„Ich fühle die Birke nicht, wie sie Esenin fühlt.“

Ein Interview mit dem aserbaidschanischen Dichter, Übersetzer und Preisträger der „Russkaja Premija“ 2004, Nidžat Mamedov.

Hier können Sie das Interview in russischer Sprache lesen.

Mit Nidžat Mamedov trafen wir uns in einem der Stadtcafés in der Nähe der U-Bahn-Station „Nariman Narimanov“ in Baku, früher eines der vorwiegend russischsprachigen Viertel der Stadt.

Ein junger Mann aus einer traditionellen aserbaidschanischen Familie aus dem Dorf Achmedly (einer der Schlafbezirke am Rande der Stadt), mit ausgeprägten südlichen Zügen, breiten buschigen Augenbrauen, dunkelbrauner Haut, dichtem  Haar und großen ernsten braunen Augen, die gar nicht in das erwartete kanonische Bild des renommierten russischsprachigen Dichters zu passen scheinen, gesteht scherzhaft mit einem leichten Bakuer Akzent im Russischen, dass er seinen Phänotyp höchstwahrscheinlich seinem Großvater aus dem iranischen Aserbaidschan verdankt. Viele Aserbaidschaner sind während des Ölbooms zu Beginn des letzten Jahrhunderts aus dem Iran nach Nordaserbaidschan gezogen. Viele wurden mit dem Aufkommen der Sowjetmacht vertrieben, einigen gelang es, zu bleiben.

Im Gespräch mit Nidžat spürt man seine bewusste Distanzierung von politischen Themen. Das ist eher untypisch für junge bekannte Autor_innen in der GUS. Viele von ihnen bestätigen vielmehr Bulgakovs Aussage, „Der Schriftsteller wird immer in der Opposition zur Politik stehen, solange die Politik selbst in der Opposition zur Kultur steht“ und äußern ihr Andersdenken auch mit politischem Protest.

Später, als Nidžat in seinem Interview aserbaidschanische Schriftsteller der Sowjetzeit für den Mangel an asowjetischer Kreativität kritisiert, weil „das Sowjetische und Antisowjetische nicht interessant ist“, „es ist nur der entgegengesetzte Pol desselben“, wird klar, dass es diese experimentelle, unpolitische, ideologiefreie Linie der Poesie ist, die er (vielleicht nicht bewusst) fortzusetzen versucht, und um die er die russische Poesie nach seiner eigenen Aussage so sehr „beneidet“.

Bereitwillig und offen spricht der Autor über seine Krankheit, Bulling in der Schule, Therapie und ihren „greifbaren“ Einfluss auf den kreativen Prozess, die seinen Alltag auch heute sehr stark prägen und ihn zu dem, „was er heute ist“, gemacht haben.

Beim Interview begleitet ihn seine Ehefrau. Sie sei nach seinen Worten sein „Hauptleser und Zensor“. Er schaut ab und zu fragend in ihre Richtung, im Gegenzug nickt sie zustimmend und lächelt.

 

Günay Rza: Lieber  Nidžat, ich danke Ihnen, dass Sie diesem Interview zugestimmt haben.  Wie hat sich Ihr schöpferischer Weg entwickelt?  Wann haben Sie begonnen Ihre ersten Gedichte zu schreiben?

 

Nidžat Mamedov: Ich weiß nicht, ob man das wirklich als „Weg“ bezeichnen kann. Ich schreibe mehr oder weniger systematisch, seit ich 15 bin, also seit der elften Klasse, und später während meines Studiums an der Philologischen Fakultät. Einige meiner Familienangehörigen sind auch Philologen: meine Mutter, mein Vater und meine Tante. Von Kindheit an war ich von Büchern umgeben, und wegen meines verschlossenen Charakters war ich eher geneigt, mit Büchern zu kommunizieren als mit Menschen. Mit anderen Worten, ich lernte das Leben nicht direkt, sondern indirekt durch Bücher kennen. Ich glaube, alles war somit vorbestimmt und das Studium an der Fakultät für Philologie erschien mir angemessener als andere Fächer.

 

G.P.: Philologische Fakultät der Slawischen Universität?

 

N.M.: Nein, an der Bakuer Staatlichen Universität.

 

G.P.: Auf der Webseite der „Novaja literaturnaja karta Rossii“  war der Name der Universität falsch?

