Die Stimme des Minsker Dichters Dmitrij Strocev, die nun auch im Gedichtband „staub tanzend“ (2020) deutsch erklingt, ist bis zum Psalmodischen privat, sie stellt jedoch auch ein poetisch zuverlässiges Zeugnis jener inneren ethischen Bewegungen und Gesten dar, die im postsowjetischen Raum der letzten zwanzig Jahre reiften.
Im Fließtext (siehe unten) finden Sie eine Auswahl von Gedichten aus „staub tanzend“.
Im Verlag hochroth sind ausgewählte Gedichte des Minsker Dichters Dmitrij Strocev in den Übertragungen von Andreas Weihe erschienen. Bis zur Mitte der 2000er Jahre war Strocev ein Dichter mit einer Orientierung primär auf die russische Leserschaft, in Russland kannte und schätze man ihn, in Belarus weniger bzw. nur in den russischsprachigen Kreisen von Minsk. Auf Russisch zu schreiben, während das Belarussische wortwörtlich stirbt, erschien damals vielen problematisch. Das Medium (Russisch) diskreditierte die Botschaft.
In den 2010er Jahren wurde die Sprachfrage zwar nicht aufgehoben, aber alles rund herum und im Inneren veränderte sich: langsam, aber sicher, schnell und unumkehrbar. Wichtigere Sachen wurden akut: Die Repressionen in Belarus verschärften sich zusehends; eine postsowjetische Wunde nach der anderen öffnete sich; das Böse hörte auf, ein Wort aus dem religiösen Vokabular zu sein. „Einfach Gedichte schreiben“ ist unmöglich geworden. Dmitrij Strocev, in dessen Poesie das heitere ästhetische Spiel ein Gespräch über die wichtigsten Dinge auch davor nicht übertönte, transformierte sich, und genau in dieser neuen Gestalt wird er nun den deutschen Leser_innen präsentiert.
Bereits im Jahre 2008, noch vor dem Maidan, der Krim und dem Krieg in der Ostukraine reagierte Strocev schmerzvoll auf die russische Invasion in Georgien, ein Land, mit dessen Landschaften und Leuten er schon immer eng verbunden war und ist. Davon handelt der Versbericht „Kriegstourist“:
„ich / aus der provinz / war nie im ausland / da kam die offerte / ein freier platz im panzer / ich konnte nicht nein sagen // sind dagewesen / haben getötet / zchinwali gori poti // was für berge / was für ein meer / von leid “ (S. 19)
Deklamatorische Bewegungen und euphonische Effekte des „einstigen Strocev“ verwandelten sich nun in poetisch-ethische Affekte mit politischer und publizistischer Referenz.
Noch ein – diesmal „rein“ belarussisches – Beispiel. Im Jahre 2012 hat man in Belarus in einem intransparenten gerichtlichen Eilverfahren, gegen das die internationale Gemeinschaft protestierte, zwei junge Menschen wegen des angeblichen Anschlags in der Minsker U-Bahn zum Tode verurteilt und kurz darauf hingerichtet. Als Reaktion darauf, als Anklang, (An)Klage und Andacht entstand das Gedicht „Osterreportage“:
„blitzgewitter / der schlagzeilen / Konowalow / und / Kowaljow / // und eine stimme / im gerichtssaal / die schmach / spricht / der hastigen hölle // jetzt und in alle ewigkeit “ (S. 14 und 16)
Solche Gedichte, in denen Pressemitteilung und Gebet nebeneinanderstehen und ununterscheidbar werden, berühren sich im Gedichtband „staub tanzend“ mit anderen Texten, welche direkt oder indirekt an die Nächsten und Freunde, in der Heimat und im Ausland, an die Lebenden und die Toten, an das Gedächtnis, an die Gegenwart und die Zukunft gerichtet sind. Aus diesem Mosaik des Privaten und Kollektiven, Gemeinsamen – des gemeinsamen Unglücks und Grams –, gewinnt Strocevs Rede zusätzlich an Kraft: Die Kraft der Ohnmacht und der Furchtlosigkeit angesichts des großen Unheils.
