Giorgi Maisuradze ist Schriftsteller, Philosoph und Kulturwissenschaftler. Er gilt als scharfer Kritiker des öffentlichen klerikal-nationalistischen Diskurses und als wichtiger Intellektueller einer sich neu formierenden Gegenbewegung in Georgien. Seine Forderung: Die Kultur muss endlich das ihr zustehende Terrain zurückerobern, das gegenwärtig von der Kirche besetzt wird. 2013 sind sein neuer Roman „Kill Tbilisi“ sowie die wissenschaftlichen Bände „Genese und Genealogie“ und „Orthodoxe Ethik und der Geist der Unfreiheit“ erschienen. Novinki hat ihn in Berlin-Kreuzberg besucht, wo er seit 16 Jahren lebt, und ihn über seine Neuerscheinungen und Georgiens explosive kulturelle Szene befragt.
novinki: 2013 wurden drei Bücher von dir publiziert. Unter anderem dein neuer phantasmagorischer Roman „Kill Tbilisi“, der auf Georgisch erschienen ist. Worum geht es in dem Roman?
Giorgi Maisuradze: Kill Tbilisi ist reine Fiktion. Es ist kein klassischer Roman, und für die Leser sehr ungewöhnlich, weil alles vermischt wird. Es geht darum, dass es ein anderes, „wahres“ Tbilisi gab, das verschwunden ist, und es werden unterschiedliche Legenden erzählt, wie das wahre Tbilisi gegründet wurde, alles sehr mysteriös. Nebenbei wird die Geschichte der Erschaffung der Menschheit erzählt und biblische Legenden völlig durcheinandergebracht, aber auch Figuren der westlichen Moderne tauchen auf: Wichtige Protagonisten sind Sigmund Freud, Umberto Eco, und auch General Benkendorf, der Begründer des russischen Geheimdienstes. Es gibt eine Diktatur der Ein-Gott-Gläubigen, und dieser eine Gott ist schuld, dass das wahre Tbilisi verschwand. Aber es gibt auch eine Gruppe, die die Wahrheit kennt und Widerstand leistet, die gehören auch zu einer anderen Spezies von Menschen. Am Schluss kommt es dann zum Krieg.
n.: Ist das absurde Vermischen so etwas wie eine Radikalisierung postmoderner Verfahren?
G.M.: Ja, das kann man so sehen. Zum Beispiel Intertextualität: Es gibt nicht nur direkte Zitate historischer Texte, sondern auch gnostischer und kabbalistischer Texte, es hat also auch eine okkultisch-esoterische Dimension, aber nichts davon ist authentisch. Alles wird parodiert, dadurch, dass es in nicht-passende Kontexte übertragen wird. Der Roman beginnt in einer eher avantgardistischen Sprache, dann wird eine postmoderne Schreibweise ad absurdum geführt. Es werden einzelne Geschichten erzählt, und jede Geschichte wird kommentiert. Die Kommentare sind aber noch absurder als die Geschichten selbst, manche widersprechen auch den erzählten Geschichten. Ich wollte, dass die Kommentare auch Fiktion sind. Sie radikalisieren den Text, und sind viel absurder als der Text selbst. Ich kann mir vorstellen, dass das für die meisten georgischen LeserInnen ungewöhnlich war, ein Großteil der Romane in Georgien ist mehr oder weniger traditionell geschrieben.
n.: Experimentierst du auch mit der Sprache?
G.M: Ja, natürlich. Die Sprache muss jedes Mal neu geschaffen werden, gesprengt werden.
