Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Tappen in der Dun­kel­kammer – die Ent­wick­lung eines Fotos

Erin­ne­rungen können vieles frei­setzen. Wenn sich Men­schen intensiv mit ihnen beschäf­tigen, kann das berei­chernd sein, aber auch ver­nich­tend wirken. In „Sear­ching for Tereska“ wird beides deut­lich. Der Doku­men­tar­film zeigt die Suche nach dem Mäd­chen auf einem welt­be­rühmten Foto aus der Nach­kriegs­zeit in Polen. Abge­sehen davon, dass es 1948 von David Sey­mour auf­ge­nommen wurde, wusste man lange nicht viel über die Geschichte dahinter. Die Nach­for­schungen führen in die ver­schie­densten Ecken Warschaus.

 

Man ist erst nicht sicher, ob der Anfang des Filmes noch zum Vor­spann gehört oder bereits die ein­lei­tende Szene dar­stellt: Es ist ein Kame­raflug über War­schau am Abend; eine Frau, die sich eben zum Los­gehen fertig gemacht hat, die Mutter ruft an, „Nein, es ist kein Date, bis dann“. Cut. Dann wird es klarer, sie betritt ein Restau­rant, dessen Fenster sich hell gegen den Abend­himmel abzeichnen – und trifft dort auf Patryk Graże­wicz. Er ist ein junger, rot­haa­riger Mann, der sich für vieles inter­es­siert. In der letzten Zeit wurde seine Neu­gierde für ein altes Foto von einem Mäd­chen namens Tereska geweckt. Man weiß nur, dass sie nach dem Zweiten Welt­krieg eines von vielen trau­ma­ti­sierten Kin­dern war, die in War­schau lebten. Die beiden kommen schnell ins Gespräch. Er bittet sie, ihm bei Suche nach der Geschichte hinter dem Bild zu helfen. Aneta Wawr­zyńczak, so heißt die Frau, ist pol­ni­sche Jour­na­listin und sie wil­ligt ein, gemeinsam mit ihm auf Spu­ren­suche zu gehen. Sie beginnen in den vor Hitze flir­renden Straßen War­schaus und den dagegen erfri­schend wir­kenden, dunklen Archiven der Stadt, etwas über ein Kind her­aus­zu­finden, das hier vor über 70 Jahren gelebt hat. Der 2019 gedrehte Doku­men­tar­film Szu­kając Tereski (Sear­ching for Tereska), der in der Sek­tion „Close Up WWII“ des Film­fes­ti­vals Cottbus 2020 zu sehen war, beginnt mit diesem Treffen, dem noch viele wei­tere folgen werden. Die beiden jungen Men­schen werden im Laufe der Recherche von der Regis­seurin Kama Vey­mont begleitet. Einige Szenen sind im Moment auf­ge­nommen, andere, wie die vom ersten Treffen, wurden nach­ge­stellt. Oft ist man nah dran an Aneta, die auf­merksam zuhört und bald ganz gefangen ist von den Ent­de­ckungen. Patryk tele­fo­niert und recher­chiert, was das Zeug hält. Sie ver­folgen gleich­zeitig unter­schied­liche Spuren und kommen zusammen, wenn eine_r etwas her­aus­ge­funden hat. Sie sind im heu­tigen War­schau unter­wegs, wo junge Men­schen ent­spannt an der Weichsel ver­weilen. Es steht in scheinbar unüber­wind­barem Kon­trast zu dem Schicksal des Mäd­chens, das unter der Beset­zung Polens zu leiden hatte.

 

Film­ti­tel­bild “Sear­ching for Tereska”, Nach­stel­lung von David Seay­mours Bild von Tereska, 1948 in Polen

