Post-imperial – post-national – post-Castro? Schreiben zwischen Kuba und der zerfallenen Sowjetunion.

Dieter Ingenschay und Susanne Frank im Gespräch mit José Manuel Prieto

 

José Manuel Prieto – geboren 1962 in Havanna. Seine Romane und Prosastücke, von denen einige auch ins Deutsche übersetzt sind, wie Liwadija (2004), Rex (2008) und Die kubanische Revolution oder wie erkläre ich sie meinem Taxifahrer (2008), setzen sich intensiv mit dem Erbe auseinander, das die sowjetische Welt ihrer Einflusssphäre hinterlassen hat. Nicht untypisch für einen kubanischen Bildungsweg, verbrachte Prieto 14 Jahre (1980-1994), anfangs zum Studium, in der Sowjetunion (genauer: in Sibirien), wo er auch das Ende „des Imperiums“ miterlebte. Zugleich stehen Prietos Romane in einem intensiven Dialog mit der großen russischen Literatur, als deren Übersetzer (Anna Achmatova, Vladimir Majakovskij, Vladimir Nabokov, Andrej Platonov, Josif Brodskij u.a.) er in der spanischsprachigen Welt einen Namen hat. 2013/14 lebte er als Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD für ein Jahr in der Stadt.

 

Am 18. Februar 2014 war er bei einem Podiumsgespräch im Instituto Cervantes zu hören. Mit ihm auf dem Podium: die Slawistin Susanne Frank und der Romanist Dieter Ingenschay. Eingeladen hatte das Instituto Cervantes in Kooperation mit dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD, dem Suhrkamp Verlag, der Humboldt-Universität zu Berlin und novinki.

 

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Dieter Ingenschay: Ich möchte dich zunächst nach deiner Position innerhalb der kubanischen Literatur fragen. Häufig definieren wir heutzutage die kubanische Literatur, auch in Kuba selbst, als eine Literatur mit drei Zweigen: der Insel, der Diaspora und dem Exil. Du argumentierst gegen diese Auffassung. In dem in der „taz“ veröffentlichten Artikel „Perestroika in Zeitlupe“ sagst du, dass es mit dem Exil als einem vereinheitlichten Begriff zu Ende sei, da es mehr als „ein“ Exil gebe. Aber wie bist du in dieser Auffächerung der kubanischen Literaturen zu situieren?

 

José Prieto: Als ich Kuba verließ, hatte meine literarische Karriere noch nicht begonnen. Deshalb habe ich mich nie als Schriftsteller im Exil wahrgenommen. Ich war jemand, der – wegen eines Studiums, das nichts mit Literatur zu tun hatte – außerhalb Kubas lebte und zufällig dort anfing zu schreiben. Und quasi auf natürliche Art und Weise inkorporierte ich diese andere Umgebung, diese anderen Landschaften, anderen Themen in meine Texte. Mein Werk wurde hauptsächlich außerhalb von Kuba publiziert. In Kuba habe ich nur ein Buch mit Erzählungen, aber keinen Roman veröffentlicht. Generell habe ich in Kuba wenig veröffentlicht, aus Gründen, die ich politisch nennen würde, obwohl meine Romane kaum politische Themen beinhalten. In letzter Zeit hat man angefangen, mich einzuladen, man will mich umgarnen, damit ich publiziere, aber gut, ich denke darüber nach.

Die Art von Literatur, die ich mir erlaubte zu schreiben, hatte wenig mit Kuba zu tun. Für mich war es ein Luxus, einfach etwas zu machen, was ich machen wollte, ohne dabei den Markt zu berücksichtigen. Und ich hatte Glück, denn in den 1980er Jahren, als ich anfing zu schreiben und mich als Schriftsteller zu definieren begann, war es sehr selten und eher außergewöhnlich, dass ein kubanischer Autor außerhalb von Kuba publizierte. Ich erinnere mich, dass es ein großes Ereignis war, als Jesús Díaz, ebenfalls ein Stipendiat des DAAD, einen seiner Romane in Spanien veröffentlichte. Insgesamt war die Produktion kubanischer Literatur darauf ausgerichtet, innerhalb des Landes konsumiert zu werden. Natürlich gab es auch kubanische Autoren mit internationaler Reichweite, wie z.B. Alejo Carpentier.

