Al’herd Bacharėvič im Interview
Der belarussische Schriftsteller Al’herd Bacharėvič (*1975) gibt nach Möglichkeit nur schriftliche Interviews. Nicht nur in diesem Punkt folgt er dem Vorbild Vladimir Nabokovs, der neben Sebastian Knight und John Shade zu seinem engeren Favoritenkreis zählt. Im Schriftwechsel mit seinem Minsker Schriftstellerkollegen und Freund Juras’ Barysevič (*1966) legt Bacharėvič seine biografischen und literarischen Ursprünge offen, er äußert sich zur Rolle der belarussischen Sprache, zu seiner Vorstellung vom wahren Leser und zu seinem besonderen Verhältnis zum Deutschen. Im Interview mit der jungen Minsker Lyrikerin und Literaturkritikerin Vika Trėnas (*1984) geht er auf die Bedeutung des Autobiografischen für die Literatur ein, auf die Möglichkeiten „belarussischen Weltbürgertums“ und das dünne Eis literarischen Ruhmes.
Al’herd Bacharėvič lebt und arbeitet zurzeit mit einem „Writers in Exile“-Stipendium des P.E.N.-Zentrums Deutschland in Hamburg.
Der Schriftwechsel zwischen Al’herd Bacharėvič und Juras’ Barysevič wurde unter dem Titel Iholka prozy (Die Nadel der Prosa) zuerst in der Zeitschrift Dzejasloŭ (13/2004) veröffentlicht und 2006 in Bacharėvičs Erzählband Nijakaj litas’ci Valjancine H. (Keine Gnade für Valjanzina H.) erneut abgedruckt. Im Jahr 2007 war der Text Grundlage der Weißrussisch-Prüfung für polnische Abiturienten. Das von Vika Trėnas geführte Interview erschien in der Zeitschrift pARTisan (05/2007).
Thomas Weiler hat beide Texte aus dem Belarussischen übersetzt, sie erscheinen hier kombiniert und deutlich gekürzt.
Juras’ Barysevič: Bücher werden wohl mit ihren Autoren geboren und dann mit ihnen erwachsen oder sie leben im Verborgenen, bis sie ihren Leser finden. Wir selbst werden ja auch nur von denjenigen wahrgenommen, die sich aus bestimmten Gründen für uns interessieren, zum Beispiel wegen der Bücher, die aus unserem Schatten getreten sind. Also erkläre doch mal, wo und wann Al’herd Bacharėvič mit seinen Büchern zur Welt kam und warum er das tat.
Al’herd Bacharėvič: Das ist bald dreißig Jahre her: In Spanien war eben der Diktator Franco gestorben, der belarussische Kritiker Navum Perkin brachte seine Aufsatzsammlung „Der Mensch im sowjetischen Roman“ heraus, und ich kam zur Welt.
Die Schule, in die ich ging, war dermaßen gewöhnlich, dass es mir sogar unangenehm ist, darüber zu sprechen. Ich ging selten vor die Tür, fläzte den ganzen Tag auf dem Sofa und verschlang nebenher Bücher und Puffmais. Der höchste Baum in der Nähe unseres Hauses reichte mir gerade bis zur Schulter. In diesem Alter fehlt einem einfach noch das entsprechende Organ um zu hassen – ich hatte dank meiner Eltern und der Bücher eine glückliche Kindheit. Nach der Schule wollte ich am Fremdspracheninstitut studieren, weil ich der Klassenbeste in Fremdsprachen war, aber da brach vor der Zeit die nationale Wiedergeburtsepidemie aus, und die Seuche ging auch an mir nicht spurlos vorüber. Mit 18 war ich Student der Pädagogischen Hochschule und sollte Lehrer für belarussische Sprache und Literatur werden. Damit hatte sich der Traum vom Fremdsprachenstudium irgendwie doch noch erfüllt, konnten doch damals höchstens überhebliche Teenager oder Provinzgewächse Belarussisch als ihre Muttersprache bezeichnen.