 

N.M.: An der Slawischen Universität versuchte ich zweimal zu unterrichten. Ich wurde dorthin eingeladen, als die Fakultät eröffnet wurde. Ich habe mit Studenten Schreibworkshops organisiert, 2-3 Mal, dann bin ich abgehauen. Meine Selbstkritik erlaubte es mir nicht, dort weiter zu unterrichten. Ich war erst 26-27 Jahre alt und überzeugt, dass ich kein Lehrer sein kann, dass ich kein Recht hätte, die Studenten zu kritisieren, ihnen etwas zu sagen. Ich versuchte, ihren Horizont zu erweitern, ich riet ihnen, Nabokov zu lesen und nicht Coelho, an dem sie festhingen. Sie dachten, die Literatur beschränke sich auf Coelho und andere populäre Autoren, aber ich zeigte ihnen, dass es auch andere Namen gebe, die auch Aufmerksamkeit verdienen, das ist alles.

 

G.P.: Ist Nabokov eine solche Autorität für Sie?

 

N.M.: Zu ihm habe ich eine ambivalente Haltung. Ich verstehe, dass er technisch sehr stark ist, er schreibt meisterhaft. Aber die Tatsache, dass er in seinen Werken Metaphysik annektiert hat… es gibt keine Metaphysik dort… Nabokovs Spiele sind rein epistemologisch, das heißt, es gibt keinen Durchbruch in den metatextuellen Raum. Die Welt des Textes begrenzt alles. Und diese schmerzhafte Empfindung stößt mich ab, aber gleichzeitig verstehe ich, dass er ein hervorragender Schriftsteller ist. Es gibt viel von ihm zu lernen. Er ist neben Conrad, Beckett und Brodsky einer der herausragenden bilingualen Autoren.

 

G.P.: Was hat Sie als Dichter besonders geprägt? Welche Autoren, Ereignisse?

 

N.M.: Literatur als Schulfach fiel mir sehr schwer, rein angewandte Seite, ich konnte absolut keine Gedichte auswendig lernen, aber in meiner Kindheit habe ich gerne Mythen gelesen. Als ich krank war, schenkte mir meine Mutter eine Sammlung von Mythen aus dem antiken Griechenland. Und so suchte ich nach einem Gott, den ich besonders sympathisch und angemessen fand. Es war eine Welt, in der ich mich gut orientiert habe, aber Pauken fiel mir schwer. Und es fing erst im Alter von 15 Jahren, in der 11. Klasse, an, dass ich mich mit Majakovskij vertraut machte und sein ganzes Frühwerk las. Ich verehre ihn immer noch.

Sein Poem „Wolke in Hosen“ konnte ich, nachdem ich es 3-4 Mal gelesen hatte, auswendig. Er verkörperte für mich das Vorbild eines starken Autors.

Damals habe ich viel Rockmusik gehört, versuchte Gitarre zu spielen, und Majakovskij schien mir ein Rocker zu sein, im Vergleich zu Blok und anderen, die mir als Popmusik erschienen. Und Majakovskij war ein charismatischer Mensch, der mit kahlgeschorenem Kopf im Gefängnis saß und ich habe ihn mit Punks in Verbindung gebracht.

Zu Beginn des letzten Jahrhunderts kamen Futuristen nach Baku, sie trugen einen Holzlöffel in der Schlinge, färbten sich die Haare, hatten gelbe Westen, es war so aufsässig und provokativ. Und natürlich schien es einem 15-jährigen Teenager mit Hormonen seelenverwandt. Neben Majakovskij las ich damals das Buch „Die Reise in die Hölle“. Es war ein Buch über den Schaden von Drogen. Es handelte unter anderem vom Einfluss der Drogen auf die Literatur, Charles Baudelaires, „Das Gedicht vom Haschisch“, Thomas de Quinceys „Bekenntnisse eines Opiumsüchtigen“ und Gedichte des Beatnik Allen Ginsberg, die unter Drogen geschrieben wurden, kamen darin vor, und ich war sehr beeindruckt von dem Aufruhr der Bilder.

Ein paar Jahre später, als ich an der Universität war, bekam ich „Naked Lunch“ von Burroughs geschenkt, das bemerkenswerte Werk eines anderen Beatniks aus dem Jahr 1959. Es hat mich beeinflusst. In einem Lehrbuch „Wörterbuch der literarischen Termini“, dort las ich über Expressionismus und Surrealismus. In Orientierung daran versuchte ich, selbst etwas zu schreiben. Das Lehrbuch war gut, darin lernte ich in der 11. Klasse Brodskij kennen! Eines seiner Gedichte und eine kurze Zusammenfassung seines Lebens und dass er ein Nobelpreisträger war. Und sogar Gedichte von Parščikov waren darin abgedruckt. In der 11. Klasse wussten wir nicht nur, wer Ždanov war, sondern auch wer Parščikov war, bekamen eine Vorstellung, wie Meta-Realisten schrieben. Wahrscheinlich waren das Überbleibsel des imperialen Bewusstseins und Denkens.

