„Evaljucija“ – ein neues Wort in der neuen Sprache der Belaruss_innen

Ein Interview mit dem Dichter Dmitrij Strocev

 

 

Dmitrij Strocev (geb. 1963 in Minsk) gehört zu den wichtigsten Stimmen der russischsprachigen Lyrik in Belarus und Russland. Nach einem Architekturstudium beginnt er Ende der 1980er Jahre Gedichte zu schreiben. Autor von zehn Lyrikbänden, „Russkaja Premija“ für Poesie (2007), Herausgeber der Lyrikreihe »Minsker Schule«, Mitglied des Belarussischen Schriftstellerverbandes und PEN-Zentrums, Kurator des Kulturfestivals „Pamežža“ („Grenzland“). Strocev ist seit vielen Jahren der Bürgerrechtsbewegung in Belarus verbunden, poetische Kommentare zu den Verhältnissen und Ereignissen in seinem Heimatland nehmen einen wichtigen Teil seines Schaffens ein. Die jüngsten Proteste in Minsk und ganz Belarus hat er hautnah als Demonstrationsteilnehmer und scharfsinniger Beobachter der Ereignisse miterlebt und dichterisch und publizistisch begleitet. Das folgende Interview mit Dmitrij Strocev (D. S.) erschien am 25. August 2020 in der „Ukrainska Pravda“, Interviewerin ist Larissa Danilenko (L. D.), eine ukrainische Journalistin.

БЕЛОРУССКАЯ МЕДИТАЦИЯ

 

терпение

время работает на нас

единый ритм страны

вдох
выдох

вдох выдох

с драконом говорить нельзя
на языке насилия

на его языке

только психиатр

не убивать

только долгая жизнь

на ферме
на свиноферме

где цмок у себя
как дома

говорить с людьми

с чиновниками
с военными
с врачами

с людьми

говорить между собой
искать общий язык

новый

с доверием и надеждой
с любовью

дышать полной грудью
одной грудью

всей страной

вход выдох

вдох
выдох

время работает на нас

терпение

 

Minsk, 05.06.2020

BELARUSSISCHE MEDITATION

 

geduld

die zeit arbeitet für uns

der vereinte rhythmus des landes

einatmen
ausatmen

einatmen ausatmen

mit dem drachen darf man nicht
in der sprache der gewalt sprechen

in seiner sprache

nur der psychiater

nicht töten

nur ein langes leben

auf der farm
auf der schweinefarm

wo sich das ungeheuer
zuhause fühlt

mit den menschen sprechen

mit den beamten
mit den militärs
mit den ärzten

mit den menschen

miteinander sprechen
eine gemeinsame sprache finden

eine neue

mit vertrauen und hoffnung
mit liebe

aus voller brust atmen
aus einer brust

das ganze land

einatmen ausatmen

einatmen
ausatmen

die zeit arbeitet für uns

geduld

 

 

Übersetzt aus dem Russischen von Andreas Weihe.

 

Mit freundlicher Erlaubnis des Autonomen Forums für Poesie „Signaturen“.

Larissa Danilenko: Leckere süße Kondensmilch, intakte Straßen, eine Insel der Stabilität, ein starker Präsident und Wirtschaftsfachmann – das sind die wichtigsten Mythen über Lukašėnkas Belarus. Wer nicht verfolgt hat, was in dem Land während der letzten Jahrzehnte passiert ist, dem könnten die Proteste von heute wie Blitz und Donner aus heiterem Himmel vorkommen. Wie überraschend waren sie für die Belarussen selbst?

Dmitrij Strocev: Proteste hat es in Belarus praktisch von dem Moment an gegeben, als Lukašėnka an die Macht kam. Und die Antwort darauf war immer Gewalt. All die 26 Jahre.

Von der Mitte der 1990er Jahre an wurde es brutal. Man hat die Menschen mit Stiefeln traktiert, ihnen den Bauch aufgerissen. Es gab mehrfach Momente, in denen sich die Lage zuspitzte. In den Jahren 2006 und 2010 war der Widerstand enorm.