Als ich nach Berlin kam, wollte ich fiktionale Texte auf Deutsch schreiben, aber das musste ich aufgeben, mein Deutsch wird nie so gut sein. Damals habe ich mich gegen alles Georgische gewehrt, und war sechs Jahre lang nicht in Georgien. Ich habe dann gemerkt, dass ich kein Georgisch mehr kann. Deutsch kann ich noch nicht richtig, und Georgisch habe ich auch verlernt, ich bin also ein Schriftsteller ohne Sprachkenntnisse, ich bin nirgendwo. Und da habe ich angefangen, dieses Nirgendwo zu denken, den Atopos. Die Sprache wurde dabei sehr fragmentarisch. Dann habe ich nach einiger Zeit wieder angefangen, Georgisch zu schreiben, und es ging plötzlich, ich konnte es neu erfinden. Ein literarischer Text sollte nicht nur lokal bleiben, sondern hat vielleicht gerade dann Wert, wenn er nicht lokal bleibt.
n.: Kann man „Kill Tbilisi“ also auch lesen, ohne die vielen Allusionen zu verstehen oder Tbilisi zu kennen?
G.M: Ich nehme als Stoff zwar viel Georgisches, aber auch viel Westliches und Östliches. Man kann das Buch auch lesen und genießen, wenn man Tbilisi nicht kennt und nicht alle Anspielungen versteht. Wenn ein Text unabhängig von seinen Anspielungen nicht lesbar ist, hat er keinen literarischen Wert. Grundsätzlich ist es das, was ich in meiner wissenschaftlichen Arbeit erforscht habe, das hat natürlich auch mein Schreiben beeinflusst. Dabei haben mich nicht nur gewisse Stoffe, sondern generell die Art und Weise, wie Philologen, Historiker und Geisteswissenschaftler ihre Texte aufbauen, ihre Logik, wie sie schreiben und denken, beeinflusst. Ich hatte große Lust, das zu parodieren, die Philologie selbst zu parodieren.
n.: Dein zweites auf Deutsch neu erschienenes Buch, „Genese und Genealogie“, ist eine wissenschaftliche Abhandlung über Ursprungsmythen. Hast du die beiden Bücher gleichzeitig geschrieben?
G.M: Ja, aber mit viel mehr Begeisterung den Roman (lacht). Genese und Genealogie ist etwas, was mich sehr persönlich betrifft. Ich habe mich viel mit dem Thema Heimat auseinandergesetzt, aber als etwas Abstraktes, also nicht unbedingt mit Georgien für mich, sondern überhaupt damit, was Heimat oder Ursprung bedeutet und inwiefern das für mich aktuell ist.
Die These des Buches ist, dass ein zeitloses Paradigma existiert, dass man immer an den Ursprung gebunden ist und zu ihm zurückkehrt. Die Gemeinschaft des Blutes zum Beispiel, oder des Ortes. Und auch wenn dieses Paradigma manchmal überwunden scheint, wie etwa in Nordamerika und Westeuropa, so täuscht das nur. Sobald es nötig wird, wird das Paradigma der genealogischen Vorbestimmung jederzeit wieder ausgegraben. Ich glaube, das kann auf kollektiver Ebene vielleicht nie überwunden werden, nur auf individueller Ebene.
n.: Wäre ein Gegenkonzept dazu Nomadologie?
G.M: Das Buch Tausend Plateaus von Deleuze und Guattari hat mich jahrelang beeindruckt, und auch wenn dessen Lektüre schon lange her ist, hat mir das viele Impulse gegeben. Letztendlich bist du auf der Suche nach Lösungen oder Erklärungen für etwas, was dich persönlich betrifft, nicht etwa für abstrakte Probleme. Diese subjektive Sichtweise finde ich immer sehr wichtig. Aber mehr noch hat mich gnostisches Denken beeindruckt, insbesondere Markionismus: Wir wissen, dass diese Welt von einem bösen Demiurgen geschaffen ist, da kann man nichts ändern, wir müssen die materielle Welt verlassen, weg davon, weg von der Heimat. Das hat nichts mit Geographie zu tun, sondern es geht einfach um das Aussteigen, als Weg nach Innen. Man geht in sich selbst und schafft einen eigenen Raum in sich selbst. Die Gnostiker waren die einzige Strömung, die es geschafft hat, die genealogische Vorbestimmung zu überwinden.
n.: Wie ist in Georgien der Umgang mit Ursprungsmythen?