 

G.P.: Welche Schule haben Sie besucht?

 

N.M.: Es war eine normale Schule, die Schule Nummer 63, damals halbkriminell. Viele hatten Angst davor, weil dort die Regeln nicht eingehalten wurden. In der Klasse 8-9 musste ich sogar ein Messer bei mir tragen, um die gefährlichen Typen abzuschrecken. Ich bin früher als die anderen zur Schule gegangen und war immer jünger und kleiner als meine Mitschüler. Ich habe das Bulling also am eigenen Leib erfahren.

Damals nahm meine Mutter mich und meine beiden Schwestern in die Pfingstsekte. Auch dort wurde ich einer gründlichen Gehirnwäsche unterzogen: Ich erinnere mich an die Rituale des Kniens, umgeben von knienden Erwachsenen, die betend Kauderwelsch murmelten. Wissenschaftlich gesehen ist es eine Glossolalie. Die Pfingstler nannten es „Sprechen in heiligen Zungen“. Die Bibel sprach von Demut und Geduld, aber in der Schule funktionierte das nicht. Je länger ich schwieg, desto gewalttätiger wurde ich.

Aber meine Familie hat es geschafft, uns da rauszuholen; zur Ablenkung wurde ich zum Sport geschickt. Ich ging in ein Fitnessstudio und dann zum Judo, wurde stark und furchtlos. Und eines Tages passierte ein Wunder! Nachdem ich mich mehrmals gewehrt und zurückgeschlagen hatte, ließen meine Mitschüler mich in Ruhe. Es ist dieses typische Gefühl eines Teenager, eine Mischung aus Furchtlosigkeit, Einsamkeit und Freiheit, das mir heute erlaubt, die Seiten von Autoren wie Jünger, Bowles, Cioran zu genießen. Ich sehe Brüder im Geiste. Und gleichzeitig verstehe ich, dass diese traumatische Erfahrung – Mobbing, die Pfingstsekte sowie die genetische Veranlagung – dazu geführt haben, dass ich seit zwölf Jahren an einer bipolaren Störung leide. Viele Dichter leiden an einer bipolaren Störung.

 

G.P.: Wie ist es, ein russischsprachiger Dichter in Aserbaidschan zu sein? Was ist der Grund für die Wahl einer Sprache? Haben Sie Ihre Erfahrungen als Autor mit denen der Aserbaidschanisch schreibenden Autoren verglichen?

 

N.M.: Mein Vorteil ist, dass ich weder auf die aserbaidschanische noch auf die russische Sprache herabsehe. Ich habe eine aserbaidschanischsprachige Familie, aber dass wir in die russischsprachige Schule gegangen sind, war das Verdienst meiner Mutter. Sie selbst spricht nur mit Fehlern Russisch, sie versteht es aber, und sie träumte davon, Russisch zu können und dadurch Zugang zur ganzen Weltkultur zu haben. Zur Zeit der Volksfront hatte mein Vater Angst und wollte, dass wir zur aserbaidschanischen Schule wechseln. Sie bestand aber darauf, und ich und meine Schwestern erhielten eine russischsprachige Ausbildung. Aber zu Hause hörten wir immer die aserbaidschanische Sprache, und das auf hohem Niveau. Meine Mutter zitiert frei von Fizuli bis Gusejn Džavid, und all das drang in mein Gehör. Sprichwörter, Sprüche, unsere Folklore. Sie hat ein gutes Gedächtnis, sie unterrichtet die aserbaidschanische Sprache und Literatur in der Schule. In meinen Gedichten kommentiere ich manchmal einige ihrer Phrasen. Ihr Aserbaidschanisch ist voller Sprichwörter, Sprüche und idiomatischer Wendungen. Ich betrachte sie etwas distanziert von der Position der russischen Sprache, und sie offenbaren mir eine etwas andere Bedeutung, das gibt eine interessante, verfremdende Wirkung. Obwohl ich viel aus dem Aserbaidschanischen übersetzt habe, selbst geschrieben habe ich auf Aserbaidschanisch erst letztes Jahr zum ersten Mal. Ich habe diese Experimente, die sich an der Dichtung der Moskauer Konzeptualisten – Prigow und Rubinstejn – orientieren, nicht publiziert und werde das wahrscheinlich nicht tun.

