Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Ein klaus­tro­phobes Cabaret tsche­chi­scher Nationalgeschichte

Der Regis­seur Petr Hašek lädt in Brno zu seinem Stück 27 – Jan Mydlářs Exe­ku­ti­ons­show (27 – Exe­kuční show Jana Myd­láře, UA 2022) ein und macht darin einen Henker zum Con­fé­ren­cier einer Füh­rung durch die tsche­chi­sche Geschichte – von der Nie­der­lage in der Schlacht am Weißen Berg 1620 über den Ein­marsch der Truppen des War­schauer Pakts 1968 bis zum Kor­rup­ti­ons­skandal um Andrej Babiš. Ein wahr­haft klaus­tro­phobes Spektakel.

 

„Wer an Klaus­tro­phobie leidet, möge bitte den Raum ver­lassen!“ Nach dieser War­nung von Petr Hašek, Regis­seur und Künst­le­ri­scher Leiter des Thea­ter­en­sem­bles „Geiss­lers Hof­co­moe­di­anten“, geht das Licht im kleinen Zuschau­er­raum aus. Danach lange nichts. Es ver­streicht gefühlt eine Ewig­keit. Plötz­lich betreten zwei gro­tesk wir­kende Figuren den ver­dun­kelten Zuschauer_innenraum: ein großer schmaler Mann mit blu­tender Nase und eine betont auf­rei­zend geklei­dete Frau.

 

Wer sind die beiden? Zeit für eine Ant­wort darauf gibt es nicht, denn nach dem offen­siven Zusperren des Aus­gangs ertönt ohren­be­täu­bender metal­li­scher Lärm und eine tiefe weib­liche Stimme liest 27 Namen vor. Hinter den Wänden des Raumes bewegen sich sche­ma­ti­sche Figuren. Beklem­mung und Klaus­tro­phobie stei­gern sich ins Uner­mess­liche. Wie aus dem Nichts tau­chen schließ­lich 27 auf schwarze Jute­beutel gemalte Gesichter auf. Im Zuschau­er­raum wird es der­weil noch dunkler. Überall wabert Nebel. Allein die Gesichter auf den Beu­teln leuchten und scheinen böse ins Publikum zu bli­cken. Erneut betritt der hagere Mann die Bühne, stellt sich auf einen schmalen Holz­block mitten im Zuschauer_innenraum, wäh­rend die weib­liche Stimme ihn vor­stellt: Es ist Jan Mydlář, auch bekannt als Johannes Seifmacher.

 

Who the Fuck is Johannes Seifmacher?

Wäh­rend in Tsche­chien jedes Kind weiß, wer sich hinter diesem Namen ver­birgt, braucht es in Deutsch­land eine Kon­tex­tua­li­sie­rung. Johannes Seif­ma­cher oder auch Jan Mydlář ist der Henker, der im Juni 1621 auf dem Prager Alt­städter Ring die Anführer der böh­mi­schen Pro­tes­tanten exe­ku­tierte: 27 Männer, dar­unter 17 Adlige und 10 Bürger. Bis heute erin­nern 27 in Stein ein­ge­las­sene Kreuze an dieses grau­same Spek­takel, auch bekannt als „Prager Blut­ge­richt“. Hier, auf der Brünner Bühne des Thea­ters „Industra“, wird Mydlář nun begleitet von Dorotka, seiner unglück­li­chen Liebe. Gemeinsam erzählen sie die Geschichte Böh­mens und Tsche­chiens neu.

 

„Life is a…, Nope! Sorry. Geschichte is a Cabaret, Old Chum!“

„Life is a Cabaret, Old Chum!“, sang Liza Min­nelli 1972 in Bob Fosses Musical Cabaret. Peter Hašek hat nun seine Ver­sion dieses Mottos ent­worfen. Für ihn ist die ganze (tsche­chi­sche) Geschichte ein Cabaret, dazu ein „mor­bides“, wie im Unter­titel des Thea­ter­stü­ckes ange­führt wird. Aber warum aus­ge­rechnet eine Exe­ku­ti­ons­show im Gewand des Caba­rets? Tat­säch­lich scheint das gemeinhin für leicht­füßig befun­dene Cabaret große künst­le­ri­sche Frei­heiten zu bieten. Hašeks Cabaret besteht einmal aus lose mit­ein­ander ver­bun­denen Sket­chen, zum anderen aus der Figur des Hen­kers, der den Con­fé­ren­cier macht. Dar­über hinaus fun­giert das Cabaret für „Geiss­lers Hof­co­moe­di­anten“ auch als Meta­pher, gleicht einem Toten­tanz der Geschichte.

 

Zuerst werden Vor­ge­schichte und Folgen des Böh­mi­schen Auf­stands von 1618 vorgestellt – alles ent­lang der titel­ge­benden Ziffer 27: Genau 27 Zuschauer_innen dürfen der Hin­rich­tung der 27 Pro­tes­tanten zuschauen, wäh­rend in 27 Sket­chen durch die tsche­chi­sche Natio­nal­ge­schichte gereist wird – natür­lich in mythi­sierter Form. Dabei zeigt Show­master Mydlář, wie jedes ein­zelne natio­nale Ereignis zugleich von unwill­kür­li­chem Ego­ismus geprägt war. Hohe Ideale finden sich allen­falls im Ver­bor­genen. Das ver­bindet die barocke Geschichte mit der heu­tigen Tsche­chi­schen Repu­blik, wes­halb der Regis­seur auch alle 27 Ereig­nisse auf der glei­chen Zeit­achse prä­sen­tiert. Die Ebenen „Ges­tern = Ver­gan­gen­heit“ und „Heute = Gegen­wart“ werden demon­tiert. Alles war damals und ist jetzt: der Prager Fens­ter­sturz 1618 und die Abstim­mung gegen den Minis­ter­prä­si­denten Andrej Babiš 2018, die Pro­zesse gegen die pro­tes­tan­ti­schen Auf­stän­di­schen und die Ver­haf­tungen der­je­nigen, die 1968 gegen die Nie­der­schla­gung des Prager Früh­lings protestierten.