Aber mich selbst als Autor im Exil zu verorten, fällt mir schwer. Zwar war ich im Ausland, aber es hatte nicht die Bedeutung von Exil für mich. Und die Themen, die ich behandle, sind auch keine typischen Exilthemen, wie das Nachdenken über die Vergangenheit, das vielleicht etwas verklärende Betrachten der eigenen Heimat, eine gewisse Nostalgie usw. Das sind nicht die Themen, die mich interessieren…

 

D.I.: Das Buch „Die kubanische Revolution oder wie erkläre ich sie meinem Taxifahrer“ ist ein sehr tiefer und zugleich persönlicher Aufsatz, ganz anders als deine Erzählkunst. Hier stellst du deine persönliche Position angesichts dieses sehr wichtigen Ereignisses im Leben aller Kubaner in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Was war das Motiv, der Welt diese Revolution zu erklären, über die Erfahrung hinaus, dass die Taxifahrer dich als ‚exotisch’ wahrnehmen?

 

J.P.: Das Motiv für das Schreiben dieses Buches ist eine wiederkehrende Frustration angesichts der simplifizierten Sicht auf Kuba und die kubanische Revolution. Gerade die Taxifahrer – ich möchte dazu sagen, dass ich nichts gegen Taxifahrer habe – verkörpern diese vereinfachte Sicht. Die Gespräche, wie ich in dem Buch erzähle, gehen immer auf die gleiche Weise los: „Woher kommst du?“, „Ah, aus Kuba“, und von diesem Moment an reden sie von Fidel Castro, mit enormer Sympathie und mit einem sehr einseitigen Blick. Sie wissen nicht, worum es geht, was die zentralen Punkte sind. Mit diesem Buch habe ich beabsichtigt, eine sehr persönliche Analyse der kubanischen Revolution vorzunehmen, die keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt. Es ist eine Reflexion über mein Verständnis des Phänomens der kubanischen Revolution, in Bezug auf die Ursprünge, die Folgen, die großen Mythen. Aufgrund der offiziellen Propaganda und der Sympathisanten werden auch im Ausland immer die Erfolge in der Bildung, der Medizin und im Sport betont. Es gibt einen Witz, demzufolge Kuba diese drei großen Erfolge, aber auch drei große Probleme habe: das Frühstück, das Mittagessen und das Abendessen. Das ist auch eine Art, zu erklären, worum es sich handelt. Es ist auch eine Art, das Thema zu entschärfen, ihm seine Feierlichkeit und den Beigeschmack von Tragödie zu nehmen – gerade das intendiert ja auch der Titel des Buchs.

 

D.I.: Wie waren die Reaktionen auf dieses Buch?

 

J.P.: Es ist seltsam, aber oft wird gerade jenes Stereotyp wieder aufgerufen, das das Buch eigentlich zu dekonstruieren versucht. Das Interessante ist: Das Narrativ der kubanischen Revolution, das in die öffentliche internationale Meinung Eingang gefunden hat, ist so stark, dass es wenig Raum lässt für differenziertere, detailliertere Darstellungen, sodass jeder Versuch, die Situation etwas genauer abzuwägen, als Verrat gesehen wird. An verschiedensten Orten, z.B. in Paris, ist es mir schon passiert, dass Leute aus dem Publikum mich und die anderen auf dem Podium angeschrien haben. Hier und jetztwürde es also auch euch beide treffen…

Die Reduktion auf dieses einzige Thema ist für einen Kubaner sehr entmutigend. Kuba ist ein Land wie jedes andere auch, in dem es vieles gibt. Es gibt Bäume, Obst- und Gemüsegärten, eine Kindheit,… Millionen anderer Sachen. Aber dieses Thema, die Revolution, übertüncht üblicherweise all das. Mein Interesse war es also auch, dieses dominante Monothema zu überwinden.

 

D.I.: Eine letzte Frage zur Revolution. Ich möchte die kubanische Revolution doch in einer einzigen Perspektive verteidigen, und zwar hinsichtlich der „intellektuellen Revolution”. Kuba ist ein kleines Land mit einer sehr breiten literarischen Produktion, die nicht nur ein Phänomen der Vermarktung, sondern eine spezifische Errungenschaft von Kuba ist, die sich auch der Förderung von Kultur durch literarische Werkstätten etc. verdankt. Teilst du die Idee von einer „intellektuellen Revolution“?