Ich bin ein sensibler, kranker, böser, in seine Frau verliebter, widerlich sentimentaler Introvertierter, lese sehr viel, rauche ein bisschen zu viel und trinke, kaue Fingernägel, stottere leicht, habe einen indiskutablen Geschmack und kann kein Geld verdienen, mit einem Wort – ich bin Schriftsteller. Oder bemühe mich einer zu sein. Egal. Ich schreibe Bücher für Leute wie mich.
J. B.: Warum hast du angefangen, deine Gedanken aufzuschreiben? Und lassen sich Ideen einteilen wie Geld in eigene und fremde, nicht verfügbare und Gemeingut?
A. B.: Die lettische Lyrikerin Jo hat bei ihrer Belarus-Reise auf die Frage nach den Quellen des Schaffens geantwortet: „Kunst beginnt mit Übernehmen.“ Irgendwo in den Himmelsarchiven, die uns niemals zugänglich sein werden, mag auch das Wissen um die Vielzahl persönlicher Inspirationen lagern, für die meisten von uns, so denke ich, beginnt die eigene literarische Tätigkeit mit dem Wunsch „genauso toll zu schreiben wie …“. Ein recht einfaches Schema: Jemand liest, findet Gefallen, reflektiert und beginnt selbst zu schreiben. Um künstlerisch schreiben zu können, muss man die Literatur heiß und innig lieben, um originell und originär künstlerisch zu schreiben, muss man sie auch ein wenig hassen.
Ich hoffe, die Phase des Übernehmens bereits hinter mir zu haben. Wenn ich doch einmal darüber nachdenke, warum und wozu ich schreibe (ein törichtes Unterfangen!), sehe ich mich meist Aug in Aug Begriffen gegenüber wie Zweifel, Schmerz, Begabung, Spiel, Zauber …
Mein erstes Buch habe ich veröffentlicht, als ich zehn war. Die Kapazitäten des Selbstverlags, der in einer Ecke des Kinderzimmers residierte, reichten für zwei Exemplare. Dabei müssen die grafischen Qualitäten des Büchleins betont werden: Meine Eltern versorgten mich stets mit Buntstiften und Kugelschreibern. Ich weiß noch, dass ich Prosa schrieb …
Einige Jahre später, in einem bewusster wahrgenommenen Alter, entstand dann schon durchaus Literaturverdächtiges. О herzallerliebste pueritas scribendi! Mit sechzehn war das Belarussische endgültig zu meiner Literatursprache geworden.
J. B.: Aus dem Titel deines Erzählbandes Praxishandbuch zur Zerstörung von Städten spricht der Wunsch des im Minsker Randbezirk Čyžoŭka aufgewachsenen intelligenten Jungen, Rache zu nehmen am Wohnsiloleben und -denken. Hattest du vielleicht nicht sosehr die städtische Zivilisation an sich, als vielmehr die Betondörfer um die großen Fabriken satt, die vielgeschossigen Baracken der Fließbandsklaven? Welche Zerstörungsmethode legt dein Buch nahe: Fremdsprachen lernen und sein Glück im Ausland suchen? Oder die Geographie seiner Vorstellungswelt erweitern?
A. B.: Ich bin eine Stadtpflanze und fühle mich in der Stadt ganz wohl. Transstrabanien ist aber nicht mehr Stadt, und wenn dich die ungewaschenen Proletarierleiber an die rückwärtige Scheibe des Busses quetschen, vor der die Umrisse der Metro-Endstation zerfließen, wenn du in der Ferne den turmhohen Schlot siehst und denkst, das muss die Stadtgrenze sein, ihre reale Verkörperung, aggressiv vertikal und gnadenlos schlicht, dann packen dich Verzweiflung, Angst und Hass. Die Betondörfer um die Städte, sie gebären Widerlinge, Faschisten und brutale Bösewichter …
Meine Werke geben keine Antworten, sie stellen nur Fragen, und das „Praxis“-Handbuch ist an jene gerichtet, die das Echo suchen und nicht dessen Ursprung. Daher kann ich auch keine beste Zerstörungsmethode anbieten … Nur so viel: Ich bin überzeugt, dass der Begabte ein Recht auf Schwäche hat, daher sehe ich Fluchten, egal wohin – in die eigene Vorstellungswelt, ins Kloster oder ins Ausland – nicht als Niederlagen an.
