Gespräch über Schnee. Eine Einleitung.

Russland ist ohne Schnee und Schneestürme undenkbar: der lange Winter, riesige weisse Flächen, Schneestürme und viele verschiedene Schneesturmwörter: метель, буран, вьюга, пурга, снежная буря unterscheiden die Stärke des Sturmes und die Richtungen der Verwirbelung.
Die russische Literatur hat den Schnee und den Schneesturm nicht nur beschrieben, sondern ganze Schneesturmnarrative und -metaphoriken entwickelt, die sich im Laufe der Zeit immer wieder verändert haben. In der russischen Romantik, bei Petr Vjazemskij und Aleksandr Puškin ist das Aufkommen eines Schneesturms meist mit der Leidenschaftlichkeit der Liebe und dem unsicheren Schicksal der Protagonisten verknüpft. Schneesturm beschreibt das Chaos, eine Störung, in Puškins Erzählung Schneesturm (Metel’ 1830) die Unterbrechung einer Fahrt, eines biographischen Weges, die ganz am Ende der Erzählung, wie in einem Schneesturm, noch einmal umgedreht wird. Der Schneesturm unterbricht das Gewohnte, wirbelt es umher, stellt die Protagonisten vor eine Wahl, bringt sie in eine kontingente Situation. Man könnte den Schneesturm mit Bachtin in der Romantik als einen Chronotopos des verwirbelten, unterbrochenen Weges lesen.
In Tolstojs Schneesturm (Metel’ 1856) wird dann viel stärker auf den Schneesturm als aisthetisches Experiment, als Wahrnehmungsexperiment angespielt. Tolstoj stellt die sinnesphysiologische Störung, die durch den Schneesturm hervorgerufen wird, in den Vordergrund. Der Protagonist kann sich auf seinen Sehsinn nicht mehr verlassen, er ist blind, seine Umwelt nimmt er nur noch durch Geräusche und andere Sinneseindrücke wahr. Schliesslich beginnt er zu träumen und zu halluzinieren. Man könnte sagen, dass Tolstoj mit dem Schneesturm so etwas wie eine Urszene des Literarischen erschafft. Die Blindheit im Schneesturm, das Whiteout, wird durch das Sehen der Einbildungskraft ersetzt, das Weisse ringsherum erscheint als weisse Seite, die durch die Erzählung beschriftet wird. Als Whiteout bezeichnet man das Phänomen der Derealisierung durch Schnee (Blendung) oder durch Schneesturm (Verlust der Verlässlichkeit des Sehsinns).
Zwei weitere Schneesturmkonzepte kommen bei Aleksandr Blok hinzu, eine davon unterstreicht die Idee des Schreibens auf dem weissen Papier. Blok verbindet in Schneemaske (Snežnaja maska, 1906/07) die Verwirbelung beim Schneesturm mit dem Weben des Textes: «вить, взвиться, вяз» als Flechten, d.h. als Bezeichnung für die Produktion des Textes; «вить, виться» als Wirbeln des Schnees. Die Verwirbelung geht bei Blok bis auf die Wortebene, die Buchstaben werden in Anagrammen regelrecht durchgewirbelt. Jurij Tynjanov nennt Bloks Schreibweise deshalb auch einen „stilistischen Schneesturm“.
Eine andere, vor allem im frühen 20. Jahrhundert strapazierte Metaphorisierung des Schneesturms beginnt ebenfalls bei Blok, in Bloks Die Zwölf (Dvenadcat’, 1917/18). Dort wird der Schneesturm mit der Revolution assoziiert. Revolution erscheint als ein Moment des absoluten Jetzt: Die Vergangenheit zählt nicht mehr, die Zukunft ist völlig offen, Geschichte wird von Kontingenz bestimmt. Man könnte das mit Lotmans Begriff der „Explosion“ beschreiben. Explosion wird bei Lotman definiert als Ereignis, als ein „Moment der Unvorhersagbarkeit“, in dem „sich die Weichenstellung für die Zukunft als Zufall realisiert“. Oder aber mit Gilles Deleuze‘ Vorstellung vom „glatten Raum“, dem man ausgeliefert ist, den man nicht überblicken kann und der deshalb jeden einzelnen in die Nahsichtigkeit zwingt.
Die Anspielungen auf Schneesturm und Revolution bzw. Bürgerkrieg finden sich auch in Bulgakovs Schneesturm (V’juga, 1926), Bulgakovs Weisser Garde (Belaja Gvardija, 1924) Pilnjaks Drama Schneesturm (Metel’, 1922), seinem Roman Nacktes Jahr (Golyj god, 1920) und seiner Erzählung Vor der Tür (Pri dverjach, 1920) und Pasternaks Doktor Živago (1954). Bei Pil’njak heisst es: „Hörst du, wie die Revolution heult – wie eine Hexe im Schneesturm!“ („Слышишь, как революция воет — как ведьма в метель!“)