 

J.P.: Diese Analyse scheint mir logisch und interessant, aber ich möchte hier nach den Gründen fragen. Aus meiner Perspektive ist es ein geeigneterer Ansatz, die kubanische Revolution als ein kulturelles Produkt der Generation der 1950er und 1940er Jahre zu betrachten. Die Revolution ist ein Narrativ, eine Schrift, und sie hat die Aufmerksamkeit auf ein Literaturkorpus gelenkt, das vorher schon bestanden hatte und hat es potenziert. Sie ist ein Produkt dieser Generation, die ihre kulturelle Reife in der Auseinandersetzung mit der Bevormundung durch die USA erreichte. Während der Zeit dieser Bevormundung – und auch schon viel früher – hatte Kuba aber meiner Meinung nach auch stark vom großen Kultur- und KnowHow-Transfer zwischen den USA und Kuba profitiert. Ich glaube, dass die Revolution ein kollektives Produkt dieser Zeit war, eine Art kollektiv verfasstes Werk.

 

D.I.: In aller Diversität: Zwischen Severo Sarduy und Reinaldo Arenas, Miguel Barnet und Jesús Díaz liegen Welten…

 

J.P.: Ja, aber das ist kein Widerspruch. Wenn man die kulturelle Produktion der 1950er Jahre analysiert, erkennt man bereits die Qualität. Vielleicht ist das vergleichbar mit dem, was mit der Avantgarde in Russland in den 1920er Jahren passierte. Man glaubt, oder man stellt sich vor, dass die russische Revolution diese Hochblüte mit Künstlern wie Kandinskij oder Malevič, hervorrief. Aber eigentlich war die russische Revolution ein Produkt dessen, was sich bereits im vielzitierten Silbernen Zeitalter entwickelt hatte… Es gab eine sehr starke kulturelle Fruchtbarkeit schon vor der Revolution. Und so kann man die Revolution als ein Element eines größeren kulturellen Phänomens betrachten…

 

Susanne Frank: Das scheint mir jetzt ein guter Anknüpfungspunkt, um noch einmal aus einer anderen Perspektive nach deiner Beziehung als Autor zu Russland zu fragen. In gewissem Sinn kann man deine Biographie – oder zumindest ihre ersten dreißig Jahre – ja als Produkt des sowjetischen imperialen Projekts betrachten, das darin bestand, über Grenzen hinweg einen politisch definierten einheitlichen „sozialistischen“ Kulturraum zu schaffen und diesen ständig zu erweitern. Als Kubaner bist du – fast selbstverständlich – zum Studium in die Sowjetunion und sogar nach Sibirien gegangen. Aber die literarischen Früchte, die diese ganz normale Bildungsmobilität innerhalb der „sozialistischen“ Welt getragen hat, haben mit dem sowjetischen Projekt der Literaturvereinheitlichung, mit dem sozialistischen Realismus rein gar nichts zu tun. Das ist sehr interessant. Wie erklärst du dir das? Und wie verstehst du deinen Dialog mit der russischen Literatur?

 