Aber das waren immer Proteste bestimmter Oppositionsgruppen und ihrer Sympathisanten. In der Rhetorik der Machthaber waren das stets vom Westen finanzierte terroristische Organisationen, die es zu besiegen galt.

Aber ungeachtet des autoritären Systems veränderte sich das Land über die gesamten 26 Jahre. Diese Veränderungen blieben der europäischen Öffentlichkeit verborgen und wurden auch von den Belarussen selbst nicht ausreichend reflektiert.

All diese Jahre war das Volk auf der Suche nach einer Sprache für seinen Protest, nach einer Sprache für seine Würde. Jetzt vollzieht sich die Geburt einer neuen Gemeinschaft. Wie lange das dauern wird, wissen wir nicht, aber das ist der Stand der Dinge.


L.D.: Was zeichnet die gegenwärtigen Proteste aus? Nur ihr Ausmaß?


D.S.: Verstehen Sie, was jetzt in Belarus passiert, das ist kein gewöhnlicher Kampf einer Opposition gegen eine bestimmte Macht. Bis vor kurzem war es das, jetzt ist es anders.

Jetzt gibt es eine echte Opposition, eine Gemeinschaft des belarussischen Volkes, die enorm gewachsen ist. Die Präsidentenwahl und die Fälschung ihrer Ergebnisse sind zu einem Faktor geworden, der die Gesellschaft eint. Der Macht steht ein Volk gegenüber, das seine neue, eigene Qualität verspürt – ungefähr so, wie ein Mensch seinen Körper spürt.


L.D.: Worin noch bestehen die Besonderheiten der belarussischen Proteste?


D.S.: In der Fähigkeit der blitzartigen Solidarisierung an jedem beliebigen Ort. Es gibt in Belarus nur anderthalb tausend OMON-Polizisten. Wenn Proteste überall aufflammen, schaffen sie es nicht. Verausgaben sich mit all ihrem Eisen. Sie werden von einem Ende der Stadt ans andere geworfen. Einwohner von Minsk haben beobachtet, wie sie tagsüber, ohne ihre Schutzmontur abzulegen, in der Stadt schlafen.

Man kann gegen eine Opposition kämpfen, die überschaubar ist. Gegen das ganze Volk zu kämpfen, ist unmöglich.

Heute gibt es ein belarussisches Volk – und es gibt die Drachenhaut, den Panzer, den die Gesellschaft abwerfen muss. Das neue Selbstgefühl wird solidarisch erlebt.


Frauen in Weiß, 12. August, ©Anna Stroceva und Dmitrij Strocev


L.D.: Was hat das Heranreifen dieses Gemeinschaftsgefühls beschleunigt?


D.S.: Erstens, die Nähe zu Europa, die freie Integration. Die Menschen reisen, arbeiten, wo sie wollen, haben freien Zugang zu Informationen aus der ganzen Welt.

Zweitens, die Geburt der belarussischen Staatlichkeit. Ein Staat Belarus hat nie existiert. Alle Verweise auf das Großfürstentum Litauen, auf die Rzeczpospolita, auf das Russische Imperium helfen da nicht weiter.

Irgendwann musste das einmal geschehen. Jetzt geschieht es vor unseren Augen.

Zu einem weiteren Faktor ist das geworden, was ich in meinen Gedichten „Vertrauen auf Gewalt“ nenne. Die Menschen, die auf der belarussischen Erde leben, haben jahrhundertelang Gewalt erfahren, in verschiedenen Formen. Eine christliche Grundhaltung hat sich hier nie durchgesetzt.

In Belarus war immer ein stammesgeschichtliches Heidentum prägend, in dem es keine Begriffe von Gut und Böse, von Gerechtigkeit gab. Dafür hat sich die Vorstellung von Gewalt und Stärke bewahrt, die alles regeln.


L.D.: Wer die Macht hat, der hat auch die Wahrheit?


D.S.: So ungefähr. Um nicht weiter unter der Macht zu leiden, muss man sie rechtzeitig akzeptieren. Lukašėnka hat das sofort gespürt.