G.M: Das ist eine totale Besessenheit, die im Grunde auf Stalin zurück geht. Das wird auch das Thema meines nächsten Buches sein. Unter Stalin haben sich die verschiedenen Völker der Sowjetunion neu formiert und angefangen, ihre Ursprünge wissenschaftlich zu begründen. Daraus entstand ein neuer, wissenschaftlicher Mythos. Nach dem Zerfall der Sowjetunion fingen die „befreiten Völker“ an, ihre Identität neu aufzubauen und zu begründen. Sie konstruierten ihre Ursprungsmythen und leben bis heute darin. Das ist sehr gefährlich, es wirkt sich stark auf die Politik aus, und die gewalttätigen Ausschreitungen letzten Mai in Tbilisi waren auch Ausdruck dieses Mythos – auf ganz krasse Art und Weise.
n.: Dein drittes Buch heißt „Orthodoxe Ethik und der Geist der Unfreiheit“. Ist es eine Reaktion auf die Ausschreitungen vom letzten 17. Mai, als Teilnehmer einer Veranstaltung gegen Homophobie von tausenden Menschen, angeführt von Priestern, zusammengeschlagen wurden?
G.M: Das war im Grunde eine Kriegserklärung der Kirche an alle, die sich ihrer Ideologie nicht total unterwerfen wollen. Das Thema des Buches ist die Vermischung des orthodoxen Christentums mit national-patriotischen Mythen, da ist eine Hybride entstanden. Ich fange mit dem 9. April 1989 an, das war ein Wendepunkt, da hat eine neue Etappe begonnen. Die sowjetische Armee ist damals sehr brutal gegen Demonstranten vorgegangen und hat diese teilweise richtig massakriert. Nach diesem Ereignis hat eine neue Religiosität angefangen, die Vermischung des Christentums mit Nationalismen. Was wir heute in Georgien haben, ist ein aggressiver christlich-religiöser Fundamentalismus, und die Gewalt ist die Artikulationsform dieser Hybride, auch ein notwendiger Bestandteil des ursprungsmythischen Denkens. Man braucht immer Feinde. Blut, Opfer, alles Rationale verfällt dem Mythos. Wenn wir diese Ereignisse richtig verstehen wollen, müssen wir auch das Irrationale aufspüren und untersuchen. Die bisherigen Erklärungen sind zu schematisch und oberflächlich. Man nimmt ein Schema, das in westlichen Forschungseinrichtungen aufgearbeitet wurde, und versucht es auf Ereignisse zu übertragen, die aber nicht zu westlichen Gesellschaften passen – oder hier einfach vergessen wurden und nicht mehr sichtbar sind. Das funktioniert nicht, wir müssen versuchen, auch das Irrationale zu fassen und zu erklären.
n.: Was wäre deine Erklärung?
G.M: Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch außer den Grundbedürfnissen noch ein Bedürfnis hat, das nicht der Befriedigung der primären Bedürfnisse dient. Es ist ein Bedürfnis, das Mehrwert hat und dessen Erfüllung dem menschlichen Leben Sinn und Lust verleiht. Wenn man diese Bedürfnisse nicht auf sublime Art decken kann, dann sucht man einfachere Formen. Man sucht entweder einen eigenen Weg, oder man überlässt sie einer Institution, der man sich unterwirft und gehorsam folgt.
Walter Benjamin schrieb 1921, dass der Kapitalismus die Religion ersetzt hat und selber zu einer Religion geworden ist, einer Religion aus bloßem Kult, ohne Dogma. Im sozialistischen Osten gab es aber eine andere Entwicklung: Wenn man den Stalinismus anschaut, ist das eine „Religion“, die im Unterschied zum von Benjamin beschriebenen Kapitalismus die untrennbare Einheit des Kultes und des Dogmas darstellt. Die Partei schrieb vor, was Gut und Böse ist. In den postsowjetischen Gesellschaften hat die Kirche ihren Platz zurückgewonnen, indem sie den ideologischen Apparat des totalitären Systems abgelöst hat. Mit dem Zusammenbruch des sowjetischen totalitären Systems ist eine Leere entstanden, die gesamte kulturelle Ordnung ging zu Grunde. Die Kirche hat die einfachsten Antworten und die höchste Autorität. Das hat Konsequenzen: Auf den Ruf der Kirche hin sind Tausende auf die Straße gegangen und waren sicher, dass sie den Antichrist verjagen. Die nackte Gewalt war eine Art der Befriedigung ihrer überflüssigen Bedürfnisse.
n.: Kann man sagen, dass die georgische orthodoxe Kirche Russland untergeordnet ist?