Das besagte Foto wurde von David Sey­mour, einem US-ame­ri­ka­ni­schen Foto­re­porter auf­ge­nommen. Er por­trä­tierte Kinder im Polen der Nach­kriegs­zeit. So auch Tereska. Das Bild erschien erst­mals 1948 im ame­ri­ka­ni­schen LIFE-Magazin und ging fortan um die Welt. Es zeigt ein Mäd­chen vor einer Tafel. In der oberen Ecke ist ihr Name zu sehen. Sie hat wild durch­ein­ander gehende Stricke und Kreise mit Kreide gemalt, denn sie war gebeten worden, ihr Zuhause zu malen. Ihr Blick gibt eine Ver­wun­dung frei, wirkt erschro­cken und trotzig, gar wütend. Die pol­ni­sche Haupt­stadt war kurz nach dem Krieg bei­nahe kom­plett zer­stört. Ein Zuhause oder ein intaktes Haus waren für Tereska somit keine Selbst­ver­ständ­lich­keit und die Auf­gabe rief ver­mut­lich schlimme Erin­ne­rungen hervor. Wer ihr Bild damals sah, erfuhr nicht viel von ihr, aber ihr Trauma stand stell­ver­tre­tend für viele Kinder aus jener Zeit.

 

Am Anfang ihrer Suche und am Anfang des Films kennen auch Aneta, Patryk und die Zuschauer_innen weder ihren Nach­namen noch ihr Alter, sie wissen auch nicht, ob sie noch lebt. Die beiden gehen allen Hin­weisen in und um War­schau nach. Dabei fangen sie am His­to­ri­schen Institut War­schaus an, wo man ihnen sagt, dass so eine Suche ganz anders sein kann, als sie es erwar­teten. Was sie suchten, könne sich ver­än­dern und es könne auch sein, dass sie statt­dessen meh­rere Per­sonen finden würden. Doch sie gehen weiter, treffen Über­le­bende und deren Enkel, finden Orte, wei­tere Bilder und Videos. Sie schlagen viel­ver­spre­chende Wege ein, haben span­nende Gespräche und glauben schließ­lich, Tereska gefunden zu haben, nur um plötz­lich fest­zu­stellen, dass sie es doch nicht sein kann. Bald ver­mutet man als Zuschauer_in, dass man sich damit zufrie­den­geben muss, in Tereska die Stell­ver­tre­terin für Mil­lionen Men­schen, die unter der Nazi-Dik­tatur litten, zu sehen und über ihre indi­vi­du­elle Bio­gra­phie nichts erfahren zu können.

 

Doch dann wird das Bild plötz­lich schärfer: Eine Schul­lei­terin hat eine ret­tende Idee, aber das Warten beginnt von Neuem. Es ist, als ob sich der Pro­zess des Foto­gra­fie­rens immer wieder von Neuem voll­ziehen würde. Die Kamera nähert sich einem Motiv, fokus­siert, und löst aus. Dann muss das Bild ent­wi­ckelt werden und es zeigt sich, was daraus geworden ist und ob die Farben passen, es der rich­tige Ort war. Viele sol­cher gedank­li­chen Bilder und Vor­stel­lungen von Geschichten ent­stehen im Laufe der Doku­men­ta­tion. Sie werden zwar zur Seite gelegt, wenn sie nicht mit Tereska über­ein­stimmen, aber sie werden nicht ver­gessen und formen ins­ge­samt eine Col­lage, die sich der Wahr­heit immer mehr annähert.

 

So wird zum Bei­spiel die Begeg­nung mit einer wei­teren Frau namens Tereska gezeigt, die in einem Wai­sen­haus für jüdi­sche Kinder gelebt hat. Die Orga­ni­sa­tion „Kinder des Holo­causts“ iden­ti­fi­ziert sie in einem Video, da sie dem Mäd­chen auf dem Bild ähnelt. Aneta Wawr­zyńczak und Patryk Graże­wicz treffen sie und hören ihre bewe­gende und schreck­liche Geschichte, über die sie sonst selten spricht. Als sie ihr das besagte Bild zeigen, erkennt sie sich aber darin nicht wieder. Den­noch könnte es genauso gut ihr Fall sein, den Aneta und Patryk suchen.

 

Aneta und Patryk gehen weiter. Tereskas Geschichte scheint sich zuse­hends mit den Ereig­nissen des War­schauer Auf­stands 1944 zu ver­knüpfen. Im Film wird das durch Aus­schnitte aus Archiv­ma­te­rial deut­lich, auf dem Men­schen­massen durch die Straßen ziehen, offen­sicht­lich auf der Flucht vor der Zer­stö­rungswut und der Gewalt der deut­schen Besatzer. In jenem Jahr wurden 90% der Gebäude War­schaus zer­stört, 150.000 – 200.000 Men­schen starben. Nach 63 Tagen waren zwar die offi­zi­ellen Kämpfe der Besatzer gegen die pol­ni­sche Bevöl­ke­rung vorbei, aber Tereska würden sie noch ein Leben lang begleiten. Eine schwere Ver­let­zung am Kopf, die sie sich in diesen Tagen zuzog, und die Erin­ne­rung an die schreck­li­chen Ereig­nisse prägten sie unwiderruflich.

