar erkannt, aber heute bin ich davon über­zeugt, dass dies ein Grund­pro­blem der Pere­strojka war und gra­vie­rende Folgen für die post­so­wje­ti­sche Ära in Russ­land hatte und hat. Viel­leicht ist ein Grund dafür darin aus­zu­ma­chen, dass Opfer und Täter in der sowje­ti­schen Ter­ror­ge­schichte von je her nicht so streng zu trennen waren, weil aus Tätern auch Opfer werden konnten – bei aller Pro­ble­matik der Abgren­zung. Die Auf­ar­bei­tung der sowje­ti­schen Geschichte, vor allem der Geschichte der poli­ti­schen Repres­sionen, der unge­heuren Terror- und Gewalt­ex­zesse unter Stalin, blieb daher ohne juris­ti­sche Kon­se­quenzen. Letzt­end­lich wurde die Macht des KGB, des Sicher­heits­ap­pa­rats nicht gebrochen.

 

novinki: Aus der Pere­strojka-Ära ist ein Lite­ratur- und Film­kanon her­vor­ge­gangen, der sich durch bestimmte ästhe­ti­sche, inhalt­liche Aspekte aus­zeichnet; gleich­zeitig fanden fil­mi­sche wie lite­ra­ri­sche Werke, die der Zensur anheim­ge­fallen waren und teils jahr­zehn­te­lang unter Ver­schluss blieben, (zurück) in die Öffent­lich­keit. Wie wirkte sich das auf die Viel­falt kul­tu­reller Prak­tiken aus?

 

Thun-Hohen­stein: In meinen Augen begann die Pere­strojka in der Kultur mit dem Kon­gress des sowje­ti­schen Film­ver­bands (Sojus kine­ma­to­gra­fistov), der vom 13. bis 15. Mai 1986 tagte. Das war der eigent­liche Start­schuss, denn dieser Kon­gress wurde als ein Auf­stand gegen Tabui­sie­rungen durch die Zensur wahr­ge­nommen – bis dahin war es in der Kultur relativ ruhig gewesen, obwohl Gor­bačёv ja schon 1985 an die Macht gekommen war.

Die gesamte Lei­tung des Ver­bands der Film­schaf­fenden wurde aus­ge­wech­selt (ein nam­hafter Regis­seur wie Sergej Bon­darčuk war nicht einmal als Dele­gierter gewählt worden). Ėlem Klimov, der seit 1986 Erster Sekretär des Ver­bands gewesen war, wurde dann zwar als Prä­si­dent wie­der­ge­wählt, drehte danach aber keine eigenen Filme mehr, son­dern unter­stützte die Jün­geren bei der Durch­set­zung ihrer Film­pro­jekte. Er setzte sich auch für das snjatie s polok (Dt. etwa: vom-Regal-Nehmen) ein, also die Öff­nung der Film­ar­chive – dafür, dass bis dato ver­bo­tene Filme gezeigt werden konnten.

Ein ganz zen­trales Thema in allen Debatten, egal ob es um bil­dende Kunst, Theater oder Film, vor allem aber um Lite­ratur ging, war der Umgang mit Künst­le­rinnen und Künst­lern der Emi­gra­tion. Das Span­nungs­ver­hältnis zwi­schen Werken der Sowjet­li­te­ratur, der offi­ziell publi­zierten rus­si­schen Lite­ratur, und jenen Werken, die nur im Sami­zdat kur­sierten bzw. die über den sog. ‚tamizdat‘ (eine Publi­ka­tion im Aus­land) in die Sowjet­union zurück­ge­schmug­gelt wurden, war und blieb ein Dau­er­thema bei der Frage nach der zukünf­tigen Ein­ord­nung in einen Kanon.

 

„Wir wissen heute aus vielen ver­schie­denen Berei­chen bis hin zum Verbot von Memo­rial:

Wenn die sys­te­ma­ti­schen poli­ti­schen Ver­bre­chen nicht bis zum Schluss auf­ge­klärt und benannt sind, 

dann wuchert es unter­ir­disch weiter – die erschre­ckenden Folgen sind heute zu beobachten.“

 

novinki: Lassen Sie uns zunächst über die Film­land­schaft spre­chen, da hier der Umbau der Kultur ja ihren Anfang genommen hat. Welche Filme, die in der Pere­strojka-Phase ent­standen sind, sind Ihnen beson­ders in Erin­ne­rung geblieben? Welche Themen wurden zu Film­su­jets erklärt?