G.M: Dass die georgisch-orthodoxe Kirche pro-russisch ist, ist für mich selbstverständlich, weil die orthodoxe Kirche die Signaturen des Imperiums in sich trägt. Putin ist sozusagen die Verkörperung des christlich-orthodoxen Kaisers. Und die Kirche unterwirft sich dem russischen Imperium. Die georgische Kirche hat sich, um ihre neue Identität aufzubauen, zunächst selbst säkularisiert. Die sakrale Ordnung ist heute nicht mehr möglich, wir leben nicht mehr im Mittelalter und haben keine politische Theologie, wo der König Deus per gratiam („Gott durch die Gnade“) ist. Diese Ordnung ist nur im Mittelalter möglich. Säkularismus und seine Folgen wie Nationalstaaten und Demokratie zerstören das Fundament für eine solche Ordnung.
1987 wurde der georgische Nationaldichter Ilia Tschawtschawadze von der georgischen Kirche heilig gesprochen – also gerade derjenige, der die Idee der Nation am besten konzeptualisiert hat. Die Kirche hat genau die Person neutralisiert und absorbiert, die den Boden für eine heilige Ordnung zerstört hat.
n.: … und sich damit die Idee der Nation angeeignet?
G.M: Ja, man kann das Aneignung nennen. Tschawtschawadze hat das historische Gedächtnis neu konstruiert, in dem Vaterland und Nation die Grundbegriffe waren. Das war praktisch die Säkularisierung, es gibt keinen Bezug zu Himmel und Gott, alles wird irdisch aufgebaut. Als Subjekt der Loyalität gilt nicht mehr der Kaiser oder die Kirche, sondern die Heimat.
Nach der Wende in den ex-sowjetischen Ländern sind wieder die Begriffe aus dem 19. Jahrhundert aktuell geworden, es wurde nichts Neues ausgedacht. Es gab Auseinandersetzungen zwischen der Moderne des 19. Jahrhunderts und dem Mittelalter, und kein Muster hat funktioniert. Die Kirche ist zur Trägerin der nationalen Idee geworden und hat versucht, eine Symbiose der Kontroversen zu erschaffen: das Subjekt, das zum Heiligen erhoben wird, ist das säkulare Vaterland. Es ist eine Art Mischling entstanden. Aber weder dieses Modell noch das nationalistische Modell haben wirklich funktioniert. Ich meine, die orthodoxe Kirche hat den eigenen Boden verloren. Die Lösungen, die die Kirche anbietet, waren nur in einer prämodernen Gesellschaft denkbar. Aber vielleicht ist der Mensch auch erschöpft oder verunsichert von der Moderne… Die gewaltvollen Ereignisse vom Mai 2013 in Georgien haben gezeigt, dass die Kirche rein theologisch nichts mehr zu sagen hat, dass das einzige Mittel das ihr bleibt, um die Menschen zu überzeugen, nur noch Gewalt ist.
n.: Und wie steht es um die Konstruktion und Vernichtung von inneren Feinden?