 

Auf den Bil­dern des Foto­grafen David Sey­mour sind noch Reste von sol­chen zer­störten Gebäuden zu sehen. Eines davon ist Tereskas Schule. Aneta und Patryk ver­su­chen, das Gebäude mit Hilfe der Orga­ni­sa­tion „Wars­zawska Iden­ty­fi­kacja“ zu finden und haben end­lich Erfolg. Die prä­zise Ana­lyse der Bilder, die den dama­ligen Weg des Foto­grafen durch die Stadt frei­legen, ermög­licht einen räum­li­chen Nach­vollzug, ver­bindet die Ver­gan­gen­heit untrennbar mit der Gegen­wart. Durch den Blick auf die Archi­tektur War­schaus wird greif­barer, was Mitte des 20. Jahr­hun­derts geschehen ist. Die Doku­men­ta­tion zeigt über die frag­men­ta­ri­sche Frei­le­gung des Lebens des Mäd­chens, wie sehr das Ver­gan­gene noch in die Gegen­wart hin­ein­reicht. Für sie war der War­schauer Auf­stand und die Zer­stö­rung ihres Hauses, die dar­auf­fol­gende Flucht und das Leid, das sie in jüngsten Jahren erfahren hat, nicht zu ver­ar­beiten. Bei einem Treffen mit den über­le­benden Fami­li­en­mit­glie­dern von Tereska erfahren Aneta und Patryk, dass sie ihr Leben lang in einer psych­ia­tri­schen Ein­rich­tung in der Nähe von War­schau lebte und sehr jung verstarb.

 

Die Ver­knüp­fung von Aktua­lität und der Geschichte des 20. Jahr­hun­derts wird fil­misch durch eine Kom­bi­na­tion aus Archiv­ma­te­rial, nach­ge­stellten Szenen und den Momenten, in denen Aneta und Patryk sich in War­schau bewegen, erreicht. Die Ver­bin­dung von Damals mit dem Hier und Heute ist unüber­sehbar, wenn die beiden mit Freunden zusammen am Abend über­legen, welche von den gefun­denen Tereskas wohl die gesuchte sein könnte. Die Bru­ta­lität ver­schmilzt dort mit der Nor­ma­lität des All­tags und der Neu­gier, mehr zu erfahren über das bewe­gende Bild. Die Szenen können irri­tieren, weil sie mit elek­tro­ni­scher Pop-Musik unter­malt sind und eher zu einem Image­film für die pol­ni­sche Haupt­stadt zu passen scheinen. Die Produzent_innen wollten ver­mut­lich Nach­voll­zieh­bar­keit schaffen und zeigen, in wel­cher Rea­lität der Film gedreht wurde: Es war Sommer, es war heiß und obwohl die die Orte teil­weise noch bestehen, Fami­li­en­ge­schichten wei­ter­ge­schrieben werden und die Erin­ne­rung an die Nie­der­schla­gung des War­schauer Auf­standes noch nicht ver­blasst ist, hat sich auch vieles verändert.

 

Was der Film schafft, ist die Geschichte zu ent­mys­ti­fi­zieren, indem man das Mäd­chen auf dem Bild all­mäh­lich ken­nen­lernt. Die Kon­turen von Tereskas Leben, das anfäng­lich stell­ver­tre­tend für die Leben vieler anderer stand, werden klarer. In der dunklen Kammer eines Kinos ent­wi­ckelt sich das Foto. Nach 60 Minuten tritt man dann als Zuschauer_in hinaus und kann ein paar der gemalten Linien entwirren.

 

Vey­mont, Kama: Szu­kając Tereski (Sear­ching for Tereska). Polen, 2019, 60 Min.

 

Wei­ter­füh­rende Links:

Das ursprüng­liche Terezka-Bild ist auf der Seite der Terezka-Stif­tung (https://www.tereska.de/en/about/tereska/) zu sehen.