 

Thun-Hohen­stein: Einer der bekann­testen Filme, die in diesen ersten Pere­strojka-Jahren wie­der­ent­deckt wurden, war Komissar (Die Kom­mis­sarin) von Alek­sandr Askol’dov, der 1967 gedreht, danach aber nie gezeigt wurde – der Regis­seur bekam Berufs­verbot und der Film ver­schwand in der Ver­sen­kung. Film­schaf­fende setzten durch, dass Die Kom­mis­sarin im Sommer 1987 auf dem Mos­kauer Film­fes­tival, wenn auch außer­halb des Pro­gramms, gezeigt wurde. Im Dezember des glei­chen Jahres fand in Moskau die offi­zi­elle Pre­miere statt.

Oft waren es Doku­men­tar­filme, die eine große Rolle spielten. Etwa der Film Legko li byt’ molodym? (Ist es leicht, jung zu sein?) von 1987 des Rigaer Doku­men­tar­re­gis­seurs Juris Pod­nieks über Jugend­liche, die nach einem Rock­kon­zert ran­da­lierten. Über den Film wurde heftig gestritten, im Ogonëk (24/1987) wurde z.B. der Leser­brief eines Mannes ver­öf­fent­licht, der den Film zwar nicht gesehen hatte, die Schuld für viele Pro­bleme Jugend­li­cher aber einzig schäd­li­chen west­li­chen Ein­flüssen zuschrieb. Aus seiner Sicht sollte die sowje­ti­sche Jugend weder mit der „west­li­chen“ Rock­musik kon­fron­tiert werden, noch solche Filme zu sehen bekommen, das würde sie nur verderben.

Grund­sätz­liche Fragen zum Umgang mit der Geschichte des GULAG-Sys­tems warf der Doku­men­tar­film Vlast’ Soloveckaja (Die Macht von Solovki; 1988) auf – ein Film über das Arbeits­lager Solovki in einem ehe­ma­ligen Kloster auf den Solovecki-Inseln (Solove­ckie ost­rova) im rus­si­schen Norden. Der Film war inso­fern bri­sant, als er doku­men­ta­ri­sche Sequenzen aus einem Pro­pa­gan­da­film von 1927 ver­wendet, der das Solovki-Arbeits­lager als ein im Rahmen der Politik der „pere­kovka“ („Umschmie­dung“) mus­ter­gül­tiges Umer­zie­hungs­lager vorstellte.

Ich habe Vlast’ Soloveckaja in Moskau gesehen, wahr­schein­lich wäh­rend einer Dienst­reise. Es gibt darin eine Szene mit Dmitrij Lichačev, einem der wich­tigsten dama­ligen Experten für alt­rus­si­sche Lite­ratur, der als Jugend­li­cher ver­haftet worden war und in dieses Lager kam. Er war vor Ort, als der Pro­pa­gan­da­film gedreht wurde. In dem neuen Doku­men­tar­film werden ihm die Bilder des Doku­men­tar­films von 1927 gezeigt und er wird gefragt, ob er die Bewa­cher, die Lager­chefs erkennt und beim Namen nennen kann, damit eine Aus­ein­an­der­set­zung, eine Art Gericht über die Täter statt­finden kann. Lichačev wei­gert sich. Er lehnt das aus ethi­schen Gründen ab, weil er befürchtet, dass das zu einem Bür­ger­krieg in der Sowjet­union führen könnte oder neue mili­tante Fronten auf­bre­chen könnten.

Damals fand ich diese Hal­tung in Ord­nung. Im Nach­hinein würde ich sagen, sie war falsch. Wie wir es heute aus vielen ver­schie­denen Berei­chen bis hin zum Verbot von Memo­rial wissen: Wenn die sys­te­ma­ti­schen poli­ti­schen Ver­bre­chen nicht bis zum Schluss auf­ge­klärt und benannt sind, dann wuchert es unter­ir­disch weiter – die erschre­ckenden Folgen sind heute zu beob­achten. (Die Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tion Memo­rial, die sich der Auf­ar­bei­tung der sowje­ti­schen Gewalt­herr­schaft, ins­be­son­dere in Bezug auf das GULAG-System, ange­nommen hat, wurde 1989 in Moskau gegründet und im Dezember 2021 von der rus­si­schen Staats­an­walt­schaft ver­boten. – Anm. d. Red.)

Ein anderer, in der Sowjet­union viel dis­ku­tierter Film war Poka­janie (Die Reue; 1984) von Tengiz Abu­ladze, the­ma­ti­sierte er doch gleich­nis­haft den Umgang mit dem sta­li­nis­ti­schen Erbe in der Gesell­schaft. Dass der Film Die Reue auch in der DDR eine sehr große Rolle spielte, lässt sich an den leb­haften Reak­tionen in der Gesell­schaft und in Zei­tungen nach­voll­ziehen. Im Oktober 1987 – ein Jahr, nachdem er auf dem West­ber­liner Film­fes­tival gezeigt worden war – wurde er im ZDF aus­ge­strahlt. Wer konnte, sah sich Die Reue an; ein-zwei Tage später erschienen in DDR-Zei­tungen meh­rere Ver­risse: auch in der zen­tralen Par­tei­zei­tung Neues Deutsch­land, in der der Film als Schwarz­ma­lerei kom­plett nie­der­ge­macht wurde.