G.M: Hier wäre eine anthropologische oder psychologische Deutung wichtig. Die Menschen brauchen für ihre Einheit und Stabilität immer Sündenböcke, Opfer. Freud behauptete, dass kollektiver Mord und kollektives Schuldgefühl der Grund für die Einheit der Menschen und ihre Sittlichkeit ist. Als ich nach Deutschland kam, zerbombten die europäischen Staaten Serbien. Ich denke, diese Aktion hatte auch archetypische Gründe: Daraus wurde die Europäische Gemeinschaft zusammengeschweißt. Das sind paradigmatische Bilder, die sich niemals auflösen. Und leider hat sich die Menschheit bisher nichts Besseres ausgedacht. Es wird vielleicht immer unsichtbarer, bedeckt und verschleiert mit demokratischen Idealen – aber die Grundstruktur dieses Paradigmas bleibt unantastbar. Und diese Grundstruktur ist das Opferritual. Gerade in Osteuropa schwebt alles viel mehr an der Oberfläche. Was in westlichen Gesellschaften sehr subtil ist, äußert sich hier oft wild und direkt.
n.: Ist diese Sichtbarkeit nicht auch eine gute Voraussetzung für kulturelle Verarbeitung und Kritik?
G.M: Ich finde es sehr spannend, was in Georgien gerade passiert. Einerseits diese erzkonservative, gesichtslose Mehrheit, daneben eine kleine Minderheit, die aber äußerst attraktiv ist. Die tun leider noch zu wenig, und vielleicht können sie sich noch nicht ganz von der Macht-Idee emanzipieren, wenn sie über Politik sprechen. Die Kritik an der Politik ist sehr personifiziert, es geht immer um konkrete Personen oder Parteien, nicht aber um die Machtstrukturen. Obwohl die sehr gerne auch Foucault lesen. Slavoj Žižek ist auch in Georgien ein Superstar, oder Boris Groys, Alain Badiou usw.
n.: Welche Diskurse sind in der zeitgenössischen georgischen Literatur dominant?
G.M: Die offizielle Kultur der Sowjetzeit hat sehr tiefe Spuren hinterlassen. Da wurde eine nationalistische, patriotische Sprache geschaffen, mit Heimatliebe und Ahnen, eine sehr heroische Literatur. Diese literarische Sprache wurde dann zur offiziellen Sprache und viele Autoren schreiben in dieser, ohne es überhaupt zu merken. Das ist auch die Sprache der Politik und der Medien. Diese Sprache finde ich furchtbar, völlig verlogen und absurd! Da gibt es kein Leben, das sprechen nur Mumien. Noch konnte diese Sprache nach der Wende und nach der erlangten Unabhängigkeit nicht durchbrochen werden. Es gab nur schwache Versuche, auch schon in spätsowjetischer Zeit. Diese Sprache trägt auch große Schuld an den politischen Ereignissen der letzten Zeit. Diese Sprache spricht, regiert das Bewusstsein des Menschen und lässt ihn so handeln.
n.: Gibt es keine Tradition einer nicht-offiziellen, alternativen Kultur in Georgien?
G.M: Die offizielle Sprache hat mehr oder weniger die ganze Kraft ausgesaugt, aus allen Reserven. Die, die nicht dazugehörten, hat sie angeeignet und absorbiert. Es gab in der Sowjetzeit fast gar keine alternative Szene. Nach der Wende in den 90er Jahren gab es die ersten Versuche, Aka Morchiladzes Roman Madatov zum Beispiel, mit dem meines Erachtens eine neue literarische Sprache anfängt. In der Dichtung war es schwieriger. Es gab zur selben Zeit auch den sogenannten Reaktiven Klub mit Karlo Kacharava, Irakli Charkviani, die unter anderem auch Sprachreinigung als Programm hatten. Das hatte schon Einfluss, ist dann aber in der zweiten Hälfte der 1990er wieder verschwunden.
Das Problem der Literaturszene in Georgien ist, dass sie es noch nicht geschafft hat, eigene Räume zu schaffen. Die Räume sind besetzt von nationalistischem, patriotischem und religiösem Kitsch. Vor allem die Besetzung dieser Räume durch die Kirche war ein heftiger Schlag für die Entwicklung der Kultur in Georgien. Jetzt sind die, die schreiben oder sonst alternative Kunst machen, gezwungen, den Raum zurückzuerobern. Anders kann es nicht gehen.