Vika Trėnas: Was denkst du, welche Bedeutung das Autobiografische für das Werk eines Schriftstellers hat?
A. B.: Für mich ist ein Prosatext nur dann Literatur, wenn ihm ein Gedanke zugrunde liegt, eine Idee, eine Fantasie des Autors. Alles andere ist bloßes Handwerk, verdammte Journalisterei. Natürlich trägt jeder seinen mehr oder weniger schweren Rucksack mit Lebenserfahrung mit sich herum, aus dem Erfolgserlebnisse und Enttäuschungen herauslugen, Hoffnungen unterschiedlichen Kalibers, auch Episoden, Erkenntnisse und Irrtümer, einen Rucksack voller Namen, Gesichter, Gesten, Gerüche,… Doch all das eignet sich beim Schreiben höchstens für die ganz grobe Dekoration, die dazu beitragen kann, eine Illusion von Realität für das Parkettpublikum zu schaffen. Nun kann man jedes gute Buch bis zu einem gewissen Grad autobiografisch nennen, aber es ist doch nicht deswegen interessant. Wichtig ist nicht, was der Autor tatsächlich erlebt hat, sondern vielmehr, wie gut es ihm gelingt, die Biografien seiner Figuren anzulegen.
Gute Literatur ist vor allem ein Spiel und ein großer Betrug, ihn zu erkennen das höchste der Gefühle.
V. T.: Siehst du dich als belarussischen oder als europäischen Schriftsteller? Oder bist du ein Weltbürger?
A. B.: Ich sehe mich als europäischen belarussischen Schriftsteller. Europäisch, weil ich meine Zugehörigkeit zu der großen und alten europäischen Zivilisation spüre, zu dem reichen und vielfältigen Kulturraum der Alten Welt und weil mein Belarus (nicht das rot-grüne, sondern das, ich mir für mich ausgedacht habe) fester Bestandteil dieses Raumes ist.
Die Geografie ist genauso wichtig wie die Kultur. Man kann sich noch so oft als Weltbürger bezeichnen, aus dem Munde einen Menschen, der sein ganzes Leben eingezwängt zwischen den Staatsgrenzen der Republik Belarus verbracht hat, muss dieses Attribut zwangsläufig lächerlich klingen.
Ich sehe mich auch als belarussischen Schriftsteller, vor allem, weil ich belarussisch schreibe. Gäbe es die belarussische Sprache nicht, man müsste sie erfinden. Als Kind habe ich nur selten und dann mit großem Widerwillen die bekannten Spiele mitgespielt, die Mitschüler oder Lehrer vorschlugen. Ich habe schon immer lieber selbst Spiele erfunden und mit ihnen die anderen in Bann geschlagen. Genauso ist es mit den Sprachen – es ist spannender in der eigenen Sprache zu schreiben, dieser geheimnisvollen, kaum verbreiteten Sprache mit ihrem so sonderbaren Schicksal und ihrer ungewissen Zukunft. Außerdem ist in dieser Sprache noch so wenig geschrieben worden, in ihren Weiten gibt es kein Gedrängel und keine spitzen Ellbogen! Und nicht zuletzt ist das Belarussische in diesem Land die Sprache der intellektuellen und kulturellen Elite.
J. B.: Für Il’lja Sin [*1978, belarussischer Autor „transgressiver Prosa“ und Performance-Künstler; Anm. d. Übers.] sind die „belarussischen Massen“ ein Mythos, eine Illusion, daher ist auch eine (populäre) Massenliteratur in belarussischer Sprache völlig ausgeschlossen.