Unver­gess­lich bleibt mir eine Szene in der Nähe des Alex­an­der­platzes, wo eine Person eine andere traf und jene Aus­gabe des Neuen Deutsch­land übergab, um diesen Ver­riss lesen und sich damit aus­ein­an­der­setzen zu können – und um wenigs­tens irgendwo mal etwas schwarz auf weiß dar­über zu lesen, warum dieser Film in der DDR offi­ziell abge­lehnt wurde. Der Umgang mit diesem Film in der Sowjet­union ebenso wie seine Tabui­sie­rung in der DDR mar­kieren m.E. die dama­ligen Dif­fe­renzen in der jewei­ligen Innen­po­litik sehr deutlich.

 

novinki: Die Film­schaf­fenden führten den kul­tu­rellen „Umbau“ also an – wie und wann reagierte der Schrift­steller-Ver­band auf die Umbruchs­stim­mung der Pere­strojka, wann setzte hier das Umdenken ein?

 

Thun-Hohen­stein: Bezeich­nen­der­weise war der Schrift­steller-Ver­band viel zurück­hal­tender – er tagte andert­halb Monate nach dem Ver­band der Film­schaf­fenden, Ende Juni 1986, und brachte nichts Ver­gleich­bares in Bewe­gung. Die Kon­tro­versen unter den Schrift­stel­lern müsste man dif­fe­ren­zierter bespre­chen, vor allem die damals schon öffent­lich wer­denden natio­na­lis­ti­schen und anti­se­mi­ti­schen Ten­denzen inner­halb der rus­si­schen Lite­ra­tur­szene, die sich ins­be­son­dere im neu­ge­grün­deten Ver­band der rus­si­schen Schrift­steller und in den Pro­grammen einiger Lite­ra­tur­zeit­schriften – vor allem in Naš sov­re­mennik (Unser Zeit­ge­nosse) – manifestierten.

 

„(D)ie Lite­ra­tur­zeit­schriften dieser Jahre beför­derten durch ihre lite­ra­ri­schen wie publi­zis­ti­schen

Publi­ka­tionen die kon­tro­versen Debatten in vielen Berei­chen, wenn sie diese nicht gar anstießen.

(…) Ogonëk (nahm) eine Vor­rei­ter­rolle in den Kon­tro­versen um Glas­nost und Pere­strojka ein,

setzte sich mit seinen Publi­ka­tionen für die Auf­de­ckung der Ter­ror­prak­tiken nach 1917 ebenso ein

wie für eine Öff­nung zur kul­tu­rellen Moderne, auch der des Westens.“

 

novinki: Sie waren Abon­nentin und Leserin ver­schie­dener sowje­ti­scher wie DDR-Zeit­schriften. Welche Rolle spielten die (Literatur-)Zeitschriften in jener gesell­schafts­po­li­ti­schen Umbruchs­zeit? Hat die DDR-Öffent­lich­keit die Dis­kus­sionen, die in der Sowjet­union in Kultur und Politik – und teils auf den Seiten der Illus­trierten – aus­ge­tragen wurden, über­haupt über­bli­cken können?

 

Thun-Hohen­stein: Zu dieser Frage wäre vieles zu sagen, zumal die Lite­ra­tur­zeit­schriften dieser Jahre in der Sowjet­union durch ihre lite­ra­ri­schen wie publi­zis­ti­schen Publi­ka­tionen die kon­tro­versen Debatten in vielen Berei­chen beför­derten, wenn nicht gar anstießen. Von der DDR aus gesehen, war es ein Ein­schnitt, dass 1988 in der DDR die Zeit­schrift Sputnik ver­boten wurde. Mit dem Sputnik-Verbot ver­schwand eine wich­tige gedruckte deutsch­spra­chige Infor­ma­ti­ons­quelle, die in der Sowjet­union für das Aus­land zusam­men­ge­stellt worden war. Sie wurde zuvor bereits sehr kri­tisch wahr­ge­nommen, publi­zierte sie doch auch Dis­kus­si­ons­bei­träge, die das offi­zi­elle Geschichts­bild zur Dis­kus­sion stellen (u.a. zum Hitler-Stalin-Pakt). Am 19. November gab es eine Pres­se­mit­tei­lung im Neuen Deutsch­land – ich zitiere:

 

„Wie die Pres­se­stelle des Minis­te­riums für Post- und Fern­mel­de­wesen mit­teilt, ist die Zeit­schrift Sputnik von der Post­zei­tungs­liste gestri­chen worden. Sie bringt keinen Bei­trag, der der Fes­ti­gung der deutsch-sowje­ti­schen Freund­schaft dient, statt­dessen ver­zer­rende Bei­träge zur Geschichte.“

 

Das war die ganze Mit­tei­lung, die Auf­re­gung war riesig. Natür­lich wurde danach in der BRD kri­tisch über das Sputnik-Verbot in der DDR berichtet – und anschlie­ßend setzte sich das Neue Deutsch­land wie­derum mit den kri­ti­schen Reak­tionen aus der BRD aus­ein­ander. Der Wis­sens­durst in der DDR wurde durch das Verbot nur angestachelt.