Die Politisierung des Schneesturmtextes wird weitergeführt mit Nikolaj Zabolockijs Gedicht Ottepel’(Tauwetter), geschrieben 1948, veröffentlicht 1953 kurz nach Stalins Tod. Die erste Zeile: „Ottepel’ posle meteli“ („Tauwetter nach dem Schneesturm“) wird fortan als politische Allusion auf die Stalinzeit gelesen, obwohl Zabolockij das Ende seines Schneesturms bereits 1948, nach der Entlassung aus dem Lager gekommen sah. Die politische Metaphorisierung des Schneesturms wird in der ganzen Tauwetterzeit fortgesetzt. Als schliesslich Bella Achmadulinas Gedichtzyklus (Metel’, 1965) erscheint, zu einem Zeitpunkt, als das Tauwetter auch politisch wieder beendet wird, kann man die eigentlich apolitischen Gedichte ohne die potentielle politische Semantik kaum noch lesen. Auch nach 1990, in den Gesprächen zwischen Boris Groys und Ilya Kabakov, taucht der Schneesturm im Rückblick als Metapher für die Stalinzeit auf: „Die Sowjetmacht wurde hingenommen wie ein Schneesturm, wie eine Klimakatastrophe“.

Dabei gab es gerade im sowjetischen Underground, im Moskauer Konzeptualismus, ein entpolitisiertes Interesse für Schnee und Schneesturm, das viel eher an Tolstoj oder auch an Kasimir Malevičs weisse suprematistische Quadrate anschliesst. Andrej Monastyrskij hat einmal in einem Gespräch mit Sabine Hänsgen gesagt, dass Schneefelder schon immer ungewöhnlich auf ihn gewirkt hätten. Dort spüre man „einen Mangel des Anfangs, das ständige Novum, eine offene Möglichkeit“. Daher stamme, so Monastyrskij weiter, „anscheinend auch die Liebe zur weißen leeren Fläche von Kabakov, die Liebe zu Heidegger mit seinen Möglichkeiten“ (Hänsgen/Monastyrskij 1999). Als Prätexte dienten den Konzeptualisten allerdings weniger die vielen russischen Schneetexte, sondern Thomas Manns Zauberberg (der lange Skiausflug Hans Castorps im Schnee) oder alte chinesische Romane, die Reise in den Westen und einzelne Episoden aus Der Traum der roten Kammer, wo zwei Mönche über das Schneefeld verschleppt werden.

Dass es mit dem Fahren durch den Schneesturm in der russischen Literatur kein Ende nehmen wird, hat schon der Schneesturm als Figur bei Bulgakov gewusst. In der gleichnamigen Erzählung antwortet er auf die Ablehnung des Protagonisten, jemals wieder bei einem Schneesturm loszufahren: „Du fährst, und ob du fährst“.
Den vorerst letzten Schneesturmtext hat Vladimir Sorokin 2009 veröffentlicht. Es ist ein typischer Sorokin, ein Roman, der fast die gesamte russische Schneesturmliteratur latent, manchmal auch konkret andeutet und dennoch gegen diese aufbegehrt. In keinem der bisherigen Schneesturmtexte wurde der Weg so häufig verweht, verloren und wiedergefunden, in keinem der bisherigen Texte wird der Schneesturmtext und seine literarischen Möglichkeiten so deutlich parodiert.
Novinki führte mit Vladimir Sorokin ein Gespräch über seinen Metel’ und den Schneesturmtext der russischen Literatur.

von Sylvia Sasse

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