J.P.: Zunächst muss ich erklären, dass ich, wenn ich von Imperium spreche, etwa in der Enciclopedia de una vida en Rusia (1998, Enzyklopädie eines Lebens in Russland) und an einigen anderen Orten, immer eine figurative Bedeutung des Begriffs meine. Kuba war nur im übertragenen Sinne Teil des sowjetischen Imperiums. Aber ich denke schon, dass Kuba in einem imperialen Sinn ein „Überseegebiet“ der Sowjetunion war. Die Sowjetunion ist damit gewissermaßen in die Fußstapfen der alten Kolonialherren, von Spanien und später den USA, getreten. Der Einfluss der Sowjetunion begann in den 1960ern und wurde in den 1970ern noch größer, und dies war für Kuba auch die Zeit der größten Annäherung an den Sozialistischen Realismus. Aber eigentlich hatte das für die kubanischen Autoren und Künstler niemals wirklich Prestige. Wahrscheinlich liegt es daran, dass Kuba in dem Moment, als es sich in den sowjetischen Orbit inkorporierte, mit Autoren wie Carpentier, Lezama Lima und anderen schon einen so starken eigenen Literaturkanon hatte, dass der Sozialistische Realismus nicht wirklich Fuß fassen konnte. Mit dieser künstlerischen Eigenständigkeit im Kontext des sowjetischen Orbit war Kuba nicht allein. Neulich bemerkte ein Freund von mir, Alexander Genis, ein russischer Schriftsteller, der in New York lebt, dass in der gesamten sowjetischen Einflusssphäre die Art, wie man sich der Kunst näherte, nicht monolithisch war. Zum Beispiel hat Polen in der bildenden Kunst durchgehend und praktisch ungebrochen eine sehr starke avantgardistische Tradition. Und in Kuba kam es nie in Frage, den Abstraktionismus aufzugeben. Mein Freund meinte: „Damals sagten wir in Russland: ,Ah, man kann nach Kuba fahren, um dort abstrakte Kunst zu sehen…“ In Kuba hat es mit dem Sozialistischen Realismus also nicht wirklich funktioniert, auch wenn es schon einige Fälle gibt, in denen sich seine Dispositive wiederfinden. Doch im Großen und Ganzen blieb den Kubanern eine vergleichbare Entwicklung zum Sozialistischen Realismus wie in der Sowjetunion erspart, obwohl – das muss man sagen – viel russische und auch sowjetische Literatur in Kuba gelesen wurde, auch Texte über Revolution und Bürgerkrieg wie zum Beispiel Šolochovs „Der Stille Don“…. ein großartiges Buch!

Was mich betrifft, so war es für mich eindeutig am interessantesten, innerhalb der sowjetischen Literatur die russische Literatur zu entdecken, die russischen Autoren aus dem 19. und dem 20. Jahrhundert, die Literatur, die ‚unterhalb‘ der offiziellen Kultur weiterblühte. Es gab sehr interessante, aktive Autoren in den Jahren meines Lebens in der Sowjetunion, wie zum Beispiel den Dichter Gennadi Ajgi, den ich später auch übersetzt habe. Er ist ein Dichter – ein gebürtiger Tschuwasche – , der, obwohl er die typische sowjetische Literaturausbildung absolviert hatte, zu sowjetischen Zeiten kaum publiziert und nicht übersetzt wurde, und erst ab 1991 all seine unveröffentlichten Werke zu publizieren begann. Ajgi ist ein wirklich außergewöhnlicher Dichter. Ein Meister der Form, der in freien Versen schrieb. Es gab also eine Literatur des Widerstands innerhalb der Sowjetunion, was logisch ist, und das war die Kultur, der ich mich annäherte. Aber auch klassische Romane des 20. Jahrhunderts waren für mich sehr wichtig, wie z.B. Bulgakovs Der Meister und Margarita. Das sind Romane, die paradigmatisch sind in Hinblick auf eine gewisse Art ästhetischen Widerstands.

 

S.F.: Diese Interessen und Vorlieben spiegeln sich auch in deinem Übersetzungswerk wider. Du bist, das muss man hier auch ganz laut sagen, einer der wichtigsten Übersetzer der russischen Literatur ins Spanische. Du hast ganz zentrale Werke der russischen Literatur und Dichtung des 20. Jh. übersetzt. Ajgi wurde schon erwähnt, aber es geht auch um Autoren wie Anna Achmatova oder Iosif Brodskij, und in der Prosa reicht die Spannbreite von Nabokov über Platonov bis zu Tatjana Tolstaja Dies sind sehr wichtige Autoren der russischen Literatur des 20. Jahrhundertss, die alle in der ein oder anderen Weise in der Sowjetunion repressiert wurden, deren Werke aber Bestandteil eines weltliterarischen Kanons jenseits der sowjetischen Welt geworden sind. Ist mein Eindruck richtig, dass du nicht nur einfach einzelne Werke der russischen Literatur ins Spanische übertragen hast, sondern dich auch als „Agent“ der russischen Literatur im Spanischen verstanden hast und dementsprechend einen Kanon im Auge hattest, der zu übersetzen war?