Ich möchte ein wei­teres Bei­spiel anführen. In der DDR-Bericht­erstat­tung gab es die Praxis, mit einem kri­ti­schen Kom­mentar auf ein Ereignis oder eine Ver­öf­fent­li­chung in west­li­chen Medien zu reagieren, ohne dass der eigent­liche Hin­ter­grund nach­voll­ziehbar war. Einen ähn­li­chen – und doch ganz anders gela­gerten – Fall gab es Anfang 1989 im Hin­blick auf die sowje­ti­schen Kon­tro­versen für oder gegen Glas­nost und Pere­strojka. Am 20. Januar 1989 wurde im Neuen Deutsch­land ein offener Brief einiger rus­si­scher Schrift­steller abge­druckt, der zwei Tage zuvor in der Pravda erschienen war. Autoren wie z.B. Viktor Astaf’ev, Vasilij Belov, Pëtr Pro­s­kurin und Valentin Ras­putin nahmen eine Kritik an der Posi­tion Jurij Bon­darevs im Ogonëk zum Anlass, um dagegen zu pro­tes­tierten, dass in der Zeit­schrift „die Geschichte unter dem Deck­mantel lebens­wich­tiger Losungen bei­spiellos ver­zerrt“, die sozialen Errun­gen­schaften des Volkes rela­ti­viert und die kul­tu­rellen Werte bana­li­siert würden. In der Tat nahm Ogonëk eine Vor­rei­ter­rolle in den Kon­tro­versen um Glas­nost und Pere­strojka ein, setzte sich mit seinen Publi­ka­tionen für die Auf­de­ckung der Ter­ror­prak­tiken nach 1917 ebenso ein wie für eine Öff­nung zur kul­tu­rellen Moderne, auch der des Wes­tens. Die Brief­schreiber wer­teten das als Abkehr von den tra­di­tio­nellen rus­si­schen geis­tigen und geist­li­chen Werten (duchovnye cen­nosti). Ihr Brief wurde kom­men­tarlos im Neuen Deutsch­land abge­druckt, ohne dass jemand den Kon­text nach­voll­ziehen konnte. Es gab einen offenen Brief gegen diese Anschul­di­gungen nam­hafter, nicht allein rus­si­scher, Autoren – u.a. des Bel­o­russen Vassil Bykau (Tran­skrip­tion aus dem Russ.: Vasilij Bykov), des Mol­dauers Ion Druṭă (Tran­skrip­tion aus dem Russ.: Ion Druce), des Abchasen Fazil’ Iskander sowie von Andrej Vos­ne­senskij, Daniil Granin, Vla­dimir Dudincev, Evgenij Evtušenko, Bulat Oku­džava u.a. Er sollte den Lese­rinnen und Lesern offenbar vor­be­halten werden. Das Neue Deutsch­land posi­tio­nierte sich damit offen gegen die Perestrojka.

In meinem Archiv fand ich eine maschi­nen­schrift­liche Kopie, der ich ent­nehme, dass ich damals gebeten worden bin (von wem, weiß ich nicht mehr), die für viele unver­ständ­li­chen Hin­ter­gründe der hit­zigen Aus­ein­an­der­set­zung zu erklären. Ich stellte zunächst Bon­darevs Hal­tung vor, ich schrieb u.a.:

 

Bon­darev spielt seit min­des­tens zwei Jahren eine ziem­lich nega­tive Rolle in den aktu­ellen geis­tigen Aus­ein­an­der­set­zungen. Im März 1987 prägte er ein Schlag­wort, das sogar von den Extre­misten der ‚Pamjat’‘ viel zitiert wird: Er ver­langte nach einer ‚Sta­lin­grader Schlacht in der Kultur‘, denn die Öff­nung der Kul­tur­szene für die west­liche Mas­sen­kunst, vor allem auch die Publi­ka­tion vieler, nach 1917 emi­grierter Schrift­steller bedeute einen Angriff auf die rus­si­sche Kultur, auf die urei­gensten Werte des rus­si­schen Volkes. Zur west­li­chen Mas­sen­kunst gehört bei Bon­darev, wie seltsam das auch scheinen mag, auch das Schaffen sol­cher sowje­ti­scher Autoren wie Man­de’lštam, Zam­jatin, Cve­ta­jeva und anderer. Im Januar des ver­gan­genen Jahres bekräf­tigte Bon­darev diese Hal­tung mit der For­mu­lie­rung, er rieche schon den Rauch des ange­zün­deten Reichs­tages, und bis zur Volga seien es nur noch 200 Meter. Im Sommer 1988, auf der 19. Par­tei­kon­fe­renz der KPdSU, ver­glich Bon­darev die Pere­strojka mit einem Flug­zeug, das zwar gestartet sei, aber nicht wisse, wo es landen werde. Mit anderen Worten: Der Prozeß der Zer­stö­rung der rus­si­schen Kultur nehme jetzt, in der Zeit der Umge­stal­tung, dra­ma­ti­sche Dimen­sionen an.“

