Yevgenia Belorusets: A Cycle of Lectures on the Modern Lives of Animals

Yevgenia Belorusets dokumentiert gerade den Krieg in ihrem Kriegstagebuch von ihrer Heimatstadt Kyjiw aus. Vor einigen Monaten erschien ihr neues Buch „Modern Animal“. Für den novinki-Blog rezensiert Yelizaveta Landenberger dieses „intermediale literarische Kunstwerk“.

And still, animals cannot understand humans, they remain enigmas.

The human is enveloped in an impenetrable shroud of mystery and no matter what an animal does, it cannot get under it.

No matter how cunning the animal may be, it cannot conclusively decide what a human is and what distinguishes it from an animal: what humans lack entirely, what capacities are somewhat developed, and which ones are even developed to a phenomenal extent (i.e. the sense of smell). In humans, animals only see reflections of themselves mere reflections of their own qualities.

 

Dieser “Einführungsvorlesungstext” stammt aus dem zweiten Buch der ukrainischen Fotografin und Autorin Yevgenia Belorusets Tsikl lektsij o sovremennoj žizni životnych (zu Deutsch, vorläufiger Titel: Vorlesungen über das Leben der Tiere in der heutigen Zeit), ihr erstes Buch Sčastlivyje padenija (Ščaslyvi padinnja) aus dem Jahr 2018 erschien als Glückliche Fälle in deutscher Übersetzung von Claudia Dathe 2019 bei Matthes und Seitz. Aktuell befindet sich Yevgenia Belorusets in Kyjiw und schreibt von dort aus ihr Kriegstagebuch.

Modern Animal ist im vergangenen Sommer fast zeitgleich im russischen Original unter dem Titel Tsikl lektsij o sovremennoj žizni životnych beim Charkiwer Verlag IST Publishing und in englischer Übersetzung (von Bela Shayevich, redigiert von Val Vinokur) als Modern Animal. A Cycle of Lectures on the Modern Lives of Animals in leicht abgeänderter, gekürzter Version in der Reihe von Miniaturausgaben des amerikanischen Kleinverlags isolarii erschienen. Aktuell wird die deutsche Übersetzung vorbereitet – diese wird wieder eine neue, veränderte Fassung des Textes werden, der nicht einfach von Sprache zu Sprache übertragen wird, sondern dabei auch eine Evolution durchläuft. Freuen kann sich die zukünftige Leser*in der deutschen Version auf ein abwechslungsreiches Konvolut aus grotesken Erzählungen, die jede in ihrer je eigenen Form eine Reflexion zur Tier-Mensch- bzw. Mensch-Tier-Beziehung sowie der Möglichkeit der gegenseitigen Verständigung anstellt, eingebettet in den Kontext der vom langjährigen Krieg im Donbas geprägten Ukraine – bevor sich dieser jüngst in einen zerstörerischen Angriffskrieg auf das gesamte Land ausweitete. Wie schon der oben angeführte Ausschnitt aus der “Einführungsvorlesung” demonstriert, wird die klassische anthropozentrische Konzeption, in deren Mittelpunkt die hierarchische Beziehung zwischen Mensch und Tier mit dem Menschen als Krone der Schöpfung und Herrscher über die Natur steht, durch die vielen Perspektivwechsel des Buches in Frage gestellt. Die als eindeutig vorausgesetzte Trennlinie zwischen Mensch und Tier verschwimmt, wird aufgehoben. Die Textformen sind vielseitig, experimentell, basieren zumeist auf Interviews mit verschiedenen Ukrainer*innen mit diversen sozioökonomischen Hintergründen und Berufen. Darauf verweisen schon zum Teil die Gattungszusätze in den Überschriften der Texte, die den mündlichen Charakter des Materials verdeutlichen und von „On Going to the Café “ bis hin zu „The Beginning_ Entrance 2“, “A Priest’s Sermon to the Fish: The Fish Respond” – oder auch schlicht „Hippo-Rhinoceros“ reichen. Im Text selbst wird die Mündlichkeit durch einen skaz-Stil markiert, welcher die dokumentarische Dimension literarisch verankert. Ihre sehr spezielle, auf journalistischen Recherchetechniken basierende, literarisch-dokumentaristische Arbeitsweise legte Yevgenia Belorusets bereits bei ihrem ersten Buch Glückliche Fälle an den Tag. Das generelle anthropologische Interesse und ein spezielles Interesse an den Auswirkungen des Krieges im Donbas ist auch in ihren fotografischen Arbeiten präsent: Victories of the Defeated (2015/16), eine Serie bestehend aus insgesamt 150 fotografischen Aufnahmen von und Texten über Kohleminen-Arbeiter*innen im Donbas. Dieses anthropologische Interesse wird in Belorusets’ neuem Buch-Projekt durch ein “animalisches” Interesse bereichert; in kunstvoller Verschränkung entsteht ein absolut dehierarchisiertes Nebeneinander verschiedener Betrachtungsweisen – animalischer, menschlicher und allen voran uneindeutig hybrider. Vielleicht wäre es am treffendsten, von einem Interesse am Leben in seiner Vielfalt und seinem unendlichen Nuancenreichtum zu sprechen.