Diese Dominante der neuen Lyrik des Minsker Dichters überträgt Andreas Weihe außerordentlich gekonnt und feinfühlig. Dank ihm lebt Strocev auf Deutsch von derselben semantischen und rhythmischen Unruhe und Ratlosigkeit, die das Original (per)formen. Diskursflicken sind fest in die Aussage eingenäht, der Vers ist frei von metrischen Zwängen, aber er berichtet von jener anderen Unfreiheit, die jenseits der Literatur waltet. Andreas Weihes Nachdichtungen transmittieren meisterhaft diese und andere dramatische Diglossien des dichterischen Dissenses, die im Strocevschen vers libre vibrieren.
Wir schreiben das Jahr 2020. Auf Anruf des Gedächtnisses und der Würde geht Belarus auf die Straßen von Minsk und anderen Städten, Städtchen und Dörfern. Jeder für sich und alle gemeinsam. Als ein neues, vor unseren Augen ein Volk werdendes Volk, voller Geduld und Ungeduld, Zorn und Hoffnung.
Keiner konnte voraussagen, was heute in Belarus geschieht: die Historiker mit ihren Post-faktum-Kausalisierungen nicht, die Politologen mit ihren Faktoren nicht, Soziologen mit ihren Statistiken und repräsentativen Befragungen nicht. Wo die Wissenschaft endet, beginnt die Poesie. Strocevs Stimme, die nun auch deutsch erklingt, erweist sich als ein wichtigeres und zuverlässigeres Zeugnis jener inneren ethischen und seelisch-poetischen Bewegungen und Gesten, die im Belarus der letzten fünfzehn Jahre reiften. Ein Dichter weiß nicht mehr und nicht weniger als die anderen, aber er vermag diese weitsichtige Unkenntnis des Selbst kompromisslos zu artikulieren:
„der dichter / wie jeder mensch / will verschlafen / all diesen schrecken // er / gleitet unverhofft / in den schlaf / der jünger im garten gethsemane / in den schlaf / der sieben knaben zu ephesus / und wacht / plötzlich auf / im goldenen zeitalter / der poesie harmonie und freiheit / oder / auf dem weg in den GULAG“ (S. 9).
von Heinrich Kirschbaum
Ausgewählte Gedichte Strocevs in Übersetzung von Andreas Weihe:
***
мы с женой
не революционеры
беспартийные и безоружные
в нашем доме поселился дракон
бронированный и плотоядный
больше всего он любит наших детей
они уже избиты как китайская собака
и освежеваны
мы дико устали их прятать
у нас больше нет потайных углов
что нам делать
миролюбцы
драконофилы
13. 08. 2020
***
wir sind keine revolutionäre
meine frau und ich
keiner partei angehörig und unbewaffnet
in unserem haus wohnt ein drache
gepanzert und begierig nach menschenfleisch
am meisten mag er unsere kinder
richtet sie zu wie einen chinesischen hund
und zieht ihnen die haut ab
wir sind es leid sie zu verbergen
wir haben keine verstecke mehr für sie
was sollen wir machen
sagt ihr friedfertigen
sagt ihr drachenverehrer
ТРИДЦАТЬ СЕДДЬМОЙ
дракон
забирает детей
из потока жизни
прямо из троллейбуса
жертвоприношение
как вы не понимаете
такое средство
закрывает вопросы
выключает голову
отрезает сердце
казнелюбивая мать Беларусь
советское доверие к насилию
смертная казнь
дедовщина
и всё
уже на контроле
и всё
со всем
связано
хтоническое влечение к дракону
в Христовой шкуре
SIEBENUNDDREIßIG
der drachen
nimmt sich die Kinder
aus dem fluss des lebens
dirket aus dem trolleybus
opferung
wieso begreift ihr nicht
ein solches mittel
klärt alle fragen
schaltet den kopf aus
schneidet das herz ab
exekutionsbesessne mutter Belarus
sowjetisches vertrauen auf gewalt
todesstrafe
rekrutenschikane
und alles
schon unter kontrolle
und alles
mit allem
verzahnt
chtonisches verlangen nach dem drachen
im Christuspelz
ПАСХАЛЬНЫЙ РЕПОРТАЖ
первый месяц
без имени и лица
э т и н е л ю д и
фотороботы
нарочитые