Ich habe sehr viel von der traditionellen syllabischen Dichtung übersetzt, ich kann das fast automatisch aus mir herauspressen. Ich nehme diese Form, ich nehme die Strophe, ich nehme den Siebenhebigen, den Achthebigen, und ich fange einfach an, in Versen auf Aserbaidschanisch zu schimpfen und diesen ganzen Unsinn aus mir herauszuziehen. Aber es lohnt sich kaum, sie zu drucken, denn es handelt sich um Affekte, nicht um echte expressive Dichtung. Ich glaube, man sollte lichttragende Dinge zum Ausdruck bringen statt des Dunklen. Ich kann mit Leichtigkeit alles Dunkle aus mir herauspressen, das Papier wird alles ertragen, aber es lohnt sich nicht, das zu publizieren.

Aber die Erfahrung, in feststehenden Formen auf Aserbaidschanisch zu schreiben, war wie eine Übung. Ich schreibe jetzt Texte in aserbaidschanischer Sprache, bei denen ich auf die Lockerung grammatikalischer, syntaktischer Entwürfe setze. Ich zerbreche die Formen, deformiere diese grammatikalischen Kategorien leicht und versuche, einige ausdrucksstarke Dinge in der aserbaidschanischen Sprache zu schreiben. Da gibt es auch ein Element des Zufalls, denn ich bin müde von mir selbst, weil ich alles geschrieben habe, was ich wissen konnte und was ich beim Schreiben gefunden habe, und jetzt möchte ich etwas schreiben, das für mich als Leser neu wäre.

Burroughs benutzte in seinen Romanen auch ein Element des Zufalls, die Technik heißt Cut-up, und geht auf die Dadaisten zurück. Tristan Tzara sagte, dass das beste Gedicht – ein zufälliges Gedicht ist. Man nimmt das Papier, schneidet es in Stücke und legt sie in einen Hut und zieht in einer zufälligen Reihenfolge. Und Burroughs modifizierte es, er schnitt einige Fragmente heraus, veränderte sie an einigen Stellen, mischte sie und setzte sie in umfangreichere Texte, in Romane, um. Ganz im Allgemeinen ist das für die amerikanische Kunst typisch. Ich versuche, in meinen jüngsten Texten sowohl in russischer als auch in aserbaidschanischer Sprache vergleichbare Prinzipien zu nutzen. Ich nehme einige Textblöcke, lasse sie durch einen Algorithmus, der alles in einer zufälligen Reihenfolge mischt, und ziehe dann die Stücke heraus, die einen Sinn ergeben und schließlich befasse ich mich mit Layout. Das ist interessant für mich. „Die Logik ist, dass ich mit dem Chaos beginne, und das ist der natürlichste Anfang“, sagte Paul Klee. Und davor sagte Nietzsche: „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können“.

Sehen Sie, nachdem mir Lithium verschrieben wurde (dem übrigens viele Gedichte und Lieder gewidmet sind), bekam ich Inspiration, d.h. Hypomanie. Ich weiß nicht, wie das bei anderen ist, aber ich kenne nur eine Form der Inspiration, und das ist die Hypomanie. Und in meinem Fall ist die Hypomanie Teil meiner bipolaren Störung. Lithium hat mich adäquat und sozial stabil gemacht. Aber ich habe beschlossen, die dadurch verschwundene Inspiration, durch die früher in einem Sekundenbruchteil Hunderte von verbalen Operationen und unerwarteten Kombinationen in meinem Kopf auftauchten, digital zu kompensieren. Wie Puschkin sagt: „Und der Zufall ist der Erfinder-Gott“. Ich verlasse mich auf diesen Gott. Schließlich muss der Dichter nur eines tun – „Worte mit einander vertraut machen“ (Mandel’štam).

Die Umstände führten dazu, dass ich die Routinearbeit der kombinatorischen Maschine überlasse, aber das Schwierigste bleibt mir vorbehalten – die Wahl und Transformation dieser oder jener Sequenz.

Ja, diese Experimente sind ein bisschen wie ein neuronaler Netzwerkbrief. Doch was sagte Rimbaud? „Ein Dichter muss absolut modern sein“. Moderne Gedichte werden aus der Zukunft geschrieben, aus dem Grenzbereich zwischen Sprache und Mensch.

Gleichzeitig wirft diese Art des Schreibens eine Reihe wichtiger Fragen auf. Was ist ein Unfall? Chaos oder eine riesige Ordnung, die ein Mensch nicht begreifen kann? Ist es ein Vers, der gerade geschrieben oder konstruiert wird? Welches Potenzial liegt im Aufeinanderprallen verschiedener, widersprüchlicher Diskurse? Ist es befreiend? Revolutionär? Was bedeuten Grammatik- und Syntaxverletzungen? Rebellion gegen den totalitären Charakter einer normativen Sprache? Die Suche nach einer primären, präkognitiven Sprache? Der Wunsch, neue Verbindungen zwischen Elementen der Gesellschaft zu schaffen, neue Verbindungen zwischen Teilen der Rede zu schaffen?