Er hat seine Kommunikation mit der Gesellschaft auf diesem heidnischen Fundament gegründet. Das ist ihm lange geglückt. Proteste hat er in Blut erstickt. Er hat an der Todesstrafe festgehalten und beharrt unverblümt auf dem Prinzip der Gewalt als letztem und einzigem Argument.

Erst heute überwinden die Belarussen ihre Abhängigkeit von der Macht, von der sie vergewaltigt wurden.


L.D.: Die muss in Gefangenentransportern, in Polizeistationen und Rettungsstellen überwunden werden. Man gewinnt den Eindruck, dass Lukašėnka vorbereitet war und die Ereignisse im August 2020 ihn nicht überraschten. Ist das so?


D.S.: Lukašėnka erkannte, dass ein ernsthafter Protest herangereift war. Er bereitete alles für eine gewaltsame Auseinandersetzung vor. Er erwartete sie.

Ein gewaltsamer Protest hätte Lukašėnka alle Trümpfe in die Hand gegeben. Seht, da haben sich Gesindel und Drogensüchtige zusammengerottet, die wollen eine Rebellion anzetteln, wollen die Gesellschaft von ihrem stabilen Fundament stoßen.

Aber er bekam es mit einer „Evaljucija“ zu tun, einem Phänomen, das zu Beginn der Proteste entstand. Ein sehr wichtiges Phänomen, ein sehr wichtiges Wort, in dem nicht nur ein revolutionäres, sondern auch ein evolutionäres Echo nachhallt. Ein neues Wort in der neuen Sprache der Belarussen.


L.D.: Diesmal hat der Kampf um Unabhängigkeit ein weibliches Gesicht, sogar drei Gesichter: Svetlana Tichanovskaja, Veronika Čepkalo und Maria Kolesnikova. Die Bereitschaft, sich um ein feminines Symbol zu scharen – könnte das den Vergewaltiger aus dem Konzept bringen?


„Eva“ von Chaim Soutine, Symbol des belarussischen Protests seit Mai 2020.


D.S.: Es ist das geschehen, womit Lukašėnka nicht gerechnet hat. Die „Eva“ von Chaim Soutine, das teuerste Gemälde im Land, ein Juwel aus der Sammlung der Belgasprombank (der Aufsichtsratsvorsitzende dieser Bank war bis zum Mai 2020 einer der Anführer der Opposition, Viktor Babariko, der im Juni verhaftet wurde. – Ukr. Pravda) wurde zum ersten weiblichen Symbol des belarussischen Protests.

Das Gemälde zeigt eine einfache Frau, ein weibliches Porträt. Gleich nach der Verhaftung Babarikos wurde das Bild konfisziert und in das Verfahren gegen ihn eingebracht. Aber es wurde im ganzen Land umgehend vervielfältigt – auf T-Shirts und Taschen, und bis zu den Wahlen wurde es zu einem Schlüsselsymbol der Proteste.

Lukašėnkas Mannschaft reagierte darauf mit einem Schachzug, der das alles ersticken sollte. Viktor Babariko und Valerij Čepkalo wurden von der Wahl ausgeschlossen. Nur Tichanovskaja wurde zugelassen.


L.D.: Warum wurde Tichanovskaja auf der Wahlliste belassen?


D.S.: Weil Lukašėnka ein maskuliner Führer ist. Eine Frau als Anführerin nimmt er einfach nicht wahr. Und begeht einen Fehler. Er ist davon überzeugt, dass eine Hausfrau, die Frikadellen brät, sich nicht gegen ihn behaupten kann. Er äußert sich zu diesem Thema ungeniert, macht Scherze. Doch plötzlich wird der von „Eva“ vorgegebene Ton, von Tichanovskaja befördert, vom ganzen Land aufgenommen. Es kommt ein Prozess in Gang, den Lukašėnka nicht nur nicht verstehen, sondern noch nicht einmal erkennen kann. An den er nicht glaubt.

Die Leiter in den Stäben der Kandidaten, die nicht zur Wahl zugelassen worden waren, verständigten sich sofort mit Svetlana. So kam es zu einem weiblichen Triumvirat.


L.D.: Situativ, ohne System?


D.S.: Es geht nicht um die politischen oder irgendwelche anderen Qualitäten dieser Frauen. Sondern um das weibliche Symbol, das sofort die ganze Gesellschaft mobilisiert und geeint hat.