A. B.: Ich glaube, dass eine (populäre) Massenliteratur in belarussischer Sprache wie auch in jeder anderen nicht nur unmöglich, sondern auch unnötig ist. Wahrscheinlich gibt es in jedem Land einen recht engen Kreis von Menschen, die sich für ernste Literatur interessieren (für Literatur, nicht für literarische Modeerscheinungen), und das ist auch in Ordnung. Der Erfolg seiner Bücher sollte einen guten Autor aufhorchen lassen. Ein kleiner Kreis treuer Leser scheint mir ideal, er zeigt dir zumindest, dass deine Bücher nicht stumpfsinnig sind. Schlimmer ist es, gar nicht gelesen zu werden.
V. T.: Nach einer Umfrage unter den Besuchern der Website Novaja Ėŭropa bist du der beste Schriftsteller des Jahres 2006 in Belarus. Wie gehst du damit um? Und inwiefern können solche Erfolgserlebnisse das weitere künstlerische Schaffen eines Schriftstellers beeinflussen? Ist es angenehm, berühmt zu sein? Oder stört es nur?
A. B.: Diese Wahl freut mich sehr, wie es überhaupt immer erfreulich ist, wenn Talent über Widerwärtigkeit triumphiert, Liebe über gesunden Menschenverstand, Vernunft über dumme Vorurteile, wie die Strangulationsfurche am Hals eines gehängten Tyrannen Freude bereitet. Ich weiß nicht, wie viele Besucher für mich gestimmt haben, drei oder dreihundert, aber darum geht es auch gar nicht. Ich bin überzeugt, dass es nie viele gute Schriftsteller geben wird, genauso wenig wie gute Leser.
Literarischer Ruhm in Belarus bedeutet doch, nur einem kleinen Kreis von Lesern bekannt zu sein, die belarussisch geschriebene Texte überhaupt rezipieren können. Es geht mir jetzt dezidiert um literarischen Ruhm. Schließlich sind Schriftsteller in diesem Land zu allen Zeiten nicht dadurch berühmt geworden, dass Unmengen von Lesern begeistert ihre Bücher gelesen hätten, sondern durch ihr gesellschaftspolitisches Engagement (daher sollten die meisten unserer so genannten Klassiker besser unter historischen, soziologischen oder psychopathologischen Gesichtspunkten betrachtet werden und nicht als Literatur, nach der es in diesen Werken nicht einmal riecht). Ich engagiere mich nicht in dieser Richtung, ich fühle mich ganz wohl mit meinen düsteren literarischen Dämonen, meine Ansichten zur Gesellschaft finden sich in meinen Büchern. Würde man also die Gesamtbevölkerung über dasselbe Thema abstimmen lassen, das Novaja Ėŭropa interessiert hat, bekäme man ein anderes Ergebnis.
J. B.: Hanna Kis’licyna [*1967, belarussische Kritikerin und Literaturwissenschaftlerin; Anm. d. Übers.] hat in der Zeitschrift Dzejasloŭ deine Texte als eine „Mischung aus Vladimir Sorokin und Ivan Šamjakin“ bezeichnet. Ich selbst habe bei einer deiner Lesungen den Kommentar gehört: „Das ist nicht Šamjakin, das musst du mehrmals lesen.“ Was Sorokin angeht, ich finde Sorokins Texte und ganz allgemein pornografische Literatur zum Lesen interessant, kann sie aber unmöglich mehrmals lesen. Zu Klassikern werden aber gerade die Werke, die sich mehrmals lesen (und zitieren) lassen.
A. B.: Die beste Antwort auf Hannas Kritik wäre verächtliches Schweigen. Ich äußere mich trotzdem. Mir scheint es für eine literarisch bewanderte Person hier nur zwei Varianten zu geben. Entweder hat Kis’licyna weder Šamjakin noch Sorokin gelesen, oder sie hat bislang eben nur diese beiden armen Teufel gelesen. Letzteres ist nur schwer vorstellbar.