Und schließlich: Ich würde nichts ändern, weil in all dem eine gewisse Logik steckt. Oft ist es der Bruch eines Mechanismus, der es Ihnen ermöglicht, etwas über das Innere zu erfahren. In meinem Fall ist es dasselbe. Die Seelenkrankheit hat mir ermöglicht die Seele und ihre Struktur besser kennenzulernen. Und die Einnahme von Medikamenten – den Abschied vom romantischen Konzept der Kreativität, von Illusionen zu nehmen.

 

G.P.: Wenn wir (da wir von Aserbaidschan sprechen) zum Vergleich an Čingiz Gusejnov denken, der auch in beiden Sprachen schreibt. Für ihn ist es meiner Meinung nach sehr wichtig, ganz in der jeweiligen Struktur der Sprache zu bleiben, den Rahmen zu behalten und nicht zu durchbrechen. Haben Sie keine Angst?

 

N.M.: Ich bin nicht ängstlich. Ich erinnere mich an Deleuze, ich verstehe ihn kaum, aber in seinem Buch „Kritik und Klinik“ gibt es einen guten Satz: „Ein Schriftsteller muss in seiner eigenen Sprache schreiben, als wäre sie eine Fremdsprache, er muss in seiner eigenen Sprache eine andere, fremde Sprache verstecken“. Wenn man darüber nachdenkt, hat der Schriftsteller keine andere Wahl. Der Schriftsteller ist die Person, die versteht, dass alle Worte vor ihr erfunden wurden, er hat keine eigenen Worte. Entweder muss er in irgendeine dadaistische Abstrusität abrutschen und dann wird ihn niemand verstehen, oder er muss ein guter Stilist sein. Sie können innerhalb der Grenzen einer gemeinsamen Sprache bleiben, aber Sie können dort ganz kleine Änderungen vornehmen, die zugleich Ihre eigenen Markierungen sein werden, aber doch allgemein verständlich bleiben. Wie zum Beispiel Platonov. Er ist zuhause in der russischen Sprache, aber gleichzeitig ist er auch ein Fremder. Er wird oft Nabokov gegenübergestellt.

 

G.P.: Ich möchte noch gern zum Thema Übersetzung übergehen und zunächst nach der Auszeichnung fragen, die Sie für die beste Übersetzung erhalten haben.

 

N.M.: Ja, das war im Jahr 2004, die Auszeichnung des Ministeriums für Jugend, Sport und Tourismus für die Übersetzung der Gedichte von Akšyn. Es gibt einen solchen Dichter, er ist vier Jahre älter als ich und schreibt jetzt Prosa.  Er ist ein sehr interessanter Dichter.

Im Unterschied zum russischsprachigen Publikum und den russischen Autoren interessiere ich mich wirklich für die aserbaidschanischen Autoren, sie wirkten so leidenschaftlich auf mich, so frisch. Vielleicht haben sie keinen großen Hintergrund, sie sprechen nicht das Silberne Zeitalter an, wie lokale russischsprachige Autoren, aber es gibt eine frische Unverfrorenheit. Das ist ihre Stärke. Meine Übersetzungen von Akšyn wurden in der Zeitschrift „Literaturnyj Azerbajdžan“ (Literarisches Aserbaidschan) veröffentlicht.

 

G.P.: Und die „Russkaja premija“ 2014?

 

N.M.: Ja, für das Buch „Treffpunkt überall“, erschienen im „Russkij Gulliver“ Verlag, von Andrej Tavrov und Vadim Mesjac. Dieses Buch enthält 20 Gedichte, 9 Essays und 2 Interviews, vom Autor zusammengestellt. Ich hatte es nicht auf die Auszeichnung angelegt.  Der Verlag hat das Buch selbst nominiert und mir wurde mitgeteilt, ich hätte den dritten Platz belegt.

 

G.P.: In der „Novaja literaturnaja karta Rossii“ von Dmitrij Kuzmin, der seit den 1990er Jahren schon die russischsprachige Dichtung dezentral zu kartieren versucht, aber trotzdem immer noch von russischer Dichtung spricht, werden Sie als Dichter erwähnt.

