Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Online-Platt­form syg.ma: „Wir wollen Soli­da­ri­täts­netz­werke über natio­nale Grenzen hinweg errichten“

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syg.ma ist eine mehr­spra­chige, selbst­or­ga­ni­sierte, offene Online-Platt­form, auf der Forscher*innen, Künstler*innen, Klein­ver­lage und akti­vis­ti­sche Gemein­schaften ihr eigenes Mate­rial ver­öf­fent­li­chen. syg.ma wurde 2014 in Moskau gegründet und ist heute nicht nur ein leben­diges Medium, son­dern auch ein Archiv mit mehr als 25.000 Ver­öf­fent­li­chungen zu Phi­lo­so­phie, Kunst, Politik, Psy­cho­ana­lyse und Film, dar­unter akti­vis­ti­sche Mani­feste, aka­de­mi­sche Auf­sätze und Gedicht­samm­lungen. Die Web­site wird monat­lich von 150.000 bis 250.000 Nut­zern aus der ganzen Welt besucht.

Nach Beginn der voll­um­fäng­li­chen Inva­sion Russ­lands in die Ukraine wurde das Haupt­ziel von syg.ma – eine Platt­form zu sein, die ver­schie­dene Gemein­schaften zusam­men­bringt – noch wich­tiger: syg.ma nahm eine klare Anti­kriegs­hal­tung ein und kon­zen­trierte sich darauf, sein inter­na­tio­nales Publikum zu erwei­tern, indem es seine sprach­liche Prä­senz auf der Platt­form diver­si­fi­zierte und künst­le­ri­sche, kul­tu­relle und akti­vis­ti­sche Com­mu­ni­ties aus der ganzen Welt, ein­schließ­lich der Ukraine, enga­gierte. In seinem Streben nach Hori­zon­ta­lität und einem aus­ge­prägten Platt­form­cha­rakter stellt syg.ma eine wert­volle Alter­na­tive sowohl zu kreml­nahen als auch zu „unab­hän­gigen“ libe­ralen Medien im rus­sisch­spra­chigen und inter­na­tio­nalen Medi­en­raum dar.

novinki ver­öf­fent­licht ein Inter­view mit Kon­stantin Kor­jagin, einem der Redak­teure von syg.ma. Als Russ­land die Ukraine angriff, beschloss er, nicht nach Russ­land zurück­zu­kehren, son­dern in Berlin zu bleiben, und fand sich schließ­lich, wie ein Groß­teil der Redak­tion, im Exil wieder. syg.ma steht mit (vor allem linken) Gemein­schaften und Autoren sowohl im Land des Aggres­sors als auch in der ganzen Welt in Ver­bin­dung – und strebt danach, eine Platt­form zu sein, „auf der ver­schie­dene akti­vis­ti­sche und ehren­amt­liche Gemein­schaften sich gegen­seitig lesen und ken­nen­lernen, ihre Erfah­rungen und Leser­schaften unter­ein­ander aus­tau­schen“, auf der sich „akti­vis­ti­sche Texte und ver­tiefte Ana­lysen und Recher­chen gegen­seitig ergänzen, indem sie tief­ge­hende Theorie und Praxis mit­ein­ander verbinden.“

 

novinki: Wann und in wel­chem Rahmen hast Du zum ersten Mal von syg.ma gehört? Seit wann bist Du Redak­ti­ons­mit­glied und was ist Deine der­zei­tige Posi­tion im Team?

Kon­stantin Kor­jagin: Ich habe syg.ma in seinem Grün­dungs­jahr 2014 ken­nen­ge­lernt. Ich erin­nere mich, dass mir sehr gut gefiel, wie auf der Platt­form tage­buch­ar­tige Notizen von mir unbe­kannten Autoren neben ernst­haften aka­de­mi­schen Auf­sätzen von nam­haften Phi­lo­so­phen, expe­ri­men­telle Poesie neben großen Son­der­pro­jekten wie dem „offi­zi­ellen Blog der Mos­kauer Bien­nale“ plat­ziert waren. Für mich war dies ein sehr inspi­rie­rendes Bei­spiel für die hori­zon­tale Umver­tei­lung von sym­bo­li­schem Kapital und die Ver­schie­bung eta­blierter Hier­ar­chien. Durch die Lek­türe von syg.ma war es mög­lich, das Leben der selbst­or­ga­ni­sierten kul­tu­rellen Initia­tiven im rus­sisch­spra­chigen Raum zu ver­folgen und sich über die Neu­heiten unab­hän­giger Buch­ver­lage auf dem Lau­fenden zu halten. Außerdem wurden viele Texte zur zeit­ge­nös­si­schen kon­ti­nen­talen Phi­lo­so­phie und Psy­cho­ana­lyse, womit ich mich damals stark beschäf­tigte, veröffentlicht.