Nochmal: Lukašėnka ist ein Vergewaltiger, ein maskulines Monster, er ist bereit, gegen Männer zu kämpfen, das kann er, darauf hat er sich vorbereitet.

Und da tauchen plötzlich drei Frauen auf, die umgehend die Aufmerksamkeit und Sympathie der ganzen Gesellschaft erobern.

Es ist nicht wichtig, was sie sagen. Wichtig ist ihr Bild, all die großen und kleinen Zeichen, die sie setzen. Mit Herzchen-Geste, erhobener Faust und Victory-Zeichen beginnt das Triumvirat durchs Land zu reisen und Mahnwachen zu organisieren. Über ihnen klingt Tichanovskajas Stimme. Diese wird sehr vernehmbar.

Svetlana ist keine Kunstfigur, kein Konstrukt. Ich war bei einem ihrer Treffen mit der alten Opposition anwesend. Es gab einen Runden Tisch mit Personen ihres Vertrauens. Ich habe mir angeschaut, wie sie sich verhält, was sie sagt.

Sie sprach davon, dass sie nicht bereit sei für die Macht, dass das nicht „ihre Sache“ sei – und das nahm die Menschen noch mehr für sie ein.


L.D.: Stimmt es, dass die Fälschung der Wahlergebnisse diesmal wirklich beispiellos war?


D.S.: Ein Vorfall, dessen Zeuge ich war: In meinem Wahllokal, in einer Minsker Schule, gab es durchsichtige Wahlurnen. In der Urne waren alle Wahlscheine auf eine bestimmte Weise gefaltet, als Zeichen dafür, dass das Stimmen für Tichanovskaja waren.

Am Abend kamen die Leute zum Wahllokal und fragten nach den Ergebnissen der Stimmauszählung. Sie warteten drei Stunden, dann raste ein riesiger Bus mit OMON-Leuten vor die Schule. Die Menschen wichen zurück. Die OMON-Polizisten liefen an den Menschen vorbei, kletterten über den Zaun und stürmten in das Gebäude. Eilig führten sie die Wahlhelfer heraus und fuhren mit ihnen weg.

Dafür gibt es nur eine Erklärung: Unter den Wahlhelfern waren Leute, die sich weigerten, die gefälschten Protokolle zu unterschreiben. Die wurden einige Stunden lang bekniet, als man ihren Widerstand nicht brechen konnte, brachte man sie weg, um zu verhindern, dass sie Kontakt zu den Leuten aufnahmen, die sich vor der Schule versammelt hatten.

Etwas später wurde klar, was im Stab von Tichanovskaja geschehen war. Der Stab erklärte, er werde bedroht. Das KGB reagierte wie geplant – es bot sich „zum Schutz“ an.

Während der Wahl war der Stab im Grunde in Haft genommen worden, er wurde von zwanzig Polizisten einer Spezialeinheit „bewacht“. Tichanovskaja kam in die Zentrale der Wahlkommission und legte Beschwerden über gefälschte Stimmen vor. Man hatte auf sie gewartet. Sie wurde gezwungen, einen Text zu verlesen, den sie nicht verlesen wollte. Und dann schaffte man sie über die Grenze.

Sie wurde nicht aus dem Land herausgelassen, sondern deportiert, hinausgeworfen. Man war überzeugt, dass das den Widerstand brechen würde.


L.D.: Wenn Anführer aus dem Land geworfen werden, ist das Volk gewöhnlich demoralisiert. Wie sich herausgestellt hat, trifft das auf die Belarussen nicht zu. Wie lässt sich das erklären?


D.S.: Die Belarussen haben eine sehr interessante Geschichte, es gibt da einen Präzendenzfall. Am 9. März 1918 wurde auf dem Territorium des heutigen Belarus die Belarussische Volksrepublik (Belaruskaja Narodnaja Respublika, BNR) ausgerufen, ihr höchstes staatliches Organ war die Rada der BNR.