 

N.M.: Ich mag den Stil von Aleksandr Goldstein. Er ist ein Jude aus Baku, ein großer Schriftsteller. Sein erstes Buch wurde veröffentlicht, als er 40 Jahre alt war, und er erhielt zwei diametral entgegengesetzte Auszeichnungen, den Russian Booker und den Anti-Booker für „Rasstavanije s Narcissom“( eng. Parting from Narcissus). Und in dem zweiten Buch, im letzten Essay, appelliert er an die Provinzschriftsteller und sagt, ihre Literatur sei nicht russisch, sondern russischsprachig, und das sei gut so. „Halten Sie an Ihrem ausländischen Provinzialismus fest, denn er wird in Zukunft die Metropole ernähren, er wird die russische Sprache selbst ernähren, sie wird sich auf Kosten des Schrottes am Stadtrand leben und sich entwickeln“. Als Arbeitsbegriff verwende ich also in Bezug auf mich selbst den Begriff der russischsprachigen Literatur.

Mein Schreiben basiert nicht auf der russischen Mentalität, nur die Sprache ist Russisch, und das ist eine Art krummes Russisch. Als ich am Anfang nach meinem Stil suchte, verstand ich, dass es kein ehrlicher Weg sein kann, dem Weg Esenins zu folgen, wie es die russischen Schriftsteller Aserbaidschans taten. Wenn ich ein ethnischer Russe wäre, könnte ich es versuchen, aber ich bin Aserbaidschaner. Ich fühle die Birke nicht so wie Esenin sie fühlt. Wichtig sind mir Abšeron, Salzsümpfe, Wüstenzone, salziger Wind, d.h. einige Archetypen, die mir innewohnen. Als Kind aß ich keinen Kuchen, sondern Halvah, das Frauen zubereiteten, also eine ganz andere Konstellation.

Ich suchte verzweifelt nach ‚meinem‘ Umfeld, und dann folgte ich dem Rat von Il‘ja Kukulin und fand in Šamšad Abdullajev einen Seelenverwandten. Als ich ihn und andere Ferganer Autoren las, erkannte ich mich selbst, erinnerte mich an meine Kindheit und verstand, dass es möglich ist, auch ganz anders auf Russisch zu schreiben. Ja, es gibt andere russischsprachige Schriftsteller wie Gennadij Ajgi, den berühmten tschuwaschischen Dichter, also ein Autor mit turksprachigen Wurzeln, er schreibt in seinem ganz eigenen Russisch. Genau wie der erwähnte Goldstein oder Abdullajev. Arkadij Dragomoščenko wurde in der Ukraine geboren, zog nach St. Petersburg und schrieb auf Russisch, indem er in seine russischsprachige Dichtung die ukrainische Sprache einbettete, wobei er an die gesamte Weltkultur vom Buddhismus bis zum Poststrukturalismus appellierte. Er ist wirklich ein ganz einzigartiger Autor. Viele gingen den Weg über Brodskij, der nur wenig älter ist (Jahrgang 1940) als Dragomoščenko (1946). Aber ich stelle immer mehr fest, dass die Erfahrung von Dragomoščenko ein Eckpfeiler gerade für junge Dichter ist.

 

G.P.: Wann haben Sie mit Ihren ersten Übersetzungen begonnen? Übersetzen Sie auch andere Schriftsteller und Dichter? Es gibt verschiedene Theorien, dass eine Übersetzung gelungen ist, wenn sie die Botschaft transportiert, die der Autor vermitteln wollte. Wann, glauben Sie, ist eine Übersetzung erfolgreich?

 

N.M.: Ich habe an der Universität mit dem Übersetzen begonnen, wir hatten sogar ein Fach „Übersetzungswissenschaft“, das mir interessant zu sein schien, und dann, scherzhaft gesagt, habe ich übersetzt, es gelang mir, zu reimen. Ich übersetzte zum Spaß Bachtijar Vahabzade mit einigen lustigen Reimen. Salim Babullaoglu, ein wunderbarer Dichter und einfach ein guter Mensch, wurde mein Mentor und führte mich in den Beruf des Übersetzers ein. Jetzt übersetze ich hauptsächlich, um mein tägliches Brot zu verdienen. Es ist das Einzige, was ich für meinen Lebensunterhalt tun kann. Manchmal schreibe ich auch Artikel.

Es ist schwer zu beurteilen, ob die Übersetzung adäquat ist.  Ich habe viele Menschen für Geld übersetzt und viele kostenlos. Ich übertrage kostenlos diejenigen Autoren, die mir am Herzen liegen und die mir gefallen. Ich habe sie nicht nur kostenlos übersetzt, sondern auch versucht, für sie zu werben, sie an verschiedene Zeitschriften zu schicken, Präambeln und einige Beilagen zu schreiben. In Arion gab es in den Jahren 2006 und 2007 große Veröffentlichungen, in der Zeitschrift Družba Narodov, auf TextOnly.ru gab es eine Veröffentlichung.