Ich wurde im März 2018 Redak­ti­ons­mit­glied, wäh­rend ich an der Phi­lo­so­phi­schen Fakultät in St. Peters­burg stu­dierte. Ein Freund holte mich in die Redak­tion. Seitdem bin ich einer der Redakteure/Kuratoren der Platt­form und haupt­säch­lich dafür ver­ant­wort­lich, Autor*innen, Texte und Themen zu finden, Com­mu­ni­ties ein­zu­laden Teil der Platt­form zu werden, mit ihnen zu kom­mu­ni­zieren. Hin und wieder ver­walte ich auch die sozialen Medien.

 

novinki: Wie viele feste Redak­ti­ons­mit­glieder gibt es der­zeit, wo sind sie mitt­ler­weile ansässig?

К. K.: Im Moment besteht syg.ma aus sechs Per­sonen: drei Redakteur*innen, zwei Programmier*innen, ein Redak­ti­ons­leiter. Und wenn wir Geld haben, stellen wir eine*n SMM-Manager*in auf Hono­rar­basis ein. Wenn kein Geld da ist, betreiben die Redakteur*innen die sozialen Netz­werke selbst. Abge­sehen von einer Person, die in Usbe­ki­stan geboren und auf­ge­wachsen ist, sind die anderen Mit­glieder der Redak­tion in ver­schie­denen Regionen Russ­lands geboren und auf­ge­wachsen. Nach Kriegs­be­ginn ver­ließ jener Teil des Redak­ti­ons­teams, der noch in Russ­land war, das Land, weil er sich gegen den Krieg posi­tio­nierte – und weil es ein­fach nicht sicher war, ein sol­ches Pro­jekt in Russ­land zu wei­ter­zu­führen. Jetzt sind wir über die ganze Welt ver­streut: in Geor­gien, Arme­nien, Deutsch­land, den USA.

Zu unserem Öko­system gehört auch das radio.syg.ma – mit Mixes, Ver­öf­fent­li­chungen und Live-Auf­tritten von expe­ri­men­tellen Musi­kern aus der ganzen Welt. Das Radio hat zwar seine eigene Redak­tion, aber sein Weg, seine Posi­tio­nie­rung und seine geo­gra­fi­sche Ver­or­tung sind ganz ähn­lich wie unsere.

 

novinki: Das Grün­dungs­jahr von syg.ma ist 2014. Fällt es zufällig mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine zusammen oder steht es mög­li­cher­weise in irgend­einer Ver­bin­dung dazu?

К. K.: Das ist ein Zufall.

 

syg.ma ist eine selbst­or­ga­ni­sierte Plattform,
die Autoren und Gemein­schaften plat­zieren ihre Texte
meist selbst auf unserer Plattform“

 

novinki: Eines der Ziele des Pro­jekts ist es, alter­na­tive Kol­lek­tive und Gemein­schaften zu unter­stützen – haupt­säch­lich in Russ­land, aber nicht nur. syg.ma wurde als „expe­ri­men­telle“ Platt­form kon­zi­piert – ein neues, alter­na­tives Medi­en­pro­jekt, das es in der rus­sisch­spra­chigen Medi­en­welt bisher nicht gab. Bitte erzähl uns ein wenig über die Struktur und die Ziele der Plattform.

