Tappen in der Dunkelkammer – die Entwicklung eines Fotos

Erinnerungen können vieles freisetzen. Wenn sich Menschen intensiv mit ihnen beschäftigen, kann das bereichernd sein, aber auch vernichtend wirken. In „Searching for Tereska“ wird beides deutlich. Der Dokumentarfilm zeigt die Suche nach dem Mädchen auf einem weltberühmten Foto aus der Nachkriegszeit in Polen. Abgesehen davon, dass es 1948 von David Seymour aufgenommen wurde, wusste man lange nicht viel über die Geschichte dahinter. Die Nachforschungen führen in die verschiedensten Ecken Warschaus.

 

Man ist erst nicht sicher, ob der Anfang des Filmes noch zum Vorspann gehört oder bereits die einleitende Szene darstellt: Es ist ein Kameraflug über Warschau am Abend; eine Frau, die sich eben zum Losgehen fertig gemacht hat, die Mutter ruft an, „Nein, es ist kein Date, bis dann“. Cut. Dann wird es klarer, sie betritt ein Restaurant, dessen Fenster sich hell gegen den Abendhimmel abzeichnen – und trifft dort auf Patryk Grażewicz. Er ist ein junger, rothaariger Mann, der sich für vieles interessiert. In der letzten Zeit wurde seine Neugierde für ein altes Foto von einem Mädchen namens Tereska geweckt. Man weiß nur, dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg eines von vielen traumatisierten Kindern war, die in Warschau lebten. Die beiden kommen schnell ins Gespräch. Er bittet sie, ihm bei Suche nach der Geschichte hinter dem Bild zu helfen. Aneta Wawrzyńczak, so heißt die Frau, ist polnische Journalistin und sie willigt ein, gemeinsam mit ihm auf Spurensuche zu gehen. Sie beginnen in den vor Hitze flirrenden Straßen Warschaus und den dagegen erfrischend wirkenden, dunklen Archiven der Stadt, etwas über ein Kind herauszufinden, das hier vor über 70 Jahren gelebt hat. Der 2019 gedrehte Dokumentarfilm Szukając Tereski (Searching for Tereska), der in der Sektion „Close Up WWII“ des Filmfestivals Cottbus 2020 zu sehen war, beginnt mit diesem Treffen, dem noch viele weitere folgen werden. Die beiden jungen Menschen werden im Laufe der Recherche von der Regisseurin Kama Veymont begleitet. Einige Szenen sind im Moment aufgenommen, andere, wie die vom ersten Treffen, wurden nachgestellt. Oft ist man nah dran an Aneta, die aufmerksam zuhört und bald ganz gefangen ist von den Entdeckungen. Patryk telefoniert und recherchiert, was das Zeug hält. Sie verfolgen gleichzeitig unterschiedliche Spuren und kommen zusammen, wenn eine_r etwas herausgefunden hat. Sie sind im heutigen Warschau unterwegs, wo junge Menschen entspannt an der Weichsel verweilen. Es steht in scheinbar unüberwindbarem Kontrast zu dem Schicksal des Mädchens, das unter der Besetzung Polens zu leiden hatte.

 

Filmtitelbild „Searching for Tereska“, Nachstellung von David Seaymours Bild von Tereska, 1948 in Polen

Das besagte Foto wurde von David Seymour, einem US-amerikanischen Fotoreporter aufgenommen. Er porträtierte Kinder im Polen der Nachkriegszeit. So auch Tereska. Das Bild erschien erstmals 1948 im amerikanischen LIFE-Magazin und ging fortan um die Welt. Es zeigt ein Mädchen vor einer Tafel. In der oberen Ecke ist ihr Name zu sehen. Sie hat wild durcheinander gehende Stricke und Kreise mit Kreide gemalt, denn sie war gebeten worden, ihr Zuhause zu malen. Ihr Blick gibt eine Verwundung frei, wirkt erschrocken und trotzig, gar wütend. Die polnische Hauptstadt war kurz nach dem Krieg beinahe komplett zerstört. Ein Zuhause oder ein intaktes Haus waren für Tereska somit keine Selbstverständlichkeit und die Aufgabe rief vermutlich schlimme Erinnerungen hervor. Wer ihr Bild damals sah, erfuhr nicht viel von ihr, aber ihr Trauma stand stellvertretend für viele Kinder aus jener Zeit.

 

Am Anfang ihrer Suche und am Anfang des Films kennen auch Aneta, Patryk und die Zuschauer_innen weder ihren Nachnamen noch ihr Alter, sie wissen auch nicht, ob sie noch lebt. Die beiden gehen allen Hinweisen in und um Warschau nach. Dabei fangen sie am Historischen Institut Warschaus an, wo man ihnen sagt, dass so eine Suche ganz anders sein kann, als sie es erwarteten. Was sie suchten, könne sich verändern und es könne auch sein, dass sie stattdessen mehrere Personen finden würden. Doch sie gehen weiter, treffen Überlebende und deren Enkel, finden Orte, weitere Bilder und Videos. Sie schlagen vielversprechende Wege ein, haben spannende Gespräche und glauben schließlich, Tereska gefunden zu haben, nur um plötzlich festzustellen, dass sie es doch nicht sein kann. Bald vermutet man als Zuschauer_in, dass man sich damit zufriedengeben muss, in Tereska die Stellvertreterin für Millionen Menschen, die unter der Nazi-Diktatur litten, zu sehen und über ihre individuelle Biographie nichts erfahren zu können.

