Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
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10099 Berlin

Prä­si­dent­schafts­wahlen im Taxi – der Doku­men­tar­film “Maršrut pere­stroen” von Maksim Šved

Belarus im Jahr 2020. Nur wenige Wochen bis zur dra­ma­ti­schen Prä­si­dent­schafts­wahl. Ein Taxi­fahrer und eine Taxi­fah­rerin: Er gegen Lukaschenko, sie für ihn. Nicht anders die Fahr­gäste. Was erwarten sie alle von der Wahl und worauf hoffen sie?

 

Der Doku­men­tar­film Maršrut pere­stroen (engl. The Route Recal­cu­lated) des Regis­seurs Maksim Shved [Maksim Šved] aus dem Jahr 2020 stellt uns den jungen Pavel aus der bela­ru­si­schen Haupt­stadt Minsk und die etwa 50-jäh­rige Anna Michaj­l­ovna aus der Klein­stadt Bar­a­na­vičy vor. Beide Taxifahrer_innen hören in ihren Autos Radio. Pavel hört poli­ti­sche Pod­casts und Gespräche über alter­na­tive Kan­di­daten, in Anna Michaj­l­ovnas Wagen sind Nach­richten offi­zi­eller Sender zu hören. Im Laufe des Films erfahren wir, dass sich Pavel poli­ti­sche Ver­än­de­rungen wünscht und gegen Dik­tator Alex­ander Lukaschenko trotz der Gefahr ver­haftet zu werden pro­tes­tieren will. Anna Michaj­l­ovna hin­gegen sehnt sich nach Sta­bi­lität und möchte für Lukaschenko abstimmen. Sie ver­steht nicht, wofür Men­schen auf die Straße gehen und welche Art von Ver­än­de­rungen sie wollen. Sie glaubt, dass Lukaschenko das Rich­tige für sie und ihr Land tut.

 

Maksim Shveds infor­ma­tiver Doku­men­tar­film steht in einer Reihe von Filmen über die Pro­teste in Belarus im Jahre 2020, wie Sme­lost‘ (dt. Cou­rage, 2021) von Ali­aksei Paluyan [Aljaksej Palujan], Mara (2022) von Sasha Kulak [Aleksandra/Saša Kulak] und Minsk (2021) von Boris Guts. Er hält fest, was vor der Wahl in Belarus im Sommer 2020 bereits in der Luft hing und doku­men­tiert zudem einige der fried­li­chen Demons­tra­tionen zur Unter­stüt­zung der oppo­si­tio­nellen Prä­si­dent­schafts­kan­di­datin Swet­lana Tich­anows­kaja [Svjat­lana Zichanoŭskaja].

 

Im Mit­tel­punkt der Hand­lung stehen Dia­loge zwi­schen den Fahr­gästen, die mit meh­reren, im Innen­raum des Taxis befes­tigten, Klein­ka­meras gefilmt wurden. So haben wir fast wäh­rend des ganzen Films die Mög­lich­keit, den Gesprä­chen in den beiden Taxis zu folgen und eine Illu­sion des unmit­tel­baren Mit­er­le­bens vor Ort zu bekommen. Nur am Ende steigen wir mit den Taxifahrer_innen aus den Autos aus, um an der Wahl teil­zu­nehmen und geraten dann mitten hinein in den Wirbel des Protests.

 

Die Idee von Shved ähnelt der im Spiel­film Night on Earth von Jim Jar­musch (1991), dessen Kom­po­si­tion auf Gesprä­chen in Taxis in fünf Städten der Welt basiert, oder dem Film Taxi des ira­ni­schen Regis­seurs Jafar Panahi (2015), in dem Dia­loge im Auto die poli­ti­sche Situa­tion im Staat ver­deut­li­chen. In diesen Filmen wird das Taxi zu einem intimen Raum, in dem Ver­trauen zwi­schen den Protagonist_innen ent­steht. In Maršrut pere­stroen exis­tiert der Taxi-Raum par­allel zum bru­talen öffent­li­chen Raum mit seinen poli­ti­schen Insti­tu­tionen und wird zu einem Ort, in dem man sich frei äußern kann. In diesem Mikro­kosmos treffen Men­schen mit völlig unter­schied­li­chen Ansichten auf­ein­ander. Einige Taxi­fahr­gäste wün­schen sich die soge­nannte „Sta­bi­lität“, die ihnen Dik­tator Lukaschenko ver­spricht. Andere, meist junge Men­schen, sehnen sich nach grund­sätz­li­chen poli­ti­schen Ver­än­de­rungen wie Macht­wechsel, Wie­der­her­stel­lung der Mei­nungs­frei­heit und Ein­hal­tung der Menschenrechte.