К. K.: Es ist sehr wichtig zu ver­stehen, dass syg.ma eine selbst­or­ga­ni­sierte Platt­form ist. Die Autoren und Gemein­schaften plat­zieren ihre Texte meist selbst auf unserer Platt­form und nutzen sie als ihre eigene Web­site und als Archiv, in dem ihre Texte gespei­chert sind. So finden sich auf syg.ma heute Samm­lungen von unab­hän­gigen Buch­ver­lagen, von künst­le­ri­schen und akti­vis­ti­schen Gemein­schaften, von kul­tu­rellen Insti­tu­tionen und ein­zelnen Autor*innen. Diese Texte werden von uns bewusst nicht redi­giert. Die Auf­gabe und Funk­tion der Redateur*innen der Platt­form ist daher über­wie­gend kura­to­risch und besteht in der Autor*innen- und Com­mu­nity-Suche und im Kom­mu­ni­zieren mit ihnen. Außerdem in der Aus­wahl der Texte, die auf syg.ma ver­öf­fent­licht werden: Wir wählen aus, welche Bei­träge wir för­dern und auf der Platt­form sicht­barer machen (z.B. indem wir sie auf die Start­seite stellen, sie in the­ma­ti­sche Samm­lungen auf­nehmen und in sozialen Netz­werken posten) und welche nicht. Des­halb bezeichnen wir uns auch oft als eine „schwache Redaktion“.

Zudem haben wir Spe­zi­al­pro­jekte, etwa den „Atlas“, bei dem wir und unsere Autor*innen über Grenzen und Iden­ti­täten nach­denken, oder „Taškent-Tiblisi“ über die Geschichte und Kultur Zen­tral­asiens, für die wir über Bud­gets (meist Sti­pen­dien) ver­fügen und bei denen wir als voll­wer­tiges Redak­ti­ons­team fun­gieren: Wir denken uns im Voraus Themen aus, zahlen den Autoren Hono­rare, lesen und redi­gieren die Texte. Wir orga­ni­sieren auch die Zusam­men­ar­beit mit anderen Medien, z.B. haben wir eine eigene Samm­lung rus­si­scher Über­set­zungen aus­ge­wählter Texte der Zeit­schrift e‑flux.

Unser ursprüng­li­ches Ziel war es, einen Prä­ze­denz­fall einer selbst­or­ga­ni­sierten Platt­form zu schaffen, die sich selbst finan­ziert und gleich­zeitig relativ populär ist, um auf diese Weise die Stimmen selbst­or­ga­ni­sierter künst­le­ri­scher und kul­tu­reller Initia­tiven, unab­hän­giger Ver­lage, linker und femi­nis­ti­scher poli­ti­scher Bewe­gungen, deko­lo­nialer Aktivist*innen, wis­sen­schafts­naher Autor*innen und Lyrik-Gemein­schaften zu stärken, indem wir ihnen Zugang zu den Publi­kums­kreisen der jeweils anderen zu ver­schaffen. Wir wollten die Sicht­bar­keit all derer erhöhen, die sich in den klas­si­schen Medien, die in Russ­land vor dem Krieg ent­weder staat­lich-kon­ser­vativ oder oppo­si­tio­nell, aber rechts­li­beral aus­ge­richtet waren, nicht wie­der­fanden. In diesem Sinne stellte und stellt syg.ma natür­lich eine Alter­na­tive dar.

Es sollte ver­standen werden, dass wir nie ein Nach­rich­ten­me­dium waren und auch in Zukunft nicht sein werden, ein Medium, wie es zum Bei­spiel DOXA in vie­lerlei Hin­sicht geworden ist. Es kann also nicht gesagt werden, dass wir auf dem glei­chen Feld wie diese „klas­si­schen“ Medien gespielt und ver­sucht haben, mit ihnen zu kon­kur­rieren. Wir hatten schon immer einen anderen, expe­ri­men­tel­leren, dis­kur­siven und ana­ly­ti­schen Schwer­punkt: Wir haben femi­nis­ti­sche Poesie, deko­lo­niale Stu­dien, Tage­buch­auf­sätze, aka­de­mi­sche Essays über Phi­lo­so­phie und Psy­cho­ana­lyse, Kunst­kritik, Phi­lo­so­phie­über­set­zungen und anderes veröffentlicht.

Illus­tra­tion (auch Bei­trags­bild, oben): © Sonja Umans­kaja / Sonya Umanskaya.

novinki: syg.ma bietet nicht nur ein­zelnen Autor:innen, son­dern auch Kol­lek­tiven eine Platt­form. Dies wurde auch nach Februar 2022 deut­lich, als ver­schie­dene Posi­tionen und Mani­feste gegen den Krieg auf syg.ma erschienen. Wie hat syg.ma auf die rus­si­sche Inva­sion in die Ukraine reagiert, welche Mate­ria­lien sind seither erschienen? Kann syg.ma eine Platt­form für eine kri­ti­sche Refle­xion des Krieges und für Anti­kriegs­pro­test inner­halb (und außer­halb) des „Aggres­sor­landes“ werden?