Es gibt schon interessante Bewegungen, zum Beispiel Straßenakademien. Also egal wie groß die Macht der Kirche ist und wie totalitär das System, das sie bauen – es wächst auch der Widerstand. Und der stärkste Widerstand ist genau da, wo die Menschen weggehen und eigene Räume schaffen. Nicht auf dem Spielplatz der Kirche spielen, sondern eigene Plätze finden.
n.: Gibt es dafür positive Beispiele in der zeitgenössischen Literatur?
G.M: Ich finde sehr interessant, was in Kutaisi passiert. Zum Beispiel Giorgi Khasaia und sein Cyber-Theater, das ist ein Phänomen. Interessant ist gerade auch, dass es nicht in der Hauptstadt passiert. Tbilisi ist der Ort der politischen Macht, mit den ganzen Phobien und Feindseligkeiten, es ist einfach der Sitz der Macht. Kutaisi ist eine andere Welt, aber auch mit einer historisch belegten literarischen Tradition: Die schöne, dichterische georgische Sprache kommt aus Kutaisi. Die meisten Schriftsteller der Moderne kommen aus Kutaisi. Khasaia hat die Sprache und Sprachmagie gefunden, nach der heute viele Junge suchen. Er hat die georgische Verstradition neu formiert und den Wert der georgischen Moderne verstanden. Diese modernistische georgische Kultur war multikulturell, dazu gehörten auch diejenigen, die in Georgien lebten aber nicht auf Georgisch schrieben, wie Majakovskij, Gumilev oder Zdanevič, teilweise russische Künstler und Dichter, die in Georgien aufgewachsen sind. Die haben tiefe Spuren hinterlassen, der nationalistische Diskurs hat sie jedoch an die Seite geschoben. Bei Khasaia kann man das wiederauferstanden sehen. Gleichzeitig schreibt er aber auch sehr modern und innovativ.
n.: Gibt es außer Kutaisi noch andere Orte der Peripherie, die kulturell aktiv sind?
G.M: Ja, zum Beispiel Batumi, das aber in Verbindung mit Tbilisi. Und interessanterweise Zugdidi, da gibt es auch junge Menschen, die eine Gegenkultur wagen. Telavi ist interessant, auch Gori, das aber visuell wegen der ganzen Stalin-Bauten eher gruselig ist. Das sind so kleine Funken, aus denen aber ein großer Brand entstehen könnte. Aber grundsätzlich ist schon fast alles in Tbilisi, im Zentrum der Stadt konzentriert. Da muss etwas passieren.
Es gibt jetzt eine sehr starke Dynamik, mit der ich gar nicht gerechnet habe und die ich sehr anziehend finde. Alle wollen irgendwas tun, so was gab es nie! Ähnlich war es Anfang der 90er, genau in der totalen Krise und Verzweiflung ist die erste Kunstszene entstanden, das war einmalig. Und die hat sich dann in Luft aufgelöst.
n.: Gibt es in postsowjetischen Ländern vielleicht noch einen „authentischen“ Befreiungskampf?
G.M: Man könnte es so bezeichnen. Aber wir wissen ja kaum, was Freiheit eigentlich heißt, das ist ein sehr widersprüchlicher Begriff. Im Grunde geht es um etwas Sinnstiftendes. „Der Mensch ist verdammt zur Freiheit“ – wie Sartre sagte. Kreativität hängt nicht von der Freiheit ab, sondern davon, wie man seine Freiheit gegen eine Abhängigkeit von oft selbsterfundenen Ideen oder Dingen tauscht. Niemand kann frei werden, und niemand will frei werden. Nach freudscher Auffassung gibt es Zwangsneurosen, die wie eine individuelle Religion fungieren, und die Religion ist eine kollektive Zwangsneurose. Ich will noch einen Schritt weiter gehen, das ist jetzt eine vage These: Der Mensch will seine Freiheit verlieren. Bewusst oder unbewusst. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten: Die einfachste wäre, mich völlig einer Instanz, wie etwa der Kirche oder der Heimat, zu unterwerfen. Eine andere Ebene wäre, mich vollständig einer Idee oder einem Gefühl zu unterwerfen, das ich mir selbst ausdenke oder dem ich verfalle. Das kann das Liebesleid eines Werther sein, oder das Faustische Paradigma: Ich unterschreibe ein Abkommen und jemand oder etwas taucht auf, dem ich mein Leben vollständig widmen kann, um etwas, was in meiner Freiheit nicht vorhanden ist, erleben zu können. Es geht darum, wie ich mich in Unfreiheit begeben kann, wie ich meine vorgegebene Freiheit opfern kann, um sie gegen das zu tauschen, was in der Ontologie meiner Freiheit nicht vorhanden ist. 1932 schrieb Ernst Jünger: „Das tiefste Glück des Menschen besteht darin, dass er geopfert wird, und die höchste Befehlskunst darin, Ziele zu zeigen, die des Opfers würdig sind“. Angesichts der nicht nur historischen, sondern auch politischen Ereignisse der letzten 25 Jahre denke ich immer öfter an diesen Satz.