 

J.P.: Als ich begann, diese Autoren zu übersetzen, war Übersetzung für mich eigentlich ein Akt der Liebe. Sie folgte auf das Erlebnis des tiefen Eintauchens in die russische Sprache, die ich sehr schnell und auf eine natürliche Art und Weise, ohne größere Anstrengung erlernte. Da begann ich zu übersetzen, als Akt intellektueller Neugier, als Akt des Erforschens. Übersetzen ist eine besondere Art der Wahrnehmung, die Bilder in eine Sprache überträgt, die einem anderen linguistischen Universum angehört. . Es interessierte mich immer, Autoren zu übersetzen, die in Bezug auf das Formale exzellent sind. Dann stellt auch die Übersetzung eine spezielle Herausforderung dar. Ich habe keine Autoren des Sozialistischen Realismus übersetzt, sie interessieren mich nicht, sind mir zu simpel. Wohingegen ein Autor wie Andrej Platonov ein sehr komplizierter Autor ist, oder Brodskij, oder Achmatova. Der Übersetzer ist so eine Art unsichtbarer Agent. Übersetzen ist also ein Akt doppelter Liebe… Mich fasziniert die Möglichkeit, dass ein Buch wie Requiem von Anna Achmatova oder die frühe Poesie von Brodskij auf Spanisch zirkulieren können. Als ich in Mexiko ankam, begann ich solche ausgewählten Bücher zu übersetzen, immer aus dieser Sehnsucht heraus, sie zu teilen, zu übertragen. Ich habe gerade ein Buch fertig, das kurz vor der Veröffentlichung steht, eine Art poetischer Memoiren, darin gibt es verschiedene Gedichte, die ich übersetzt und an verschiedenen Stellen veröffentlicht habe, sowie kurze Texte, in denen ich ein bisschen darüber, wonach du mich gefragt hast, erzähle, warum und wie ich mit der jeweiligen Poesie in Kontakt kam, was die Wirkung des jeweiligen Gedichts auf mich war etc.

 

S.F.: Ich möchte noch einmal auf die Frage der Zugehörigkeit zurückkommen. In der „Enzyklopädie“ eines Lebens in Russland, dem ersten Teil deiner Romantrilogie, den es leider bisher nur in englischer Übersetzung gibt, beschreibst du Erfahrungen eines Nicht-Russen in Russland, die mir als Österreicherin ziemlich bekannt vorkommen. In einem wissenschaftlichen Buch, das Du auch selbst mit herausgegeben hast, „Caviar with Rum“ (2012, Kaviar mit Rum) geht es u.a. darum, dass Kubaner deiner Generation mit Polen, Russen, Tschechen und anderen Osteuropäern viel mehr verbindet als mit den geographischen Nachbarn – so z.B. der gemeinsame Zeichentrick-Kosmos. Fühlst du dich also doch eher als Teil dieser sowjetisch geprägten Welt?

 

J.P.: Hier besteht eine Verbindung zu meiner Verortung Kubas im sowjetischen Universum. Dieses Gefühl der Vertrautheit mit jemandem aus dem Osten, sagen wir, einem Polen, hat nicht nur mit kulturellen Fragen im eigentlichen Sinne zu tun. Natürlich wurden in Kuba, aufgrund jener Allianz mit der Sowjetunion, viele Filme usw. aus dem Osten, etwa ungarische Filme, konsumiert, mehr als in jedem anderen lateinamerikanischen Land. In Kuba gab es eine intimere Kenntnis davon. Zumindest Leute meiner Generation verfolgten viel mehr die Entwicklungen, sagen wir, im ungarischen und polnischen Kino als zum Beispiel Leute aus Mexiko. (Das ist ein Land, das ich gut kenne, weil ich dort gelebt habe, mit dem ich also gut vergleichen kann). Was diese Vertrautheit ermöglichte, ist die gemeinsame Erfahrung, in einem totalitären System zu leben. Es ist interessant und schwierig, die Wirkung des Terrors im Russland der 1930er Jahre auf den Alltag der Menschen zu untersuchen. Ich habe das in meiner Dissertation anhand von Tagebüchern, Memoiren etc. versucht und gefragt, auf welche Weise ein totalitärer Staat eine Art unsichtbares Gefängnis generiert. Die Leute, die diese totalitäre Erfahrung haben, empfinden – anscheinend ähnlich wie Leute, die z.B. im Gefängnis waren – Ohnmacht aufgrund der Unübersetzbarkeit dieser Erfahrung. Das ist das Schwierigste: zu erklären, worin die Bösartigkeit eines solchen Systems besteht, worin diese unsichtbare Macht besteht, die über den Leuten steht, sie mundtot macht. Wer es nicht erlebt hat, hat Schwierigkeiten zu verstehen. Auch jene, sagen wir, „klassischen“ Diktaturen erreichen nicht dieses Level an Durchdringung, an Sophistikation der Macht. In meinem Essay in dem von dir erwähnten Buch Kaviar mit Rum geht es um einen berühmten kubanischen Dichter, Heberto Padilla, der in die Sowjetunion reist und dort die Kultur der Dissidenz kennen lernt. Er kehrt zurück nach Kuba, begleitet von der Fragestellung, wie er innerhalb des Systems anderer Meinung sein kann, ohne ein Konterrevolutionär zu sein, denn er will den Bann des Schweigens in dieser Erfahrungsgemeinschaft brechen. Aber es sind auch andere Symptome des totalitären Systems, die in diesem Buch untersucht werden: z.B. das, was ich als Hunger der Sinne bezeichne. Es ist ein bisschen schwierig, sich vorzustellen, welche Auswirkungen es hat, z.B. eine Modezeitschrift durchzusehen, wenn man in einem grauen Land lebt; es ist schwer zu erklären, aber das hat einen schlagkräftigen subversiven Effekt.