 

Die ago­nale Sym­me­trie der Hand­lung in Maršrut pere­stroen lässt nach­emp­finden, wie dra­ma­tisch die bela­ru­si­sche Gesell­schaft gespalten ist. „Was haben sie euch ver­spro­chen?“ – fragt Anna Michaj­l­ovna skep­tisch, als sich zwei Jungen mit weiß-rot-weißen Fahnen, die von einer Demo mit Zichanoŭskaja kommen, in ihr Auto setzen. Sie ist über­zeugt, dass die Demons­trie­renden von „Ter­ro­risten“ aus dem Aus­land mobi­li­siert wurden und will ihnen des­wegen nicht trauen. „Hoff­nung auf Ver­än­de­rung“, kommt die wage Ant­wort der Jungen. Ein anderer, pro Lukaschenko gestimmter Fahr­gast ist über­zeugt, dass sein Kan­didat gar keine beson­dere Unter­stüt­zung nötig habe. Die öffent­liche Unter­stüt­zung Lukaschenkos und seiner Regie­rung ist in Wahl­pla­katen omni­prä­sent. Durch die Augen der Taxi­fahr­gäste sehen wir ideo­lo­gisch auf­ge­la­dene Pro­pa­gan­da­pla­kate an der Wind­schutz­scheibe vor­bei­ziehen: „Ich würde gerne zur Armee gehen“; „Batka, geh voran, das Volk ist mit dir“.

 

Die ver­spro­chene Sta­bi­lität ist aber eine Illu­sion, was sich auch im Stadt­bild zeigt: Wäh­rend Kinder fried­lich im Park spielen, ziehen sich Bereitschaftspolizist_innen und Panzer an großen Ver­samm­lungs­plätzen zusammen. Diese Koexis­tenz von fried­li­chen Men­schen und von Gewalt aus­übenden Vertreter_innen staat­li­cher Insti­tu­tionen macht deut­lich, wie stark poli­ti­sche Unter­drü­ckung den Alltag in Belarus bestimmt. Später wird sie in den wochen­lang andau­ernden gewalt­samen Pro­vo­ka­tionen gegen fried­lich pro­tes­tie­rende Bürger_innen Belarus zum Aus­druck kommen.

 

Am 10. November, dem Tag, an dem der Film Maršrut pere­stroen auf dem Film­Fes­tival Cottbus gezeigt wurde, hat das Innen­mi­nis­te­rium von Belarus den Slogan der Regimegegner_innen für ein freies Belarus „Živye Belarus“ mit Nazi-Sym­bolik gleich­ge­setzt. „Živye Belarus“ laut zu sagen, gilt seither dem bela­ru­si­schen Gesetz zufolge als extre­mis­tisch. „Man weiß nie, ob man ver­haftet wird oder nicht, sie lassen dich ständig Angst spüren“, sagte der Regis­seur nach der Film­vor­füh­rung in Cottbus. Am Ende des Films erfahren die Zuschauer_innen die tra­gi­schen Lebens­um­stände der Taxi­fahr­gäste, die sich gegen das Regime gestellt haben. Jemand wurde ver­haftet, jemand emi­grierte, jemand musste wegen der poli­ti­schen Ansichten seinen Job auf­geben. Der Regis­seur und der Kame­ra­mann wurden selbst wäh­rend der Pro­teste in Minsk auf der Straße ver­haftet und mussten ins Exil.

 

Am letzten Drehtag, dem Tag der Wahl, sieht man überall Gefan­ge­nen­trans­porter mit der Auf­schrift „Men­schen“. Sie ver­sperren den Autos den Weg, wes­halb das Navi­ga­ti­ons­gerät die Fahr­route ständig ändern muss. Die überall ent­ste­henden Sack­gassen ent­spre­chen der Hoff­nungs­lo­sig­keit, die sich nach dem Sieg Lukaschenkos und der bru­talen Nie­der­schla­gung der Pro­teste im Stadt­raum und im ganzen Land ver­breitet. Und doch scheinen manche Fahr­gäste über­zeugt davon, dass der Wandel noch bevor­steht, die Route also tat­säch­lich berechnet werden kann.

 

Maksim Shved: MARSHRUT PERESTROEN (The Route Recal­cu­lated). Belarus, 2020, 52 min.