Vom Jahr 1919 an, nachdem die Bolschewiken Minsk eingenommen hatten, setzte die Regierung der BNR ihre Tätigkeit in der Emigration fort. Das ist eine bis heute existierende Regierung, die älteste in Europa. Die Belarussen erinnern sich an sie, achten sie, hören auf ihre Meinung.

Laryssa Henijusch, die große belarussische Dichterin, war 1943 Sekretärin der Rada der BNR. Der KGB entführte sie aus Prag, sie wurde ins sowjetische Belarus gebracht, man wollte sie zwingen, die sowjetische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Bis zum Ende ihres Lebens tat sie das nicht, selbst nach sieben Jahren Lagerhaft nicht.

Das ist keine Antwort auf die Frage: „Was wird morgen sein?“. Das illustriert nur, dass es in Belarus eine Tradition und Akzeptanz dafür gibt, wenn sich ein Anführer in der Emigration, in der Ferne befindet.


L.D.: Als eine der unverständlichsten friedlichen Aktionen inmitten der blutigen Exzesse von Lukašėnka erscheint die Aktion „Frauen in Weiß“. Ist das Naivität? Ein schlauer taktischer Zug? „Schwachsinn und Heldenmut“ (russ. slaboumie i otvaga, ein im russischsprachigen Internet verbreitetes Meme- A.W.) freier Künstler?


D.S.: Das ist die Fortsetzung der weiblichen Linie des belarussischen Protests. Es schien, er wäre nach zwei Tagen Gemetzel, an denen der Gewalt nicht Einhalt geboten werden konnte, erstickt worden.

Zu jeder Tages- und Nachtzeit kann ein Gefangenentransporter vorfahren, und es können wahllos Menschen festgenommen werden. Es kommt ihnen darauf an, nicht „Rädelsführer“, sondern gewöhnliche Menschen zu verhaften. Aus dem Alltag herauszureißen. Damit ihnen die Angst unter die Haut kriecht.

Ich habe an der allerersten Mahnwache auf dem Komarovskij-Markt teilgenommen. Stellen Sie sich vor, neben dem Markt steht ein Gefangenentransporter. Frauen in weißen Kleidern kaufen Blumen und legen sie in einer Reihe auf den Boden. Ein Auto mit Blaulicht kommt vorgefahren. Die Frauen stehen etwas entfernt, trauen sich nicht näherzutreten. Schließlich gehen sie vor meinen Augen zu den Blumen und stellen sich in einer Reihe auf. Der Gefangenentransporter fährt plötzlich weg, ihm nach das Milizauto.

Das Symbol der weiblichen Energie erfasst ganz Belarus. Die Belarussen scherzen, in diesen Tagen wäre im Land der rote und der weiße Stoff ausgegangen. Die Leute haben ihre weißen Kleider aus den Truhen geholt, selbst diejenigen, die nie Weiß getragen haben.

Das ist noch so ein Wunder, ausgelöst vom Eva-Kammerton. Erst war da „Eva“, dann das Triumvirat, nun alle Frauen.


L.D.: Die Märsche der Frauen wurden nicht attackiert?


D.S.: Nein. Es kam etwas zum Vorschein, das im Archetypus der Belarussen existiert, das das Maskuline des Terrorapparats neutralisiert.

In diesen schrecklichen, verkommenen Generälen regt sich beim Anblick der Frauen und Blumen etwas Menschliches. Vielleicht spüren diese Ungeheuer, dass man sie in Stücke reißen würde, wenn sie auch nur eine der Marschierenden anrühren.

Durch diese Bekundung – durch die „Frauen in Weiß“ – verspürten selbst die Spezialeinsatzkräfte den lebendigen Atem der Gesellschaft. Diese Dreckskerle sahen die Menschen durch einen weißen Filter. Danach schlossen sich Männer mit Transparenten den Frauen an. Riesige, vieltausendköpfige Märsche durchfluteten die Stadt.


L.D.: Stellen wir uns vor, Lukašėnka verlöre morgen die Macht. Wer wird das Land führen? Tichanovskaja, für die die Macht „nicht ihre Sache“ ist?