К. K: Als der Krieg begann, stellten wir unsere Arbeit für einen Monat ein, da wir keine Mög­lich­keit sahen, in einem sol­chen Moment [des Angriffs­krieges – Anm. der Redak­tion] Inhalte über Kultur zu ver­öf­fent­li­chen. Als dann klar wurde, dass der Krieg nicht enden würde, und andere oppo­si­tio­nelle Medien in Russ­land blo­ckiert wurden, beschlossen wir, dass es sehr wichtig war, unsere Arbeit wieder auf­zu­nehmen, um Anti­kriegs­po­si­tionen und eine unzen­sierte Dis­kus­sion der sich voll­zie­henden Situa­tion zu unterstützen.

Wir ver­fassten die fol­gende Erklä­rung. Wir haben zwar nicht alles umsetzen können, was wir uns vor­ge­nommen hatten, aber unsere redak­tio­nellen Richt­li­nien haben sich trotzdem stark ver­än­dert: Wir haben die Mode­ra­ti­ons­re­geln und die Kri­te­rien für die Auf­nahme von Texten auf die Start­seite ver­schärft (alle Texte, die die rus­si­sche Aggres­sion auf irgend­eine noch so sub­tile Weise ver­tei­digen, werden ohnehin blo­ckiert und gelöscht), wir haben unseren Schwer­punkt von kul­tu­rellen, künst­le­ri­schen und aka­de­mi­schen auf akti­vis­ti­sche und Frei­wil­li­gen­kol­lek­tive bzw. ihre Texte ver­la­gert, sind von einer rus­si­schen auf eine mehr­spra­chige Sei­ten­struktur umge­stiegen (obwohl wir damit schon vor dem Krieg begonnen hatten) und die gesamte Infra­struktur der Platt­form auf Eng­lisch umge­stellt. Wir haben auch damit begonnen, gezielt nicht-rus­sisch­spra­chige Autor:innen für unsere Platt­form zu gewinnen. Wir haben jetzt viele Texte auf Eng­lisch und Ukrai­nisch, es gibt Texte auf Deutsch, und bald werden wir eine ganze Text­samm­lung auf Usbe­kisch ver­öf­fent­li­chen. Es kann direkt auf der Start­seite auf die gewünschte Sprache umge­schaltet werden.

Kurz nachdem wir eine offene Anti­kriegs­hal­tung ein­ge­nommen hatten, wurden wir in Russ­land blo­ckiert – wir können dort aber wei­terhin über VPN gelesen werden.

Wie ich schon sagte, haben wir es uns zur Auf­gabe gemacht, akti­vis­ti­sche, ehren­amt­liche und gegen den Krieg ein­ge­stellte Gemein­schaften für die Platt­form zu gewinnen. Und auch wich­tige Über­set­zungen zu ver­öf­fent­li­chen, die diesen Krieg ana­ly­sieren. Ver­schie­dene Texte, die den Krieg ana­ly­sieren, können in zwei spe­zi­ellen redak­tio­nellen Samm­lungen gefunden werden: https://syg.ma/antiwar und https://syg.ma/antiwar2. Noch inter­es­sant, was Gemein­schaften anbe­langt: Der Femi­nis­ti­sche Anti­kriegs-Wider­stand (Femi­nist Anti-War Resis­tance) nutzt syg.ma als Haupt­platt­form zur Ver­öf­fent­li­chung seiner Texte, es gibt eine Text­samm­lung der media resis­tance group, Mate­rialen der Uni­ver­sity Plat­form und viele andere.

Die Umver­la­ge­rung des Schwer­punkts auf Anti­kriegs­in­itia­tiven bedeutet dagegen längst nicht, dass wir auf­ge­hört haben, zu anderen Themen zu ver­öf­fent­li­chen. Auch die Prä­sen­ta­tion von Lyrik, Film­kritik, Texte zu Kunst und Phi­lo­so­phie wird auf syg.ma flo­rieren wei­ter­ent­wi­ckelt und aus­ge­baut, und junge Autor*innen stellen ihre Video­ar­beiten auf der Platt­form vor.