 

Doch dann wird das Bild plötzlich schärfer: Eine Schulleiterin hat eine rettende Idee, aber das Warten beginnt von Neuem. Es ist, als ob sich der Prozess des Fotografierens immer wieder von Neuem vollziehen würde. Die Kamera nähert sich einem Motiv, fokussiert, und löst aus. Dann muss das Bild entwickelt werden und es zeigt sich, was daraus geworden ist und ob die Farben passen, es der richtige Ort war. Viele solcher gedanklichen Bilder und Vorstellungen von Geschichten entstehen im Laufe der Dokumentation. Sie werden zwar zur Seite gelegt, wenn sie nicht mit Tereska übereinstimmen, aber sie werden nicht vergessen und formen insgesamt eine Collage, die sich der Wahrheit immer mehr annähert.

 

So wird zum Beispiel die Begegnung mit einer weiteren Frau namens Tereska gezeigt, die in einem Waisenhaus für jüdische Kinder gelebt hat. Die Organisation „Kinder des Holocausts“ identifiziert sie in einem Video, da sie dem Mädchen auf dem Bild ähnelt. Aneta Wawrzyńczak und Patryk Grażewicz treffen sie und hören ihre bewegende und schreckliche Geschichte, über die sie sonst selten spricht. Als sie ihr das besagte Bild zeigen, erkennt sie sich aber darin nicht wieder. Dennoch könnte es genauso gut ihr Fall sein, den Aneta und Patryk suchen.

 

Aneta und Patryk gehen weiter. Tereskas Geschichte scheint sich zusehends mit den Ereignissen des Warschauer Aufstands 1944 zu verknüpfen. Im Film wird das durch Ausschnitte aus Archivmaterial deutlich, auf dem Menschenmassen durch die Straßen ziehen, offensichtlich auf der Flucht vor der Zerstörungswut und der Gewalt der deutschen Besatzer. In jenem Jahr wurden 90% der Gebäude Warschaus zerstört, 150.000 – 200.000 Menschen starben. Nach 63 Tagen waren zwar die offiziellen Kämpfe der Besatzer gegen die polnische Bevölkerung vorbei, aber Tereska würden sie noch ein Leben lang begleiten. Eine schwere Verletzung am Kopf, die sie sich in diesen Tagen zuzog, und die Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse prägten sie unwiderruflich.

 

Auf den Bildern des Fotografen David Seymour sind noch Reste von solchen zerstörten Gebäuden zu sehen. Eines davon ist Tereskas Schule. Aneta und Patryk versuchen, das Gebäude mit Hilfe der Organisation „Warszawska Identyfikacja“ zu finden und haben endlich Erfolg. Die präzise Analyse der Bilder, die den damaligen Weg des Fotografen durch die Stadt freilegen, ermöglicht einen räumlichen Nachvollzug, verbindet die Vergangenheit untrennbar mit der Gegenwart. Durch den Blick auf die Architektur Warschaus wird greifbarer, was Mitte des 20. Jahrhunderts geschehen ist. Die Dokumentation zeigt über die fragmentarische Freilegung des Lebens des Mädchens, wie sehr das Vergangene noch in die Gegenwart hineinreicht. Für sie war der Warschauer Aufstand und die Zerstörung ihres Hauses, die darauffolgende Flucht und das Leid, das sie in jüngsten Jahren erfahren hat, nicht zu verarbeiten. Bei einem Treffen mit den überlebenden Familienmitgliedern von Tereska erfahren Aneta und Patryk, dass sie ihr Leben lang in einer psychiatrischen Einrichtung in der Nähe von Warschau lebte und sehr jung verstarb.

 

Die Verknüpfung von Aktualität und der Geschichte des 20. Jahrhunderts wird filmisch durch eine Kombination aus Archivmaterial, nachgestellten Szenen und den Momenten, in denen Aneta und Patryk sich in Warschau bewegen, erreicht. Die Verbindung von Damals mit dem Hier und Heute ist unübersehbar, wenn die beiden mit Freunden zusammen am Abend überlegen, welche von den gefundenen Tereskas wohl die gesuchte sein könnte. Die Brutalität verschmilzt dort mit der Normalität des Alltags und der Neugier, mehr zu erfahren über das bewegende Bild. Die Szenen können irritieren, weil sie mit elektronischer Pop-Musik untermalt sind und eher zu einem Imagefilm für die polnische Hauptstadt zu passen scheinen. Die Produzent_innen wollten vermutlich Nachvollziehbarkeit schaffen und zeigen, in welcher Realität der Film gedreht wurde: Es war Sommer, es war heiß und obwohl die die Orte teilweise noch bestehen, Familiengeschichten weitergeschrieben werden und die Erinnerung an die Niederschlagung des Warschauer Aufstandes noch nicht verblasst ist, hat sich auch vieles verändert.

 

Was der Film schafft, ist die Geschichte zu entmystifizieren, indem man das Mädchen auf dem Bild allmählich kennenlernt. Die Konturen von Tereskas Leben, das anfänglich stellvertretend für die Leben vieler anderer stand, werden klarer. In der dunklen Kammer eines Kinos entwickelt sich das Foto. Nach 60 Minuten tritt man dann als Zuschauer_in hinaus und kann ein paar der gemalten Linien entwirren.

 

Veymont, Kama: Szukając Tereski (Searching for Tereska). Polen, 2019, 60 Min.

 

Weiterführende Links:

Das ursprüngliche Terezka-Bild ist auf der Seite der Terezka-Stiftung (https://www.tereska.de/en/about/tereska/) zu sehen.

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