 

S.F.: Aber war Kuba denn jemals grau?

 

J.P.: Oh ja, auf jeden Fall. Das ist auch eins von diesen Klischees! Die Wahrnehmung von Kuba von außen ist, dass es ein fröhliches Land ist, voller Farben, etc. Aber Kuba hat eine Tragödie erlebt, befand sich 50 Jahre unter einer totalitären Regierung.

 

D.I.: Ich würde gerne auf den Aspekt der Kulturen der Dissidenz zurückkommen. Klar, es gibt diese Kulturen der Dissidenz, aber ich glaube, für die kubanische Literatur der Gegenwart ist das Postsowjetische viel wichtiger. Heberto Padilla etwa scheiterte innerhalb des kubanischen Systems. Er ging ins Exil ohne es zu wollen, wie Jesús Díaz. Letztendlich zwangen sie die Umstände dazu, im Exil zu bleiben. Oder sagen wir, Leute, die einfach blieben, wie Severo Sarduy, er kam nicht zurück, auch Carpentier nicht… Also, ich frage mich, wenn wir von einer postsowjetischen Literatur sprechen, ob wir uns schon in einer post-Castro-Literatur befinden. Das ist die erste Frage, und wenn man diese verneint, stellt sich die andere, ob es das Phänomen einer postsowjetischen Literatur auch außerhalb der Sowjetunion, also auch in Kuba, gibt? Dazu kommt die Frage, ob es heute andere Reaktionen auf die alte Situation der Unterdrückung gibt als damals?

 

J.P.: Um von einer postsowjetischen Literatur zu sprechen, müsste es eine sowjetische Literatur gegeben haben, und im Fall von Kuba gab es eigentlich keine solche Literatur. Die kubanischen Autoren bewahrten sich eine große Distanz in Hinblick auf die Kanons des Sozialistischen Realismus, sodass es also nicht passt, von einer sowjetisch-kubanischen Literatur zu sprechen. Worum es mir vielmehr geht, ist jener postsowjetische Moment, als die Sowjetunion verschwindet und so etwas wie eine retrospektive Analyse unternommen wird: Was bleibt von dieser Allianz, was sind die Erinnerungen, welche Rolle spielt die sowjetische Kultur im kulturellen Gedächtnis? Es ist eine Art Abrechnung mit dieser Interaktion zwischen Kuba und der Sowjetunion. In Kuba ist es nicht zu einer „Ostalgie“ gekommen, wie sie angeblich hier in Deutschland vorkommt, denn noch sind wir nicht auf der ‚anderen Seite’. Kuba hat nach wie vor ein Ein-Parteien-Regime, in dem der Marxismus-Leninismus die führende Ideologie ist. Es ist also zu früh, von so etwas zu sprechen. Aber Kuba war auch niemals so dogmatisch wie Russland. In Russland, ich erinnere mich, öffnete man eine Bedienungsanleitung für irgendein elektrisches Gerät und auf der ersten Seite stand ein Hinweis vom letzten Kongress der Kommunistischen Partei zur hohen Bedeutung der Elektrik für unser Land.