 

Es sei gesagt, dass Bon­darevs Hal­tung, ins­be­son­dere sein Ruf nach einer „Sta­lin­grader Schlacht in der Kultur“, in weiten Kreisen der Intel­li­gen­zija große Empö­rung her­vor­rief. Die natio­na­lis­ti­schen und stark anti­se­mi­ti­schen Töne waren nicht zu überhören.

Zur Vor­ge­schichte dieser Aus­ein­an­der­set­zung gehört zudem, dass Valentin Ras­putin im Oktober 1988 in einer Sekre­ta­ri­ats­sit­zung des Schrift­stel­ler­ver­bandes der RSFSR, also der Rus­si­schen Föde­ra­tion, offen anti­se­mi­tisch argu­men­tierte. Das war für uns – die DDR-Leser und mich als Leserin seiner Texte – ent­täu­schend und sehr erschre­ckend. Er sprach davon, dass sich gleichsam ein ver­bre­che­ri­sches Vor­haben mit einem anderen getroffen habe, um dem Volk das Gedächtnis und das Gespür dafür zu nehmen, was, woher und warum geschieht. Die Ursprünge dieser die rus­si­sche Kultur zer­stö­renden Ten­denz lägen in der Zeit nach der Okto­ber­re­vo­lu­tion. Damals sei die tra­di­tio­nelle, d.h. die klas­si­sche rus­si­sche Lite­ratur und Kunst über Bord geworfen worden und durch eine neue, die sich als revo­lu­tionär bezeich­nete, ersetzt worden. Damit wandte er sich indi­rekt, aber pro­non­ciert gegen die Avantgarde-Kunst.

Das ist nur ein Bei­spiel dafür, wie schwierig es war, diese kom­pli­zierte Gemenge­lage zu vermitteln.

Die publi­zierte Lite­ratur, vor allem die Prosa, hatte großen Anteil an einer Auf­klä­rung über die reale Situa­tion gerade auf dem rus­si­schen Land – ich denke etwa an Autoren der soge­nannten Dorf­prosa wie Vasilij Belov oder Valentin Ras­putin. Doch der schwe­lende Kon­flikt unter Schrift­stel­lern zwi­schen natio­nal­kon­ser­va­tiven, anti­se­mi­ti­schen Posi­tionen und jenen, die pro Pere­strojka waren, die auf moderne Posi­tionen setzten und das sowohl im Welt­bild als auch im Ästhe­ti­schen, war wirk­lich das Dau­er­thema und wurde je nach Situa­tion mit bestimmten Bei­spielen unter­mauert. Diese beiden Lager, die jeweils mit Zeit­schriften ver­kop­pelt waren, bekriegten sich mas­sivst mit Worten. Die Debatten wurden mit Stich­worten geführt, wie Nekro­philie, Nabokov-tum, Über­schwem­mung der rus­si­schen Lite­ratur mit der Mas­sen­kultur, die alles zer­störe. Unter dem Stich­wort „Sta­lin­grader Schlacht“ wurde nach der harten Hand geschrien; nach einem Stalin in der Lite­ra­tur­po­litik. Solche Stimmen for­derten einen Beschluss, wie ihn 1946 Andrej Ždanov gegen Anna Ach­ma­tova und Michail Zoščenko gefor­dert hatte.

 

„Was ist sowje­ti­sche Lite­ratur, was ist rus­si­sche Lite­ratur in der Sowjetzeit? 

Hinter all diesen Debatten stand ein für diese Zeit cha­rak­te­ris­ti­sches Phänomen: 

Es kam zu Aner­ken­nungs- und Rang­kämpfen von Schriftstellern, 

die sich in einer Situa­tion der Gleich­zei­tig­keit des Ungleich­zei­tigen abspielten.“

 

novinki: Sie waren mit den lite­ra­ri­schen sowje­ti­schen Neu­ver­öf­fent­li­chungen natür­lich auch auf­grund Ihrer Arbeit als Sla­wistin ver­traut. Welche Texte würden Sie als Schlüs­sel­mo­mente für jene Phase des Umbruchs bezeichnen, der unter den Vor­zei­chen der Pere­strojka voll­zogen werden sollte?