D.S.: Svetlana hat Personen ihres Vertrauens um sich geschart, die mit Aktivisten, Spezialisten auf verschiedenen Gebieten zusammenarbeiten, die Pakete an Vorschlägen haben. An dem Runden Tisch, bei dem ich zugegen war, hat Tichanovskaja gesagt: „Unter Ihnen ist ein Mensch, dank dessen ich mich entschlossen habe zu kandidieren. Dieser Mensch hat viele Stunden lang mit mir gesprochen, mich überzeugt, mich beruhigt, mir bestimmte Dinge erklärt.“

Ich habe nicht das Recht, Namen zu nennen, aber, glauben Sie mir, das ist nicht irgendein spontaner, heroischer Wunsch, das Land zu führen. Welche der Vorschläge der Oppositionsgruppen grünes Licht erhalten, weiß ich nicht.

Im Stab von Tichanovskaja ist schon ein Koordinierungsrat gebildet worden, zu dem angesehene Belarussen gehören – Juristen, Wissenschaftler, Ökonomen, Vertreter von Streikkomitees, Schriftsteller. Man kann vom Beginn einer Periode der Doppelherrschaft im Land reden.


L.D.: In Momenten wie diesen ergreifen gewöhnlich diejenigen die Initiative, die man das „Gewissen der Nation“ nennt. Man hört ihre Stimmen heute nicht. Ausgenommen der Appell von Svetlana Aleksievič an Lukašėnka, der vor ein paar Tagen über Facebook verbreitet wurde. Wo sind all diese Menschen und ihre Stimmen?


D.S.: Ich sage es ehrlich – die Stimme von Svetlana Aleksievič ist nicht zu hören. Sie hat nichts Offizielles verlautbart. Man wendet sich an sie, sie gibt irgendwelche Antworten, so wie ich Ihnen jetzt.

Das ist eine bezeichnende Situation. Svetlana schweigt nicht deshalb, weil sie nichts zu sagen hätte. Und nicht deshalb, weil sie in ihrem Gemüsegarten beschäftigt wäre. Das „Gewissen der Nation“ ist erschüttert von dem, was das Volk sagt.

Mir scheint, wir alle hören jetzt zu, verstehen Sie? Das ist ein ganz besonderer Moment. Darin liegt eine gewisse Demut, vielleicht auch Besonnenheit. In diesem Schweigen ist keine Ratlosigkeit, kein Erschrecken.

Die offizielle Opposition versucht jetzt, ihre Stimme wiederzugewinnen, aber auch ihr gelingt das nicht.


L.D.: Lassen Sie uns über die musikalischen Stimmen des Protests sprechen.


D.S.: Mit der Musik verhält es sich fast genauso. Sie kennen Sergej Michalok, einen im gesamten postsowjetischen Raum bekannten Rockmusiker, ein sehr aktiver Mann, und sehr, sehr belarussisch. Wo ist er jetzt? In der Ukraine! Zu Gastkonzerten. Seine Lieder sind hier nicht zu hören. Nicht eins von ihnen.

Durch die Straßen von Minsk liefen Demonstrationszüge mit Boom-Boxen, aus denen Musik dröhnte. Der polnische Protestsong Mury wurde gesungen, „die Mauern stürzen ein“ heißt es darin, übersetzt von Andrej Chadanovič. Dieses Lied erklingt. Aber die „Krieger des Lichts“ von Michalok sind nicht zu hören.

Michalok passte gut zu der gewaltsamen Konfrontation auf dem Majdan. Aber hier bei uns funktioniert das nicht. Es passt nicht zur herrschenden Situation.


L.D.: Aber Wiktor Zojs „Ich will Veränderungen“ harmoniert mit dreißigjähriger Verspätung plötzlich?


D.S.: Mir ist eingefallen, warum. Zoj war ein Kind der Perestroika, in seinen Liedern gibt es diesen Drang nach Veränderungen, sie rufen nicht zu gewaltsamer Konfrontation auf, in ihnen drückt sich der allgemeine Hunger nach Freiheit aus.

Der Ausgangspunkt ist ein anderer. Das ist kein infantiler oder schwacher Punkt. Sondern einfach ein anderer. Es gibt genügend Wille und Mut, aber eine bestimmte Grenze wird nicht überschritten, das wäre für Belarus ein Fehler. Deshalb machen wir den Schritt nicht, den man von uns erwartet.