 

„Als klar wurde, dass der Krieg nicht enden würde,
und andere oppo­si­tio­nelle Medien in Russ­land blo­ckiert wurden,
beschlossen wir, unsere Arbeit wieder aufzunehmen,
um Anti­kriegs­po­si­tionen und eine unzen­sierte Dis­kus­sion zu unterstützen“

 

novinki: Welche Bedeu­tung hat die inter­na­tio­nale Aus­rich­tung der Platt­form für Euch  – und wie wichtig ist es Euch, die Ver­bin­dung zu Kol­lek­tiven, die inner­halb Russ­lands starker Zensur aus­ge­setzt sind, auf­recht zu erhalten? Welche Ver­bin­dungen habt Ihr in die Ukraine?

К. K.: Die inter­na­tio­nale Aus­rich­tung ist uns sehr wichtig, weil wir Netz­werke der Soli­da­rität über natio­nalen Grenzen auf­bauen wollen. Wir wollen eine Platt­form sein, auf der sich Texte und Men­schen aus ver­schie­denen Län­dern und Kon­texten treffen, die aber dar­über hinaus gewisse gemein­same Werte teilen. Des­halb freuen wir uns beson­ders dar­über, dass wäh­rend des Krieges ver­schie­dene Autoren und Gemein­schaften aus der Ukraine, die auf Ukrai­nisch schreiben, zu syg.ma hin­zu­ge­stoßen sind. Einige von ihnen haben wir gezielt ange­spro­chen, andere kamen von sich aus. Es han­delt sich zumeist um Aktivist*innen und Forscher*innen mit linken Posi­tionen, was meiner Mei­nung nach nicht ver­wun­der­lich ist, da in linken Kreisen schon immer eine uni­ver­selle, inter­na­tio­nale Kom­po­nente betont wurde. Wir unter­halten auch Kon­takte zu Autor*innen aus Russ­land, von denen viele anonym oder unter Pseud­onym veröffentlichen.

Als Bei­spiel des zuvor Gesagten möchte ich die bei uns ver­öf­fent­lichten „Kriegs­ta­ge­bü­cher“ der ukrai­ni­schen Gen­der­for­scherin und Femi­nistin Irina Žereb­kina nennen.

 

novinki: Gibt es Daten, die mehr dar­über ver­raten könnten, wer syg.ma liest, wie groß Euer Publikum ist und wie viele feste/freie Autor*innen mit Euch zusammenarbeiten?

К. K.: In neun Jahren hat syg.ma etwa 25.000 Bei­träge ver­öf­fent­licht. In diesem Sinne können wir sagen, dass wir ein voll­wer­tiges Archiv des kul­tu­rellen und intel­lek­tu­ellen Lebens des letzten Jahr­zehnts in Russ­land sind. Pro Monat besu­chen zwi­schen 150.000 und 250.000 ein­zig­ar­tige Nutzer*innen die Web­site. Bedingte Auf­schlüs­se­lung nach Län­dern pro Monat: aus Russ­land 9000, aus der Ukraine 6000, aus Deutsch­land 4000, aus den USA 2500, aus Frank­reich 2000, aus Kasach­stan, Belarus, Geor­gien, Arme­nien je 1500 usw.

 

novinki: Welche Bedeu­tung haben Spenden für die Exis­tenz der Platt­form und ihrer Projekte?

К. K.: syg.ma wird weit­ge­hend ehren­amt­lich betrieben. Die meiste Zeit arbeiten wir unent­gelt­lich, in unserer Frei­zeit rea­li­sieren wir (oft mit dem gesamten Redak­ti­ons­team) bezahlte Pro­jekte nebenher, manchmal gewinnen wir für ein­zelne Pro­jekte För­der­mittel von Stif­tungen und Insti­tu­tionen – dann wird unsere Arbeit bezahlt.

In den letzten beiden Jahren vor dem großen Ein­marsch konnte die Redak­tion durch Spenden eine Person finan­zieren, die unsere sozialen Netz­werke betreute. Nach [Aus­wei­tung] des Krieges, als Über­wei­sungen aus Russ­land blo­ckiert wurden, ver­schwand diese Mög­lich­keit und die Zahl der Spenden ging stark zurück. Außerdem haben wir beschlossen, nicht mit rus­si­schen Insti­tu­tionen zusam­men­zu­ar­beiten, was unsere finan­zi­ellen Mittel eben­falls ein­schränkte. Nach Beginn der voll­um­fäng­li­chen Inva­sion halfen uns meh­rere euro­päi­sche Stif­tungen, einige große Son­der­pro­jekte umzu­setzen und unter­stützten damit uns und unsere Autor*innen. Diese sind nun beendet und es gibt nichts, was syg.ma momentan finan­zi­elle Unter­stüt­zung bringen würde. Wer ein inter­na­tio­nales Konto hat, kann uns über Patreon unterstützen.