Bis jetzt versuche ich, das, was mir gefällt, kostenlos zu übersetzen und zu fördern. Aber daneben muss ich beruflich übersetzen und ich kann diese Übersetzungen nicht beurteilen. Die Autoren selbst bestehen auf der Übersetzung, sie wollen Anerkennung und sie denken, wenn ich den Text in Ordnung bringe, wird er gut sein und Erfolg haben, was nicht wirklich geschieht. Lassen Sie uns über die guten Dinge sprechen, die ich aus Liebe vermittle.

 

G.P.: Übersetzen Sie hauptsächlich aus dem Aserbaidschanischen ins Russische?

 

N.M.: Ja, vom Russischen ins Aserbaidschanische übersetze ich nur meine Lieblingsautoren. Ich habe Šamšad Abdullajev übersetzt, etwa 20 Gedichte, ein paar Gedichte von Iličevskij. Aleksandr Skidan, Arkadij Dragomoščenko, Andrej Tavrov, Evgenij Suslov. Ich möchte, dass es diese Autoren in aserbaidschanischer Sprache gibt, und tatsächlich erhalten die Übersetzungen Resonanz, werden in lokalen Zeitschriften veröffentlicht, in der Zeitschrift „Quyu“ (Übers. aus dem Aserb. – der Brunnen). Es gibt jetzt auch Leute, die endlich Platon aus dem Altgriechischen ins Aserbaidschanische übersetzen und dabei großartige Arbeit leisten. Die Übersetzungen werden in der Zeitschrift veröffentlicht, und die Mitarbeiter selbst bitten um eine Fortsetzung. Das Publikum liest und diskutiert darüber. Und was ich aus Liebe ins Russische übersetze, sind Autoren wie z.B. Akšyn, Hamid Herisči, Rasim Garadža. Sie sind auch für die russischen Leser interessant, die ihrerseits diese Poesie mit Interesse entgegennehmen und um mehr bitten.

 

G.P.: Übersetzen Sie etwas aus Ihren eigenen Werken ins Aserbaidschanische?

 

N.M.: Ich habe versucht, einige Gedichte zu übersetzen, weil ich keinen Übersetzer finden konnte. Viele lehnten ab, sie meinten die Gedichte wären zu kompliziert, dieses ganze Wortspiel.

 

G.P.: Welche Kriterien haben Sie für die Übersetzung? Ist es schwierig, ein Wortspiel weiterzugeben? Denken Sie an Ihre Leser?

 

N.M.: Ich nehme keine Rücksicht auf die Leser. Leser sind in erster Linie ich, meine Frau, meine Freunde. Poesie ist ein Gespräch mit sich selbst, aus Verzweiflung oder Einsamkeit, aber hier bist du selbst als Leser wichtig. Und man übersetzt es nicht wörtlich, man übersetzt das Spielprinzip, nicht die Details. Sie können eines der formalen Elemente entfernen und die anderen belassen, dann erreichen Sie eine größere semantische Genauigkeit, verlieren aber einige strukturelle Qualitäten.

Gasparov schlug einen solchen Ansatz bei der Übersetzung mittelalterlicher Vaganten vor und nannte es «konspektivnyj perevod» – zusammenfassende Übersetzung. Er meinte, man könne ein Gedicht von 30 Zeilen in 10 Zeilen übersetzen. Er berücksichtigte den Empfänger, fasste den Text wie eine Synopse zusammen und übersetzte diese Synopse. Es gibt verschiedene Ansätze, ich weiß nicht, ob sie alle taugen, das hängt von der Situation ab. Umberto Eco hat ein Buch über Übersetzung. Wie schrieb er dort?- „ Quasi dasselbe sagen“.  Quasi dasselbe. Nicht dasselbe, aber fast.

Nur wenige Leute analysieren Übersetzungen ins moderne Aserbaidschanisch. Aber mir scheint, dass Übersetzer heute eine große Rolle bei der Bildung der literarischen Sprache in Aserbaidschan spielen. Es ist noch sehr flexibel. Sie können einige Wörter aus anderen Sprachen verwenden oder Ihre eigenen neuen Wörter bilden.