Dmitrij Strocev beim Protestmarsch gegen Wahlfälschungen und Polizeigewalt (rechts), in Minsk am 30.08.2020, ©Aleksandr Idel’čik


L.D.: Das Land durch Intuition einnehmen, die Schergen mit Blumen aufhalten…


D.S.: Rational lässt sich nichts ausrichten. Gar nichts. Sie haben alle logischen Schritte einkalkuliert und würden sie von vornherein mit härtesten Maßnahmen unterbinden. Dennoch geschehen bestimmte Dinge, denen gegenüber sie hilflos sind.


L.D.: Gibt es Anzeichen dafür, dass das alte System versagt?


D.S.: Ich habe keine große Erfahrung im Umgang mit Vertretern der Macht. Was ich sagen kann ist: In der UdSSR wurde die Gliederung der Gesellschaft in Stände zerstört, es wurde ein ephemerer sowjetischer Mensch erschaffen.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam es überall zu unterschiedlichen Entwicklungen. In Mittelasien, zum Beispiel, wurden die Stände zügig wiederhergestellt.

In Belarus wollte Lukašėnka den sowjetischen Menschen bewahren. Und eine Machtelite schaffen, die vom Volk ernährt und vor Eindringlingen von außen geschützt würde.

Der Aufbau der Machtstrukturen, der OMON-Einheiten und anderer, ging auf ganz bestimmte Weise vor sich. Man rekrutierte Jungen aus den Kinderheimen, für die Lukašėnka bis an ihr Lebensende ihr „Väterchen“ sein würde.

Der Beamtenapparat ist nach dem Prinzip der Vetternwirtschaft gebildet worden. Doch zu Beamten werden Menschen aus dem Volk, Spezialisten, die etwas bewegen können und nicht einfach parasitieren.

Ihnen ist es zu danken, dass sich kein wirklicher Stand, keine Schicht entwickelte, ungeachtet der Anstrengungen Lukašėnkas. Seine Idee erwies sich als absolut lebensfern.

In Minsk gibt es einen Mann, Pawel Latuschko, der eine Zeit lang Kulturminister war, dann Botschafter in Frankreich, in seiner letzten Funktion war er Direktor des Minsker Janka-Kupala-Theaters.

Jetzt hat Pawel die Proteste des Theaters gegen die Gewalt im Land angeführt. Vor kurzem wurde er seines Direktorenpostens enthoben. Darauf reichten alle Mitarbeiter des Theaters ihre Kündigung ein. Alle. Er schien ein Beamter zu sein, ein erfolgreicher dazu. Und erwies sich als freier Mensch, nicht abhängig vom System.

Ich vermute, dass es in Lukašėnkas Umgebung Leute gibt, die sich als Teil des Volkes fühlen. Darunter auch Militärs, Leute aus dem Innenministerium.


L.D.: Inwieweit ist sich Lukašėnka dessen bewusst, dass das von ihm errichtete System ihn „abzuschütteln“ droht?


D.S.: Kürzlich wurde im Internet diskutiert, warum Lukašėnka seinen Sohn zu einem Meeting in einer Fabrik mitgenommen hätte. Er wusste, dass man ihn beschimpfen, „Hau ab!“ rufen und ihm unflätige Flüche an den Kopf werfen würde.

Es wird gemutmaßt, dass er panische Angst um ihn hat. Dass der Tyrann bereits ganz einsam ist. Wenn er den Sohn ohne Aufsicht zurücklässt, könnte man den sofort als Geisel nehmen.

Wir wissen nichts über Lukašėnka, aber es ist eine Tatsache, dass schon Stimmen der von ihm begünstigten Leute laut werden, die sich gegen seine Diktatur auflehnen.

Lukašėnkas Machtposition schmilzt dahin. Der Panzer geht zusehends in die Brüche.


L.D.: Hat es wirklich einen Wechsel von Sicherheitskräften auf die Seite der Protestierenden gegeben? Oder ist das ein revolutionärer Mythos?