Modern Animal enthält allerdings nicht nur eine textuelle Ebene – Fotografien, die in Beziehung zu den Tier-Texten treten, eröffnen einen kaleidoskopischen Blick auf das Themenfeld „Leben der Tiere in der heutigen Zeit”. Das Fotomaterial bildet teilweise die (Spuren der) animalischen Protagonist*innen der Erzählungen ab bzw. zeigt, um welche Tiere es sich bei den Protagonist*innen überhaupt handeln könnte – dies ist aus den Texten selbst oft nicht eindeutig abzuleiten. An anderen Stellen wiederum scheinen die Fotografien nahezu willkürlich an dem jeweiligen Ort des Buches aufzutauchen; zur Mitte hin verdichtet sich die Bildebene, bis dann wieder der Text die Oberhand gewinnt. Die Geschichten muten mal spielerisch-absurd an, mal sind sie durchtränkt von (Kriegs-) Gewalt – zumeist handelt es sich jedoch um eine Vermischung beider Aspekte.

Mit der Tier-Thematik reiht sich Yevgenia Belorusets‘ Buch in verschiedene Kontexte ein. Zum einen wäre da die alte philosophisch-anthropologische Tradition rund um die erstmals von Aristoteles formulierte Frage „Was ist der Mensch?“. Das Tier dient dabei als Abgrenzungsfolie, als „das Andere“. Mit ihren hybriden Mensch-Tier-Gestalten hebt die Autorin die hartnäckige Anthropozentrik dieser Tradition und ihre fatale Asymmetrie auf: In vielfachen Schattierungen ermöglicht Modern Animal Perspektiven vom Standpunkt des Tieres, des Opfers der menschlichen Willkür in allen ihren Formen.

Als nächstes könnte man an die russische bzw. ukrainische literarische Tradition denken: Schon bei Gogol‘ findet sich die Tierthematik im Zusammenhang mit „dem Wahnsinn“ – der Wahnsinn eines seiner Protagonisten beginnt in Erscheinung zu treten, als er zwei Hunde bei ihrer Konversation belauscht. Später stellt sich heraus, dass die Hunde nicht nur sprechen, sondern auch Briefe schreiben können. Bei Yevgenia Belorusets dagegen gibt es einen dokumentarischen Text über eine Taube, die, mit einem kleinen Rucksack ausgestattet, Drogen in einem Kyjiwer Gefängnis dealt; Wahnsinn und Realität verschwimmen.

Und dann wäre da noch der sowjetische Kontext – das Tier als bloße Ressource. Maxim Gorkijs Rede auf dem Allunionskongress zur sowjetischen Literatur 1934 beginnt mit dem Satz: „Die Rolle des Arbeitsprozesses, die das aufrecht gehende Tier in einen Menschen verwandelt und die Grundprinzipien der Kultur geschaffen haben, ist noch niemals so allseitig und tief erforscht worden, wie sie es verdient hätte.“ Auch hier dient das Tier als Abgrenzungsfolie – und es kommt bei der Lektüre von Modern Animal die Frage auf, was sich im post-sowjetischen Raum, spezifisch in der unabhängigen Ukraine, verändert hat. Sind alte Denkmuster nicht beibehalten, oder vielmehr intensiviert worden? Und was hat der langjährige Krieg im Osten der Ukraine verändert? Ganz speziell um diese Frage kreist das Text- und Bildmosaik, wenn im Zuge der Besatzung einer Stadt im Donbas entlaufene Schweine beschrieben werden, die eigentlich darauf gewartet haben, zu Fleisch verarbeitet zu werden, denen der Krieg aber, für einen kurzen Augenblick, eine unerwartete Freiheit verschafft hat:

 

The city slowly filled with smoke, it got scary to walk through the streets, there were various rumors, and many of them were confirmed. They said the invasion forces had landed, there was shooting from the sky, they were going to flood our mine. […]

They shut off the power in our neighborhood. There was no more running water. We lived next to a hog farm, but there was no feed left so they opened the gates and the pigs ran out into the city – some of them into the wild, some of them tried to get people to take them into their homes. […]

The shooting continued. Our neighbors organized a neighborhood-wide pig hunt. And while I was weeping, while I was trying to make at least one other person on my block see reason, just in my residential complex, they were grilling kebabs, sticking the pigs, an undying squealing filled the air, as though they were killing dozens of people, all around there was shouting, wailing, bickering, rage, sweat – they rolled up their sleeves and got to work.

That’s how our city was conquered. But who conquered it?

Military vehicles arrived, men jumped down from them, and I saw their embarrassed smiles, white skin, disobedient cowlicks, I heard unfamiliar accents – and I remember the thoroughly youthful faces of the soldiers looking around in astonishment.