 

Thun-Hohen­stein: Ich will zunächst einen wich­tigen Text von Viktor Ero­feev erwähnen: Pominki po sovetskoj lite­ra­ture (Toten­feier für die sowje­ti­sche Lite­ratur; Anfang 1990). Das war eine Zäsur, eine Neu­be­wer­tung der Leit­li­nien und der Dis­kus­sionen dar­über, wie man weiter mit Lite­ratur umzu­gehen habe: Was ist sowje­ti­sche Lite­ratur, was ist rus­si­sche Lite­ratur in der Sowjetzeit?

Hinter all diesen Debatten stand ein für diese Zeit cha­rak­te­ris­ti­sches Phä­nomen: Es kam zu Aner­ken­nungs- und Rang­kämpfen von Schrift­stel­lern, die sich in einer Situa­tion der Gleich­zei­tig­keit des Ungleich­zei­tigen abspielten. Autoren wie Bon­darev mussten sich nun im eigenen Land gegen Autorinnen und Autoren der bisher tabui­sierten Lite­ratur behaupten. Sie bangten um ihre Pri­vi­le­gien, um ihre eta­blierte Posi­tion in der rus­si­schen Gegen­warts­li­te­ratur. Das lite­ra­ri­sche Niveau ihrer Texte konnte mit vielen der jetzt publi­zierten Werke nicht mit­halten – von Autorinnen bzw. Autoren, die dem Terror in der Sowjet­union zum Opfer gefallen waren wie Osip Man­del’štam, von jenen, die in der west­li­chen Emi­gra­tion gelebt haben wie Marina Cve­taeva, Zinaida Gip­pius und Vla­dimir Nabokov, oder von jenen, die die Ter­ror­zeit in der Sowjet­union über­lebt haben wie Andrej Pla­tonov, Boris Pas­ternak, Anna Ach­ma­tova oder Evge­nija Ginz­burg. Die Liste ließe sich fort­setzen, denn hinzu kamen Werke noch lebender Autoren, die in den Westen emi­griert waren wie Vla­dimir Voj­novič, Iosif Brod­skij (Joseph Brodsky), um nur einige zu nennen. Und hinzu kam eine Flut an Erin­ne­rungen und Memoiren, an phi­lo­so­phi­schen Texten und Doku­men­ta­tionen. All diese Texte wurden jetzt gleich­zeitig publiziert.

Es ist auf­schluss­reich, sich die Listen der Werke anzu­sehen, über die ich damals in meinen Vor­trägen sprach. In meinen ersten Vor­trägen von 1987 bezog ich mich oft auf Werke, die sich vielen Pro­blem­fel­dern noch recht tra­di­tio­nell bzw. zag­haft näherten wie Vla­dimir Dudincevs Roman Belye odeždy (Weiße Gewänder) über das Vor­gehen gegen die Genetik in der späten Stalin-Zeit oder Ana­tolij Ryba­kovs Deti Arbata (Die Kinder vom Arbat) sowie Alek­sandr Tvar­dovs­kijs Poem Po pravu pam­jati (Das Recht auf Gedächtnis), die sich mit dem Stalin-Terror aus­ein­an­der­setzen. Beson­dere lite­ra­ri­sche Ereig­nisse im Jahre 1987 waren Anna Ach­ma­tovas Vers­dich­tung Rek­viem (Requiem) und Michail Bul­ga­kovs Erzäh­lung Sobač’e serdce (Hun­de­herz). Eine der erschüt­terndsten Neu­erschei­nungen war für mich viel­leicht Kot­l­ovan (Die Bau­grube) von Andrej Pla­tonov, ver­öf­fent­licht 1987 in der Zeit­schrift Novyj mir. Im glei­chen Jahr erschien Andrej Bitovs Roman Puškin­skij dom (Das Puschkin-Haus). Inter­es­sant war, dass die Schlachten in der rus­si­schen Kultur dort gran­dios in einer Kampf­szene um die Toten­maske von Puškin meta­pho­risch auf den Punkt gebracht worden sind. Es war wahn­sinnig span­nend zu sehen, wie die Kämpfe um die Kultur, die sich in der Gegen­wart abspielten, lite­ra­risch bereits ver­ar­beitet waren.

1988 wurden in sowje­ti­schen Zeit­schriften viele, mitt­ler­weile zu Klas­si­kern des 20. Jahr­hun­derts gehö­renden Pro­sa­texte ver­öf­fent­licht, dar­unter Zam­ja­tins My (Wir), Pas­ter­naks Doktor Živago (Doktor Schi­wago) und Vasilij Gross­mans monu­men­taler Roman Žizn’ i sud’ba (Leben und Schicksal). Erst 1989 konnten einige Kapitel aus Alek­sandr Solže­ni­cyns Archi­pelag Gulag (Der Archipel Gulag) in der Zeit­schrift Novyj mir erscheinen.