Und auch Schriftsteller, schätze ich. Es ist notwendig, die Schriftsteller der Sowjet-Ära, besonders die aserbaidschanischsprachigen Schriftsteller der Sowjet-Ära dafür zu kritisieren, dass sie zu wenig experimentelle Dinge geschrieben haben. Ich schaue immer mit Neid auf die große literarische Vielfalt der russischen Literatur in Sowjetzeiten: es gab sowjetische Literatur und es gab antisowjetische Literatur, Dissidentenliteratur, aber es gab auch asowjetische Literatur, die sich ästhetisch gegen das System stellte. Sie suchte einfach nach neuen Wegen. Zum Beispiel, P. Ulitin – ja, er schrieb in Tabellen, er machte viel Experimentelles, parallel zu Joyce’s Experimenten, oder Konzeptualisten wie Vsevolod Nekrasov. Ja, erst viel später begannen sie, im Westen zu drucken, aber sie hatten keine Angst, es war eine kleine Gruppe, aus 3-4 Personen, sie sprachen, sie experimentierten mit Sprache, sie schrieben einfach füreinander und ‚in den Tisch‘.

Wir hatten keinen solchen Underground. Ich weiß nicht, warum.  Wir hatten etwas Asowjetisches, aber nichts Antisowjetisches (das ist auch nicht interessant), z.B. in der Malerei. Es gab eine solche Abšeron-Schule, sie bestand aus 5 Künstlern: Ašraf Murad, Javad Mirdavadov, Tofik Miržavadov, Gorchmaz, Rasim Babayev. Über sie wurde ein Dokumentarfilm gedreht, sie konnten schon zu Sowjetzeiten mit einem Laib Brot in der Tasche irgendwo in die Steppe gehen und nach ungewöhnlichen Bildern suchen.

Das war mehr oder weniger parallel zu den westlichen Entwicklungen, es geht um Malerei. Und ein bisschen Musik. Und erst Ende der 80er Jahre kam mit dem Beginn der nationalen Unanbhängigkeitsbewegung (aserbaidschanisch: „Meydan“) auch Bewegung in die Literatur. Als die Menschen anfingen, sich auf den Plätzen zu versammeln und zu protestieren. Und dann in den 2000er Jahren, als Hamid Herisči, Rasim Garadža, Murad Kohnegala und Azad Yašar die „Kammer der Freiberuflichen Schriftsteller“ (Azad Yazarlar Ocağı) gründeten und mit der Herausgabe der Zeitschrift „Alatoran“ begannen. Ich habe meine Gedichte auch dort publiziert. Die Zeitung stand in der Opposition zum Schriftstellerverband. Ich kann die politische Seite nicht beurteilen, aber ästhetisch waren sie andersdenkend.

Es scheint mir, dass eine gewisse Rückständigkeit in der Sprache damit zusammenhängt, dass in Aserbaidschan in kurzer Zeit mehrmals das Alphabet gewechselt wurde (4 Mal im 20 Jh.).

Es ist nicht nur das Alphabet. Wir sind ein kleines Land. Mit wem haben wir kommuniziert? Zum Beispiel, Gusejn Džavid, es gibt so viele türkische Wörter und türkische Endungen in seiner Sprache.

Achundov kritisierte auch den Einfluss des Islams auf die Sprache, da der Islam der Entwicklung sehr enge Grenzen setze.

Wir brauchen die Revolution, wie sie in Deutschland stattfand, als Luther die Bibel ins Deutsche übersetzte, und es einen Drang zur Trennung, zur Selbsterkenntnis gab. Der Islam lässt dies aber nicht zu, er sakralisiert die arabische Sprache und sagt, dass wahre Gebete nur auf Arabisch möglich sind.  Ja, der Koran ist ins Aserbaidschanische übersetzt worden, er existiert in 5 oder 6 Übersetzungen, aber es gibt keinen Gottesdienst in dieser Sprache.

 

 

 

«Писатель всегда будет в оппозиции к политике, пока сама политика будет в оппозиции к культуре».

Bakuer Staatliche Universität für Slawische Sprachen

http://www.litkarta.ru/world/azerbaijan/persons/mamedov/

Gem. Дик Бабоян «Путевка в ад» 1973.

Gem.  ist die Volksfront-Partei Aserbaidschans, die nach der ersten demokratischen Wahl 1992 in Aserbaidschan an die Macht kam und eine ausgeprägt nationalistische politische Linie festhielt.

Originalzitat von Klee nicht auffindbar, aus der Aussage von Mamedov übernommen.

Originalzitat von Mandel’štam nicht auffindbar, aus der Aussage von Mamedov übernommen

Originalzitat von Rimbaud nicht auffindbar, aus der Aussage von Mamedov übernommen.

Originalzitat nicht gefunden, von Mamedov übernommen.

Zitat direkt von Mamedov übernommen.

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