Aber was den Kampf angeht: Wenn du starken Widerstand hast, wenn ein Gedanke oder eine Form von der Mehrheit abgelehnt wird, hast du auch mehr Enthusiasmus was zu tun, dann wird es ernst. Mehr Wucht, mehr Motivation. Es geschieht jetzt etwas dort, irgendetwas völlig Überraschendes, Unvorhersagbares. Hier wissen wir alles, hier haben wir eine Ordnung, alles ist aufgeteilt und etabliert, auch die alternative Szene ist ein Establishment. Dort gibt es etwas, was man hier nicht mehr finden kann.
n.: Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Philomena Grassl.
Leseprobe:
Theodor Adorno
Theodor Adorno ist tot
und die Professoren werden blank
und die Studentinnen schlank
und die Sterne werden nicht mehr funkeln
und es wird nur dunkeln
und die Gewerkschaften werden streiken
und die Mode ändert die Codes
und das Leben ist die Öde,
in der keine Rosen mehr wachsen,
denn sie wurden gehackt
und in die Plastiktüten verpackt.
So kann es nicht mehr weiter gehen,
wenn Adorno tot ist
müssen wir auch alle sterben,
so wird es keine Erde mehr geben
und alle werden sich sehr freuen
nach dem Sterben
sich für die Auferstehung zu bewerben,
um noch einmal zuzuschauen
wie die Arbeitermassen
durch die Schornsteine blasen.
Das Gedicht Theodor Adorno wurde von Giorgi Maisuradze im Jahr 2003 in deutscher Sprache geschrieben und nie veröffentlicht.
Literatur von Giorgi Maisuradze:
Buchpublikationen:
mit Thun-Hohenstein, Franziska: „Sonniges Georgien“. Figuration des Nationalen im Sowjetimperium. Berlin 2014. (in Vorbereitung)
Mart’lmadidebluri et’ika da arat’avisuflebis suli (Die orthodoxe Ethik und der Geist der Unfreiheit), Bakur Sulakauri Verlag. Tbilisi 2013.
Genese und Genealogie. Zur Bedeutung und Funktion des Ursprungs in der Ordnung der Genealogie. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2013.
Dakarguli kontek’stebi (Verlorene Kontexte). Bakur Sulakauri Verlag, Tbilisi 2012.
Čaketili sazogadoeba da misi daraǰebi (Die geschlossene Gesellschaft und ihre Wächter). Bakur Sulakauri Verlag, Tbilisi 2011.
Sk’esebi da civilizacia (Geschlechter und Zivilisation). Nekari Verlag, Tbilisi 1998.
Fiktion:
Apokalipturi mxeci (Das apokalyptische Tier). Siesta Verlag, Tbilisi 2011. (Prosaband)
Kill t’bilisi (Kill Tbilisi). Bakur Sulakauri Verlag, Tbilisi 2013. (Roman)
Die neunte Sinfonie, Der Turm zu Babel, Das apokalyptische Tier, Das siebte Kapitel. In: Gelaschwili, Naira (Hg.): Georgische Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000.