Eine Landschaft voller Gewalt

Ein Mann läuft mit einer Schubkarre eine leere Straße entlang. Er transportiert einen reglosen Frauenkörper. Sein Ziel: die Mülldeponie. In ihrem neusten Film Otvergnutye (Abgelehnt, 2018) zeigt Žanna Isabaeva den Stellenwert einer alleinstehenden Mutter im gegenwärtigen Kasachstan auf – bis über die Schmerzgrenze hinweg.

 

Das post-sowjetische Kasachstan ist beherrscht von Nepotismus und Korruption. Patriarchale Strukturen diktieren das alltägliche Leben. Inmitten dieses unmenschlichen Systems kämpft die von ihrer Familie verstoßene Mutter Aiganym (Žanargul Žanyamanova) mit eisernem Willen dafür, ihrem unehelichen Sohn Timur eine solche zu bieten. Als Jugendliche ist sie alleine in die Metropole Almaty gezogen und nun, einige Jahre später, kehrt sie in ihr Dorf zurück und bittet bei der Familie um Vergebung. Obwohl sie von der Mutter bespuckt und vom Bruder brutal geschlagen und getreten wird, kehrt Aiganym mit Timur immer wieder zum Familiengrundstück zurück … so lange, bis alle zugrunde gehen. Žanna Isabaevas jüngstes Drama Otvergnutye (Abgelehnt, 2018) fokussiert die zerstörerische Gewalt der sozialen Verhältnisse in Kasachstan.

 

Unbequeme Wahrheit

„In Kasachstan sterben jährlich 700 Frauen an häuslicher Gewalt“, erzählte die Regisseurin im Rahmen des Publikumsgesprächs auf dem 28. FilmFestival Cottbus, eine Zahl, die ihr als Initialzündung für den Film diente. Sie wollte, so die kämpferisch gesinnte Isabaeva, für das Thema Aufmerksamkeit erregen und inszenierte daher die Misshandlungen besonders explizit: Das zarte Gesicht der Hauptdarstellerin wird bis zur Entstellung blutig geschlagen, schnell und aggressiv bewegt sich die Kamera, was eine fühlbare Ohnmacht kreiert. Zusätzlich pointiert schnelle orchestrale Musik die Dramatik der Gewaltszenen. Der Film balanciert zwischen Eindringlichkeit und Zurückhaltung, stets bemüht um die richtige Dosis an Affekt, übertreibt aber an manchen Stellen. Outriert wirkt insbesondere die Darstellung der beiden Hauptdarsteller_innen: Wenn Aiganym (Žanargul Žanyamanova) mit demonstrativ gesenktem Kopf an den Gartenzaun ihrer feindlich gesinnten Familie schreitet oder ihr Bruder Kairat (Nyšanbek Žubanaev) immer wieder mit stoisch aggressivem Gesichtsausdruck Auto fährt, nimmt die Inszenierung einen zu gekünstelten Charakter an und vermittelt das Gefühl, die Realität sei nur behauptet. Dies überrascht insofern, da sich Isabaeva in ihren bisherigen Arbeiten durch die starke Führung ihres Laiendarsteller_innen-Ensembles ausgezeichnet hat.

 

Leid als Teil der Natur

In ihren bisherigen acht Spielfilmen blieb die Regisseurin grundsätzlich ihrer Handschrift ästhetisch treu: Auch die Inszenierung ihres neuesten Films erinnert unweigerlich an die vorhergehenden Filme, allesamt durchaus vergleichbar, was Pessimismus und Minimalismus betrifft. Isabaeva wirft einen scharfen und nüchternen Blick auf eine Gesellschaft, in der Farbe und Hoffnung verblichen sind. Auch Michail Blincovs Bildgestaltung trägt zum unverkennbaren Stil bei. Dabei zeichnet sich die Kamera als unauffällige Beobachterin aus, manchmal in Bewegung, an anderen Stellen statisch, wie die stillstehende Gesellschaft. Die Bildästhetik steht damit in der Tradition des Kazakh New Wave Kino, das geprägt ist von zahlreichen Außenaufnahmen kasachischer Landschaften und der ausschließlichen Verwendung von natürlichem Licht. Dabei spielt die Natur in Isabaevas Film eine genauso wichtige Rolle wie bei ihren Regie-Kolleg_innen, etwa in Rašid Nugmanovs Igla (The Needle, 1988) oder Serik Aprymovs Konečnaja ostanovka (Last Stop, 1989). Die Umgebung wird zur Grundlage des menschlichen Elends. Leid scheint in Kasachstan Teil des Ökosystems zu sein – in Otvergnutye beispielsweise dargestellt durch handlungsunterbrechende Landschaftsaufnahmen, die in einer Symbiose mit dem menschlichen Körper kulminieren, wenn in der Schlusseinstellung der leblose Körper von Aiganyms Bruder in einem türkisfarbenen Fluss in die Weiten der kasachischen Hügel davon treibt.