 

novinki: Welche Aspekte schätzt Du an der Arbeit in der syg.ma-Redak­tion, welche Zweifel und Sorgen hast Du mög­li­cher­weise? Wie sieht die nähere Zukunft der Platt­form aus?

К. K.: syg.ma ist für mich ein sehr wich­tiges Pro­jekt, dem ich mich ethisch, theo­re­tisch und ideo­lo­gisch tief ver­bunden fühle. Am meisten schätze ich die Mög­lich­keit, mit einer großen Anzahl von mir sehr am Herzen lie­genden Initia­tiven zu kom­mu­ni­zieren – und dazu jeden Tag inter­es­sante Texte zu lesen, denn das ist buch­stäb­lich mein Job. Was Sorgen angeht, so kann es natür­lich sein, dass ich und der Rest des Teams aus ver­schie­denen Gründen irgend­wann nicht mehr genug Zeit und Energie für die not­wen­dige Betreuung und Aktua­li­sie­rung der Platt­form haben – wenn wir es nicht bewerk­stel­ligen, auf ihrer Grund­lage zumin­dest eine mini­male finan­zi­elle Sta­bi­lität zu erlangen.

In Zukunft wollen wir den Platt­form­cha­rakter der Seite noch stärker in den Mit­tel­punkt rücken, sodass die Com­mu­ni­ties unsere Platt­form unab­hängig vom Redak­ti­ons­be­trieb als ihre eigene Web­site nutzen können. So können sie ihre Samm­lungen indi­vi­duell gestalten (siehe zum Bei­spiel FAS oder Cosmic Bul­letin). Wir wün­schen uns natür­lich, dass noch mehr ver­schie­dene Spra­chen und Per­spek­tiven auf der Platt­form ver­treten sind; möchten, dass sich akti­vis­ti­sche Texte und ver­tiefte Ana­lysen und Recher­chen gegen­seitig ergänzen, indem sie tief­ge­hende Theorie und Praxis mit­ein­ander verbinden.

Außerdem haben wir vor kurzem eine große Aktua­li­sie­rung unseres Edi­tor­pro­gramms vor­ge­nommen und die Mög­lich­keit hin­zu­ge­fügt, noch visu­el­lere Bild­bei­träge zu erstellen. Wir haben die Navi­ga­tion und die Such­funk­tion der Platt­form ver­bes­sert. Ins­ge­samt denke ich, dass die Struktur unseres Pro­jekts bereits eta­bliert ist und gut funk­tio­niert. Mit einem relativ geringen per­so­nellen und zeit­li­chen Res­sour­cen­ver­brauch des Redak­ti­ons­teams wird die Platt­form wei­ter­be­trieben, ent­wi­ckelt und repro­du­ziert sich.

 

novinki: Wie ist die Redak­tion 2014 auf den Namen syg.ma gekommen?

K.K.: Das pas­sierte ziem­lich zufällig. Wir ori­en­tierten uns damals auf Ebene der Funk­tio­na­lität an medium.com, und eine der Grün­de­rinnen des Pro­jekts hatte die Idee, dass – da eine der Bedeu­tungen von ‚sigma‘ in der Mathe­matik ent­weder 200 oder 400 ist – dies als Erklä­rung dafür ver­wendet werden kann, dass jeder Platt­form­bei­trag eine Min­dest­an­zahl von Zei­chen haben wird (im Gegen­satz zu Twitter, wo es eine maxi­male Anzahl von Zei­chen gibt). Dann war da noch der Gedanke, dass ‚sigma‘ Summe bedeutet. Aber all das war schnell ver­gessen, als wir fest­stellten, dass allen Freunden, mit denen wir uns berieten, das Wort ein­fach gefiel.

 

novinki: Vielen Dank, dass Du Dir Zeit genommen hast, unsere Fragen zu beantworten!

 

Das Inter­view wurde von Elisabeth Bauer im Februar 2024 geführt.