 

D.I.: Kommen wir auf deine Schreibweise zurück. Was abgesehen von deiner elaborierten Stilistik auffällt, ist auch, wie mir scheint, der enorme Reichtum an Intertexten. Es gibt mehr Borges als Lezama Lima, die Anspielungen reichen von Dostojevskij zu Thomas Mann, von Kafka zu Nabokov. Und bei der Lektüre von „Rex“ taucht auf der zweiten Seite de Norpois auf und wir sind mitten im Proust’schen Universum. Natürlich lernen wir am Ende, dass es nicht die Suche nach dem verlorenen Geld ist. Wie ist dieser Roman zu situieren, zwischen dem lediglich Parodistischen einer absolut postmodernen Literatur und dem ‚Post-Sowjetischen’, mit diesen Erfahrungen des Sturzes des sowjetischen Imperiums? – Denn diese Familie in Rex, die in Marbella lebt, erscheint mafiös, sie sind aber eigentlich Opfer der Mafia.

 

J.P.: Ich als Leser unterscheide beim Lesen nicht, ob es sich um einen französischen, einen russischen, oder einen deutschen Schriftsteller handelt. Mein Verfahren, die verschiedensten Lektüren in meine Texte einzubinden, wiederholt etwas, was nicht ausschließlich meine Erfahrung ist. In Kuba, auch in anderen Ländern Lateinamerikas, waren wir sehr kosmopolitisch ausgerichtet. Borges ist zum Beispiel ein solcher Autor.

Bei einer Präsentation vor einiger Zeit in San Francisco fragte mich eine Dame: „Warum lesen Sie eigentlich Proust?“ Und ich sagte: „Warum nicht?“ Warum muss ich das erklären? Für sie war es völlig unverständlich, warum ein Kubaner Proust liest, als ob Proust nur für die Franzosen, oder nur für die Europäer geschrieben hätte.

 

D.I.: Die Antwort könnte auch sein, weil es die Bibel der Narratologie ist…

 

J.P.: Vielleicht hätte ich ihr einfach sagen sollen: „Sie wissen gar nicht, dass Proust ein kubanischer Autor ist, in Kuba geboren wurde, etc.“ Also, diese Trennung funktioniert für mich nicht. Die Enzyklopädie, die ganze Trilogie funktioniert intertextuell: Es ist wie die Arbeit an einem Holzmosaik, in das Fragmente von anderen Texturen, anderen Holzarten eingefügt werden und es bereichern, wie ein Wandteppich aus verschiedenen Jahrhunderten, von verschiedenen Künstlern. Die Texte passen sich gut ein, werden zusammengefügt, sodass ein einziger Text entsteht. Für die Leser ist es auch eine Art literarisches Spiel. Es ist nicht notwendig, aber es hilft, wenn man weiß, worauf Bezug genommen wird. Und in Bezug auf die Figuren in diesen Romanen: In allen drei Romanen gibt es einen post-totalitären Moment. Die Figuren versuchen sich zu retten, in dem Moment, in dem dieses System stürzt, das auch ein sehr paternalistisches System war, das dir eine beschützte Existenz unter einer Vormundschaft ermöglichte und die Menschen so in einer Art der Hilflosigkeit beließ. Meine Figur, die sich in den drei Romanen wiederholt, wird in dieser Hilflosigkeit verortet. Und in diesem Erbeben des Schemas, in dem sie sich bewegt hat, beginnt sie, nach Möglichkeiten zu suchen, die eigene Individualität zu retten, dieses Individuum, das immer dem Kollektiv gegenübergestellt wurde. Es geht um eine Art individueller Rettung.

 

D.I.: Wie eine moderne Version des Schelms, der unter den Bedingungen des galoppierenden postsowjetischen Spätkapitalismus leben muss?