D.S.: Das ist kein Mythos. Eine Erscheinung, die allmählich heranreift. Wie die Streiks. Bei uns hat es nie Streiks gegeben, das fängt gerade erst an. Ebenso wie die Losungen „Hau ab!“, „Lukašėnka in den Gefangenentransporter!“, die gedrechselten Flüche, die ihm die Arbeiter auf Meetings in den Fabriken ins Gesicht schreien.

Durch die Städte ziehen kleinere Gruppen von Menschen, eingehüllt in weiß-rot-weiße Flaggen, an den Mauern des KGB-Gebäudes kleben Protestplakate.

Tagsüber sieht man in Minsk keine OMON-Leute. Sie kommen nur nachts heraus. Die Machthaber verlieren die Initiative.


L.D.: Dabei schweigt die Armee.


D.S.: Das Militär ist nicht gegen Lukašėnka aufgetreten. Aber wir haben auch keine Aktivitäten zur Verteidigung der Macht gesehen.

Ganz Minsk ist mit Armeeeinheiten gespickt. Die Armee in Alarmbereitschaft zu versetzen, wäre ein Kinderspiel.

Hätte man während der ersten beiden Tage die Armee eingesetzt, dann hätte man der Welt als Grund die schrecklichen Gräueltaten präsentieren können, die auf den Straßen stattfanden. Und den Einsatz der Truppen als unvermeidbare Maßnahme zum Schutz friedlicher Bürger ausgeben können.

Das hat man verpasst. Jetzt die Truppen einzusetzen, würde eine dreifache Empörung auslösen.


L.D.: Was geschieht im Land jetzt?


D.S.: Gerade wird eine ungeheure Aufklärungsarbeit geleistet. Streikkomitees formieren sich. Wir kannten bisher keine Streiks, die Menschen wissen nicht, wie das gemacht wird, es gibt keine Strukturen, keine Erfahrung.

Die Europäische Union hat versprochen, die Streikenden zu unterstützen. Es gibt Verhandlungen zwischen den Streikenden und den Werksleitungen. Ein Prozess, der zur Ausweitung der Streiks führen wird.

Vor ein paar Tagen gab es einen Vorfall, der das ganze Internet in Aufruhr versetzt hat. In Zaslaue fuhr der Fahrer eines Müllwagens laut hupend durch eine Verkehrskontrolle, die Verkehrspolizisten konnten ihn nicht aufhalten – es war eine persönliche Protestaktion. Das ruft nicht Spott, sondern große Dankbarkeit hervor.

Die Offiziersanwärter der Suvorov-Militärschule haben einen Brief ans Verteidigungsministerium von Belarus geschrieben – mit der Forderung, auf die Seite des Volkes zu wechseln.

In den Krankenhäusern melden sich Volontäre, Geschenksendungen für Verwundete werden abgegeben, Taxifahrer nehmen kein Geld, wenn die Passagiere ins Okrestina-Untersuchungsgefängnis wollen…


L.D.: Das ähnelt den Aktionen auf dem Majdan, von dem sich Belarus jetzt ein wenig distanziert. Wirkt hier die Angst vor den „Majdanbekloppten“?


D.S.: Wir distanzieren uns nicht vom Majdan. Wir sind dem Majdan dankbar, wir sind solidarisch mit der Ukraine, wir verfolgen schmerzhaft die Ereignisse, die mit dem Krieg im Osten der Ukraine verbunden sind. Wir fahren nicht auf die Krim.

Aber in unserer besonderen Situation ist uns wichtig, uns nicht eine fremde Erfahrung, andere Modelle überzustülpen.

Wenn die Auseinandersetzungen noch härter werden sollten, werden wir gezwungen sein, uns diese Erfahrung anzueignen.

Noch ist alles anders. Wir wünschen uns sehr, nicht Krieg führen zu müssen.

Das Interview führte Larissa Danilenko in der „Ukrainskaja Pravda“, 25.08.2020.


Übersetzt aus dem Russischen von Andreas Weihe.


Das Portrait von Dmitrij Strocev (aufgenommen 2019) wurde freundlicherweise von Kristina Ursuljak zur Verfügung gestellt.


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