 

Spiel mit der Ambivalenz

Für übergriffiges Verhalten gibt es keine Entschuldigung. Doch parallel zur Leidensgeschichte der Frau (Aiganym) wird in Otvergnutye auch die Lebensgeschichte des Täters gezeigt; immer wieder werden Szenen aus dem Alltag ihres Bruders Kairat erzählt. Er muss ständig Geld für die gesamte Familie auftreiben; damit verbundene Kreditschulden und die ständige Bedrohung durch die mafiösen Gläubiger_innen stehen für ihn an der Tagesordnung. Ein Mann in Kasachstan zu sein, bedeutet die Last des Versorgers zu tragen. Die Inszenierung Kairats als verantwortungsbewusster und hingebungsvoller Familienmensch und gleichzeitig grausamer Peiniger seiner Schwester kreiert im Kontext von Isabaevas feministischem Kino eine Ambivalenz innerhalb des Filmes, die irritiert. Vielleicht liegt der Schlüssel zum Verständnis in einer symbolischen Entsprechung: Als Repräsentant für die patriarchale Dominanz bekommt Kairat auffällig viel Spielzeit. So spiegelt das Erzählte die realen Verhältnisse.

In ihren filmischen Arbeiten konzentriert sich die Regisseurin immer wieder auf die gesellschaftlichen Verlierer_innen – vor allem Frauen. Die Kraft ihrer Filme liegt dabei in der Komplexität der Figuren und der Rigorosität ihrer Handlungen. Isabaeva ist eine Virtuosin, wenn es darum geht, schreckliche Charaktere zu erschaffen, die man widerwillig ins Herz schließt: So ist es schwer mit anzusehen, wie eine behinderte Heldin gleich einem amoralischen Monster agiert, doch genau das zeichnet die Protagonistin in Sveta (2017) aus. Auch die vielen Morde des jungen Rajan in Bopem (2015) wirken nicht weniger brutal, sie werden jedoch schmerzhaft nachvollziehbar, wenn man sein Schicksal und seine Motivation kennt. In Otvergnutye versucht Isabaeva nun – anders als bisher – durch einen Fokus auf gleich mehrere Figuren ein differenziertes Bild der Geschlechterverhältnisse wie damit verbundene gesellschaftliche Probleme aufzuzeigen. Vielleicht erlangt der Film gerade deshalb nicht die Tiefe und Unberechenbarkeit ihrer anderen Werke.

 

Kein Platz in der kasachischen Filmlandschaft?

Wie Žanna Isabaeva im Rahmen des 28. Filmfestival Cottbus berichtete, war die Finanzierung und Herstellung ihres neuesten Filmes schwierig und für ihre Verhältnisse besonders langwierig. Was damit gemeint sein könnte, belegte die rhetorische Intervention eines anderen – eines Mannes: In das selbe Publikumsgespräch nach dem Screening schaltete sich nämlich auch Hauptdarsteller Žubanaev (Kairat) ein und verwies explizit darauf, dass die Figuren und Handlungen in Otvergnutye keineswegs repräsentativ für die Verhältnisse in Kasachstan seien. Diese durchweg als anti-feministisches Statement zu wertende Replik belegt vermutlich genauso wie die von der Regisseurin geschilderten Produktionsschwierigkeiten, die geringe gesellschaftliche Bereitschaft, sich dem Thema der patriarchalen Gewalt in Kasachstan zu stellen. Folglich liegt die Bedeutung des Filmes –  trotz einiger Schwächen in der Darstellung – darin, ein wichtiges Thema eindrücklich in den Fokus gerückt zu haben, bei gleichzeitigem Wissen, damit keinen Platz in der kasachischen Filmlandschaft zu erhalten (weshalb Isabaeva den Film nach den offiziellen Festivalvorführungen auch auf YouTube veröffentlichte). Otvergnutye steht für einen politischen Aktivismus, der Aufmerksamkeit auf ein unbequemes Thema lenkt, es spürbar macht und deshalb Aufmerksamkeit verdient.

 

Isabaeva, Žanna: Otvergnutye (Abgelehnt). Kasachstan, 2018, 88 Min.

 

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