 

J.P.: Nehmen wir eine Figur aus der sowjetischen Literatur, einen Schelm, nämlich den berühmten Ostap Bender aus 12 Stühle, einem Roman aus den 1920ern. Das ist eine Figur, die den Sinn des Sozialismus herausfordert… In meinem Fall existiert dieser Sinnhorizont nicht, meine Figur lebt in einer Umgebung, in der der Sozialismus schon zusammengebrochen ist, sie muss sich eben gerade durch eine Umgebung navigieren, in der eine ideologische Hilflosigkeit, eine existenzielle Hilflosigkeit vorherrscht, durch eine Situation, in der die anderen versuchen zu betrügen (in diesem Fall, gefälschte Diamanten zu verkaufen). Es gibt einen Moment, in dem der Protagonist das für verständlich und sogar für gerechtfertigt hält, letztendlich jedoch verurteilt er es und hält sich von dieser Lösung durch Betrug fern, er durchläuft so eine Art ethischer Reinigung. Anstelle des Betrugs, des Verkaufs, der Bereicherung kommt es zu einer moralische Neubegründung. Und das ist das Thema des letzten Teils dieser Trilogie. Als mein Protagonist, bei dem es sich um einen großen Betrüger handelt, das durchschaut, weiß er, dass sie ihn umbringen wollen und versteckt sich nicht. Er zieht es vor zu sterben, anstatt weiterhin mit diesem Betrug zu leben. Eigentlich ist das das zentrale Thema der ganzen Trilogie.

 

S.F.: Wie du das beschreibst – die intertextuellen Bezüge zugleich zu Proust und zur sowjetischen Populärliteratur von Il’f und Petrov sowie die Entfaltung des Sujets in einer „postsowjetischen“ Situation , der der Sinnhorizont abhanden gekommen ist –, macht deutlich, dass es unmöglich ist, dich in einem einzigen, regional beschränkten kulturellen Kontext zu verorten. Würdest du dich in dem, was einige Literaturwissenschaftler heute „neue Weltliteratur“ nennen, verorten? Zwar hast du weder die Sprache gewechselt noch bist du irgendwo immigriert, sondern unterrichtest als Kubaner an der Seton Hall University in New York Literatur. Aber deine Texte sind von einer intertextuellen Verwobenheit und einer ins Spanische eingeflochtenen Vielsprachigkeit, die man nur weltliterarisch nennen kann. Bist Du damit einverstanden?

 

J.P.: Das ist interessant! Mir scheint, unter jungen lateinamerikanischen Autoren gibt es eine Tendenz – und ich möchte mich dazuzählen –, sich nicht der Nation verpflichtet zu fühlen, diese Art des Schreibens schon für überholt zu halten. Ich denke da z.B. an Roberto Bolaño, einen Schriftsteller aus Chile, der seine Jugend in Mexiko verbrachte und dann in Barcelona lebte. Und es gibt viele Autoren dieser Generation, bei denen es nicht mehr um nationale Zugehörigkeiten geht, sondern das Literarische eindeutig der nationalen Zugehörigkeit vorgeordnet ist. Es wird nicht die Nation erklärt, es wird nicht Chile erklärt, es wird nicht Venezuela erklärt, es wird nicht Mexiko erklärt, sondern Literatur geschrieben. Ich halte das auch für ein Zeichen der Volljährigkeit von Literatur, die zum Beispiel in der angelsächsischen Literatur schon eine lange Tradition hat. Ich denke zum Beispiel an einen Autor wie Joseph Conrad, einen Polen, der auf Englisch schreibt, und zwar über die Südsee. Ich denke, im Fall der modernen spanischsprachigen Erzählliteratur ist diese Tendenz – der ich mich auch zugehörig fühle – jetzt sehr wichtig und ein gutes Zeichen.

 

Das Gespräch wurde von Anne-Christin Grunwald im größtenteils spanischsprachigen Original transkribiert und anschließend übersetzt. Dafür danken ihr alle Beteiligten ganz herzlich!

 

Redigiert haben Susanne Frank und Dieter Ingenschay.

Illustration: Nastasia Louveau

 

Literatur (Auswahl)

Prieto, José Manuel: Die kubanische Revolution oder wie erkläre ich sie meinem Taxifahrer. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Frankfurt am Main 2008.

Prieto, José Manuel: Rex. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Frankfurt am Main 2008.

Prieto, José Manuel: Liwadija. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Frankfurt am Main 2004.

Prieto, José Manuel: Encyclopedia of a Life in Russia. Aus dem Spanischen ins Englische übertragen von Esther Allen. New York 2012.

Loss, Jaqueline / Prieto, José Manuel (Hg.): Caviar with Rum. Cuba – USSR and the Post-Soviet Experience. New York 2012.

 

Links:

Interview mit José Manuel Prieto, geführt von Bernd Pickert: Es ist wie Perestroika in Zeitlupe.“ Erschienen in der taz vom 18.02.2014.

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