 

Ein Text, der nun auf dem gesamten Territorium der Ukraine und nicht mehr nur im Donbas aktuell ist. Modern Animal ist in der Gegenwart der Ukraine vor dem 24. Februar 2022  situiert, der Krieg im Donbas und die durch ihn entfesselte Gewalt sind stets präsent. Dies wird gerade in (vermeintlichen) Alltagsszenen deutlich. Im aktuellen Kriegsgeschehen wird in Social Media immer wieder veranschaulicht, wie sehr auch Tiere unter dem russischen Angriff leiden und ebenso wie Menschen um ihr Leben fürchten, in Luftschutzbunker mitgenommen werden und zusammen mit ihren Herrchen bzw. Frauchen die Flucht ergreifen. Der Angriffskrieg offenbart eine Solidarität zwischen Menschen und (ihren) Tieren, die stärker denn je erscheint.

Neben dem Krieg im Donbas wird zeitlich unbestimmtes „skurriles” Material in den Texten verarbeitet, verschiedene temporale Schichten übereinandergelagert. Die Leser*in erfährt von einem Café in Kyjiw, das einen Tiger im Keller hält – entsprechend ist auch die Tasse Kaffee satte zehnmal teurer als anderswo. Belorusets‘ Texte befinden sich stets in der Schwebe, sind irgendwo zwischen wilder Phantasie und Dokumentation angesiedelt – wobei die Grenze alles andere als klar ist: Katzencafés gibt es bereits, wie weit ist da eigentlich noch der Sprung hin zu Tigercafés? Dann liest die Leser*in ein ziemlich realistisch anmutendes Interview mit der namenlosen Zuschauerin eines Dokumentarfils: Sie schaut den Film auf Deutsch, um ihre Sprachfähigkeiten zu verbessern. Es geht um die Wölfin Migetti, die als einzige im Rudel eine Hundepest überlebt:

Oftentimes, we don’t feel anything, even when major tragedies strike. We see earthquakes, explosions, wars, but we can avoid thinking about these narratives as though we’re walking down a separate road. But here, it all happened differently. She still haunts me.

 

Tiere erwecken Mitleid, darauf weist der Philosoph Emmanuel Levinas hin. Bei Belorusets  wird über das Team der Tierrettung Kyjiw, die Kyiv Animal Rescue Group, berichtet, das rund um die Uhr im Einsatz ist, um Tieren in Not zu helfen, bevor es zu spät ist. Aber offenbar sind nicht alle Menschen zu Mitleid fähig. Man liest nämlich auch von Menschen, die Hunde vergiften. Man liest von Kindern, die Kater von der Müllhalde und vor der Gewalt der anderen Kinder retten:

Cats in our city didn’t used to have very good lives. I’m an adult now, but I’m still scared of the teens that act like little kids. It’s painful to describe the kinds of things that people do to animals in our town and, what’s more, are still doing. […]

Lots of different kids lived in our neighborhood.

Some of them were the type of kids who stuffed cats into three-liter jars.

We were playing in the courtyard when all of sudden a jar comes flying. We didn’t know that there was a cat inside yet, just a jar flying down from the roof.

 

Nicht zuletzt spielt Klang für Modern Animal eine wichtige Rolle, was am deutlichsten in der rhythmischen, mit Wiederholungen operierenden Ausarbeitung der These „An Animal Has No Fate“ zu Tage tritt, welche, wie viele der Texte des Buchs, zudem einen eklatanten ironischen Unterton hat. Diese Ironie vermischt sich mit dem bereits erwähnten skurril-mythischen Material, wenn im Buch eines der zahlreichen Mensch-Tier-Hybride, ein Huhn, das nicht bloß Huhn, sondern zugleich die Reinkarnation der Seele einer verstorbenen Frau ist, auftritt. Es stirbt einen doppelten Tod – schließlich hat es zwei Seelen, eine menschliche und eine Hühner-Seele. So hält auch der weibliche Tod beim Ableben des Geschöpfes selbstverständlich zwei separate Säcke für die beiden Seelen bereit.

Bei der Lektüre des Buches wird klar: Der Umgang des Menschen mit den Tieren in seiner Umgebung verrät ihn. Und Yevgenia Belorusets demonstriert, dass intermediale literarische Kunstwerke, wie auch ihr Buch eines ist, Sachverhalte reflektieren können, die gewöhnliche Sprache nicht zu erfassen imstande ist. Entsprechend kann auch eine diesem Buch angemessene Rezension nur mit einer Umkreisung desselbigen und mit Textauszügen arbeiten – und schließlich mit dem Appell an die Leser*in, das Buch selbst in die Hand zu nehmen – und zu erleben.

Bildquelle: © Yelizaveta Landenberger, 2022. Yevgenia Belorusets spricht per Video-Liveschalte auf einer Solidaritätsveranstaltung zum Ukrainekrieg am Berliner Bebelplatz am 6. März 2022.

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