потом
вспышки
газетных полос
фамилии
Коновалов
и
Ковалёв
с л е с а р ь
и
т о к а р ь
уничтожающее
ничьи
никчёмные
опять
скользкое видео
мутные силуэты
тот не тот
дурная драматургия
пыточный
пот
с кровью
и вот
лифостротон
клетка колизея
в звериной цепи
прямота
свидетельства
мученические глаза
в сердце
улыбка
строка
маме
смерть
где твоя победа
где клики толпы
р а с п н и
один голос
в зале суда
торопливому аду
позор
и ныне и присно
панихида
21 марта
отец Александр
возглашает
новопреставленные
невинноубиенные
Владислав
и
Димитрий
молите Бога о нас
15. 04. 2012
OSTERREPORTAGE
der erste monat
ohne namen und gesicht
d i e s e u n m e n s c h e n
phantomzeichnungen
planvoll
dann
blitzlichter
der zeitungsspalten
die familiennamen
Konowalow
und
Kowaljow
ein s c h l o s s e r
und
ein d r e h e r
vernichtend
niemande
nichtsnutze
wieder
ein wackliges video
verschwommene silhouetten
ist er es ist er es nicht
schlechte dramaturgie
schweiß
und blut
der folter
und siehe
gabbatha
käfig im colosseum
in ketten wie tiere
freimütiges
zeugnis
märtyreraugen
ins herz
lächeln
eine zeile
für mama
tod
wo ist dein sieg
wo die schreie der menge
k r e u z i g e t
und e i n e stimme
im gerichtssaal
die schmach spricht
der hastigen hölle
jetzt und in alle ewigkeit
totenmesse
am 21 märz
pater Alexander
verkündigt die namen
der hingeschiedenen
unschuldig getöteten
Wladislaw
und
Dmitri
bittet für uns
ЗАПИСКА СУМАСШЕДШЕГО
мы
рядовые
граждане Беларуси
даже не знаем
как
распределяются органы
казнённых
кто
сьедает печень
кто сердце
кому
на стол идёт
голова
NOTIZ EINES WAHNSINNIGEN
wir
die einfachen
büger von Belarus
wissen gar nicht
wie
die organe der hingerichteten
verteilt werden
wer
isst die leber
wer das herz
wem
serviert man
den kopf
ЛЕСТНИЦА
серый чистый минск
ты смотришь новыми детскими глазами
на город
который выпил тебя
до дна
почему ты его прощаешь
почему отпускаешь с улыбкой
эти последние в жизни дома
их лбы и затылки
эти чёрные палки двора
и верёвки
и горькие тряпки ворон
он съел твоё солнце
твой огненный пар пробуждения
твой полуденный зной
и слёзный закатный отлив
серый чистый минск
теперь
лови
меня
01.12.2012
DIE TREPPE
graues sauberes minsk
du schaust mit neuen kinderaugen
auf die stadt
die dich leergetrunken hat
bis zur neige
warum verzeihst du ihr
warum läßt du sie gehn mit einem lächeln
diese letzten häuser im leben
ihre stirnen und schläfen
diese schwarzen balken im hof
und die stricke
und die bitteren fetzen der krähen
sie hat deine sonne verzehrt
deinen feueratem der erweckung
deinen schwülen mittag
und das sentimentale licht des abends
graues sauberes minsk
jetzt
fang
mich
* * *
Светлане Алексиевич
земля крепостей
стёртых до дёсен
дикое поле
европейских споров
эй ленивые
живо к нам
в новый век
кличут соседи
из угольных куч
из землянок
выходим блаженно
тихое солнце
как верную новость
целуем
22. 02. 2012
***
für Swetlana Alexijewitsch
land der festungen
geschleift bis auf die grundmauern
wildes feld
europäischer fehden
he ihr faulen
schnell kommt mit
ins neue jahrhundert
rufen die nachbarn
aus den kohlehalden
aus der erde
erheben wir uns selig
küssen
die stille sonne
wie verläßliche kunde
* * *
мама
одного из мальчиков
успел только сказать не был в метро
в тот день
*
в тот день без сумки моего сына кто видел
кто видит моего сына
из тьмы в свет грядущего
2011
***
die mutter
eines der jungen
er schaffte es nur zu sagen
ich war nicht in der u-bahn
an jenem tag
*
an jenem tag
ohne tasche
meinen sohn
wer hat ihn gesehen
wer sieht
meinen sohn
aus dem dunkel ins licht
der zukunft
(siehe Anmerkung zu OSTERREPORTAGE)