Ein relativ kleiner Text im Ver­gleich zu diesen großen Romanen war der 1987 erschie­nene Roman Noče­vala tučka zolo­taja (Schlief ein goldnes Wölk­chen) von Ana­tolij Pristavkin, den er schon 1981 geschrieben hatte. Das war eines der zen­tralen Bücher, über das ich damals oft gespro­chen habe, weil es das tra­gi­sche Schicksal der Tsche­tschenen und Ingu­schen behan­delt, die 1944 auf Sta­lins Befehl alle nach Sibi­rien depor­tiert wurden. Es ist eine, auf auto­bio­gra­phi­schen Erfah­rungen basie­rende Geschichte über ein Zwil­lings­paar: zwei rus­si­sche Jungs, die im Krieg 1944 in einem Mos­kauer Kin­der­heim leben, immer von Hunger geplagt. Die Brüder werden mit anderen Kin­dern des Heims in den Nord­kau­kasus eva­ku­iert, wo man ihnen bes­sere Ver­pfle­gung ver­spricht. Auf ihrer Bahn­fahrt von Moskau in den Nord­kau­kasus begeg­neten sie einem Zug mit Vieh­wag­gons voller Men­schen, die Unver­ständ­li­ches riefen. In einem der ent­völ­kerten Dörfer werden sie in Häuser der depor­tierten Tsche­tschenen ein­ge­wiesen. Von tsche­tsche­ni­schen Rebellen, die sich in den Bergen ver­steckt hatten, werden sie mehr­fach ange­griffen. Der eine der Brüder wird bei einem sol­chen Über­fall getötet, der über­le­bende Zwil­lings­junge kann fliehen, trifft auf einen tsche­tsche­ni­schen Jungen, der ihn nicht an die Tsche­tschenen verrät und mit dem er sich dann ver­brü­dert. Von ihm erfährt er, dass die in Vieh­wag­gons gepferchten Men­schen Tsche­tschenen waren, die nach Wasser schrien. Die beiden Jungs treten jetzt als Zwil­lings­brüder auf. Als die Kinder – auch die beiden Jungs, der Tsche­tschene und der über­le­bende rus­si­sche Junge – mit dem Zug an einen unge­nannten, fernen Ort gebracht werden sollen, liegt die Ver­mu­tung nahe, auch dieser Trans­port könnte nach Sibi­rien gehen. Das ist ein sehr poe­tisch geschrie­bener Text, der mich damals stark beschäf­tigt hat.

 

„Das Bedürfnis nach Infor­ma­tion in der DDR wuchs: (…) Es sickerte durch,

dass da über Texte, die man in der DDR nicht lesen konnte, gespro­chen wurde (…).“

 

novinki: Viele Werke wurden erst Jahre danach auch in der DDR publi­ziert. Haben Sie oft Mate­ria­lien aus der Sowjet­union mit­ge­bracht, um sie dem DDR-Publikum zu ver­mit­teln? Welche Infor­ma­tionen nahmen Sie mit in ihre Vor­träge auf?

 

Thun-Hohen­stein: Ja, einige der Werke, die in diesen Jahren erschienen, wurden auch noch in den letzten Jahren der DDR publi­ziert. Von einigen Werken gab es daher zwei Über­set­zungen ins Deut­sche – in der DDR und in der Bun­des­re­pu­blik. Und natür­lich habe ich mir Mate­ria­lien von meinen Dienst­reisen mit­ge­bracht. Das Bedürfnis nach Infor­ma­tion in der DDR wuchs: Irgend­wann brauchte ich eine Beschei­ni­gung von der Aka­demie der Wis­sen­schaften, die ich an der Grenze vor­zu­legen hatte und die es mir erlaubte, solche Mate­ria­lien (Kopien, Zeit­schriften) aus der Sowjet­union einzuführen.

Zwi­schen 1987 und 1989 habe ich enorm viele Vor­träge gehalten, wobei ich weder im Ton­fall noch in den Infor­ma­tionen einen Unter­schied machte, vor wem ich sprach – das ent­nehme ich meinen Kar­tei­karten. Ich sprach vor ganz unter­schied­li­chen Zuhö­rern: vor Par­tei­gruppen (u.a. im Aufbau Verlag und in der Redak­tion der Zeit­schrift Sinn und Form), vor Mit­ar­bei­te­rinnen und Mit­ar­bei­tern von Insti­tuten der Aka­demie der Wis­sen­schaften (u.a. im Institut für Mole­ku­lar­bio­logie) oder im Sommer 1988 beim Zen­tralen Poe­ten­se­minar der FDJ in Schwerin.