 

Die his­to­ri­schen Ereig­nisse werden auf der Bühne zeit­lich inein­an­der­ge­blendet, weil sie sich sinnlos wie­der­holen, die Ver­gan­gen­heit ohne Ein­fluss auf die Gegen­wart bleibt. Die ganze Geschichte also ein Pool aus Sket­chen. Einzig die Fata­lität und der Tod bleiben ewig, ver­kör­pert in der Figur des Hen­kers Mydlář.

 

Die trüben Bänder der Geschichte

Der Regis­seur findet ein­präg­same, poe­ti­sche Bilder für das Über­blenden von Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart und Zukunft, für die Unbe­weg­lich­keit der Geschichte. Einst weiße, jetzt ange­graute Elas­tik­bänder werden zwi­schen den Zuschauer_innen gespannt, so dass sie sich nicht mehr bewegen können. Dagegen tau­chen die Schauspieler_innen unent­wegt zwi­schen den Bän­dern hinauf, hinab, durch sie hin­durch. Alles wirkt chao­tisch, fre­ne­tisch, furios. Die Zuschauer_innen werden in die Beobachter_innenrolle gezwungen, müssen passiv bleiben. Einzig der Galgen auf der Bühne ist dem Henker vor­be­halten. Nur für den kurzen Moment ihrer Hin­rich­tung kommen die Pro­tes­tanten auf die Bühne, um dann wieder zwi­schen den Bän­dern unter- und auf­zu­tau­chen. Die 27 + 27 bilden einen gemein­samen Geschichts­raum, sind alle­samt Teil der Insze­nie­rung, sind das Volk, das die Exe­ku­tionen auf dem Alt­städter Ring damals so gefühllos betrach­tete wie es heute auf das aktu­elle Geschehen blickt. Zugleich sind ihre Rollen aus­tauschbar. Die schmut­zigen Bänder der Geschichte sind wie trübes Wasser – ohne einen Ausweg ans ret­tende Ufer.

 

Ein kol­lek­tiver Orgasmus gegen die Nationalgeschichte(n)

Aber ist Peter Hašek ein Schwarz­seher, der einzig den Tod als sicheres Ufer auf­zeigt? Natür­lich nicht, nur Geduld! Hašek gilt als Regis­seur, der erst­mals wieder einen unge­wöhn­lich baro­cken Büh­nen­stil auf die Bühne brachte. Er ist Absol­vent der Prager DAMU im Bereich Alter­nativ- und Pup­pen­theater. 2014 wurde er zum Direktor des Malé div­adlo (Kleines Theater) in České Budě­jo­vice ernannt. Neben dem “Malé divaldo” und „Geiss­lers Hof­co­moe­di­anten“ betreut Hašek aber auch wei­tere Thea­ter­pro­jekte, Musi­cals und Shows, lehrt als Dozent in Tsche­chien und außer­halb. Doch zurück zum Stück: Nachdem alle Auf­stän­di­schen exe­ku­tiert wurden, nachdem alle Zuschauer_innen zusahen und Jan Mydlář seiner töd­li­chen Ver­pflich­tung nachkam, wird die nun gal­gen­frei gewor­dene Holz­bühne in ein ange­nehm röt­li­ches Licht getaucht. Der Tod ist ver­schwunden, ist also nicht die Lösung. Viel­mehr wird die Bühne nun beherrscht von der „lieben Dorotka“, die von nackten Män­nern umgeben ist. Das Ganze gleitet in eine genuss­freu­dige lei­den­schaft­liche Orgie. Dorotka bleibt bis zum Ende im Zen­trum der Bühne, die sich in einen anhei­melnden Dark­room zu wan­deln beginnt. Erotik ersetzt also den Tod. Erotik ver­schlingt den natio­nalen Ego­ismus, die blu­tigen Ereig­nisse. Die so freie wie fried­liche Liebe stoppt als kol­lek­tive Orgie die aggres­sive Geschichte. Dieser Schluss kann kaum anders als ein aus­ge­streckter Mit­tel­finger gegen die über­my­thi­sierte tsche­chi­sche Natio­nal­ge­schichte gelesen werden – gegen jeden letzt­lich toxi­schen Nationsgedanken.

 

  1. Exe­kuční show Jana Myd­láře (27. Exe­ku­ti­ons­show von Jan Mydlář), Regie: Petr Hašek, Dra­ma­turgie: Luděk Horký, Natálie Pres­lová, Helena Kob­lisch­ková, Musik: David Hlaváč, Cast: Aleš Pospíšil, Martin Bohadlo, Petr Šmíd, Šimon Dohnálek, Voj­těch Bartoš, Martin Holz­knecht, Lucie Vale­nová; UA am 27. August 2022. Fes­tival Div­a­delní Svět DSB Brno.

 

Wei­ter­füh­rende Links

https://www.geisslers.cz/show-item/27/

https://goout.net/cs/27/szjornu/

Bei­trags­bild: mit freund­li­cher Geneh­mi­gung von Michal Stránský.