Im Herbst 1987 kam eine Bitte aus dem Schrift­stel­ler­ver­band der DDR: Die soge­nannten Kan­di­daten des Schrift­stel­ler­ver­bandes wollten mehr dar­über erfahren, was in der DDR nicht publi­ziert werde. Da der Leiter der For­schungs­gruppe, der das über­nehmen sollte, erkrankte, bat man mich, am 30. Sep­tember 1987 vor den jungen Autorinnen und Autoren zu spre­chen. Das war der erste Vor­trag, aus dem sich dann eine unglaub­liche Kette an Folge-Vor­trägen ergab: Es sickerte durch, dass da über Texte, die man in der DDR nicht lesen konnte, gespro­chen wurde – und nicht alle konnten ja Rus­sisch. So habe ich erst vor Mit­ar­bei­te­rinnen und Mit­ar­bei­tern des Schrift­stel­ler­ver­bandes gespro­chen, dann hielt ich Vor­träge vor Schrift­stel­le­rinnen und Schrift­stel­lern in Berlin, Ros­tock, Leipzig und Dresden – also in ganz ver­schie­denen Regionen.

Dann kam über den Schrift­stel­ler­ver­band der DDR sogar eine Anfrage, in West­berlin zu spre­chen. Man durfte ja nur nach West­berlin oder ins west­liche Aus­land reisen, wenn man soge­nannter Rei­se­kader war. Ich war allein­ste­hend mit Kind – solche Leute machte man nicht so gern zum Rei­se­kader. Der Schrift­stel­ler­ver­band erreichte es den­noch, dass ich Rei­se­kader wurde und so im Juni 1988 im Rahmen einer Ver­an­stal­tung zur rus­si­schen Lite­ratur in der Maja­kovskij-Galerie am Ku’­damm, die von der Sozia­lis­ti­schen Ein­heits­partei West­berlin unter­halten wurde, über Pere­strojka und Glas­nost sprach.

 

Fort­set­zung des Gesprächs: 

Fran­ziska Thun-Hohen­stein (II): Die Zeit­schrift „Ogonëk“ als Seis­mo­graph der Zeit

 

Fran­ziska Thun-Hohen­stein ist Ver­fas­serin der kürz­lich erschie­nenen Bio­gra­phie Das Leben schreiben. Warlam Scha­lamow: Bio­gra­phie und Poetik (Matthes & Seitz Berlin, 2022). Das für ein brei­teres Publikum geschrie­bene Buch ver­mit­telt viel Infor­ma­tion in einer nar­rativ, sti­lis­tisch sehr ange­nehm les­baren Weise – nicht nur über die Person und den Autor Varlam Šalamov, son­dern auch über die kul­tur­his­to­ri­schen Hin­ter­gründe und Zusam­men­hänge seines Schrei­bens von den 1920er bis in die 1970er Jahre.

Die Idee zu diesem Buch wur­zelt in den Erfah­rungen, die Fran­ziska Thun-Hohen­stein als Her­aus­ge­berin der deutsch­spra­chigen Werk­aus­gabe Varlam Šala­movs bei Matthes & Seitz seit 2007 sam­meln konnte. Bereits in ihrem Buch Gebro­chene Linien. Auto­bio­gra­phi­sches Schreiben und Lager­zi­vi­li­sa­tion (Kul­tur­verlag Kadmos Berlin, 2007), ver­weist sie im Epilog auf Varlam Šalamov. Anhand ver­schie­dener Erin­ne­rungs­texte (vor allem von Lidija Ginz­burg, Evge­nija Ginz­burg, Oleg Volkov, Evf­ro­si­nija Kers­novs­kaja und Abram Terc/Andrej Sin­javskij) beschäf­tigt sich die Lite­ratur- und Kul­tur­wis­sen­schaft­lerin mit Formen auto­bio­gra­phi­schen Schrei­bens vor dem Hin­ter­grund der sowje­ti­schen Lager­zi­vi­li­sa­tion. Mit diesen beiden Büchern hat die Sla­wistin Fran­ziska Thun-Hohen­stein die Aus­ein­an­der­set­zung mit der rus­si­schen Lite­ratur im Kon­text der inter­na­tio­nalen Debatten über Gedächtnis, Zeu­gen­schaft und die Mög­lich­keiten der Sub­jekt­for­mie­rung „nach dem GULAG“ im deutsch­spra­chigen Raum wesent­lich mitinitiiert.

 

Bei dem Bei­trags­bild han­delt es sich um einen Aus­schnitt eines dop­pel­sei­tigen Bei­trags über Pro­teste gegen die indus­tri­elle Ver­schmut­zung des Volga-Flusses in Moskau, ver­öf­fent­licht im Februar 1989 in der Zeit­schrift Ogonëk (Nr. 9, 1989). Quelle: magzDB.org.