J. B.: Wenn man denn Parallelen ziehen will, dann beziehen sich deine Prosatexte eher auf westeuropäische Autoren oder wenn auf russische, dann auf Viktor Pelevin. Sein Roman Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin und dein Erzählzyklus Die natürliche Färbung haben gemeinsame Helden (hier sei daran erinnert, dass dein Buch vor dem Pelevins erschien). Wesentlich für euch beide ist das Thema der psychedelischen Bewusstseinserweiterung. Die pelevinschen Helden, Medienmogule, Offiziere und Großbanker nehmen allerdings vor allem den Rohstoff des goldenen Kalbs – Kokain (die Lieblingsdroge der Karrieristen), während der Held der „Natürlichen Färbung“ zufällig auf einem sehr demokratischen Weg eine andere Variante der Wirklichkeit (seine persönliche Hölle?) entdeckt – er atmet bei der Arbeit Farbdämpfe ein.
A. B.: Pelevin, ein interessanter und talentierter Autor, berührt mich ehrlich gesagt überhaupt nicht. Ich gehe in der Buchhandlung an seinen Büchern vorbei und suche mir etwas mit mehr Tiefe, mehr Zauber. Hier das Regal in meinem Arbeitszimmer mit den Büchern, die ich immer wieder lesen will (der wahre Leser ist Wiederleser), den Büchern, die mich offensichtlich auf die ein oder andere Weise beeinflusst haben: Nabokov, Kafka, Joyces Ulysses, Grass’ Blechtrommel, Sartre, drei Romane von Robbe-Grillet: Die Radiergummis, Der Augenzeuge und Die Jalousie oder die Eifersucht, Bölls Ansichten eines Clowns, Der Scherz, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins und besonders Die Unsterblichkeit von Kundera, Der bemalte Vogel von Kosinski, Dürrenmatt, Der Fremde von Camus, Miller, Borges… Aksënov, Tolstaja (selbstverständlich Tat’jana), Elementarteilchen von Houellebecq, die vier Romane Umberto Ecos, Das schwarze Buch von Orhan Pamuk, Schande von Coetzee, außerdem Washington Irving, Edgar Allan Poe, die deutschen Märchensammler des 19. Jahrhunderts … Proust, Márquez, Ionesco, Brodsky, Reise ans Ende der Nacht von Céline … Bessere Autoren kenne ich noch nicht.
V. T.: Verrätst du uns die Namen der Autoren, die dich in ästhetischer Hinsicht am stärksten beeinflusst haben?
A. B.: Die drei Walfische, die für mich nach wie vor die Weltliteratur tragen, sind Kafka, Joyce (als Autor des Ulysses) und Nabokov. In meinen Augen ist ihre Prosa bislang unübertroffen. Die Gabe, König, Dame, Bube, Lolita und Fahles Feuer, Der Process, Das Schloß, Die Verwandlung und Ein Landarzt (als Beispiele, nur als Beispiele!) sind genauso wie die Wanderung des Leopold Bloom nicht nur brillante Literatur, von Zauberern geschrieben, Literatur, die man immer wieder und wieder lesen kann und soll, Literatur, die einen fast physisch befriedigt. Es ist ähnlich wie mit religiösen Lehren, der Leser kann nach Lektüre und Anverwandlung dieser Literatur nicht mehr der sein, der er vorher war. Das sind Bücher, die sämtliche Ansichten des Lesers verändern können, von politischen bis hin zu ästhetischen, Bücher, die ein ganzes Leben umkrempeln können. Mir ist es so ergangen.
Aus diesen Dithyramben soll aber nicht geschlossen werden, dass mich alle weitere Literatur kalt lässt. In der belarussischen Literatur genügt keiner meinen offensichtlich überzogenen Ansprüchen, auch nicht Al’herd Bacharėvič. Wobei …
J. B.: Ein Vergleich deiner Romane mit denen Pelevins könnte einen fruchtbaren Boden bereiten für Überlegungen zu den Unterschieden der historischen Schicksale der schöpferischen Intelligencija in Belarus und Russland: Das Schriftstellerhandwerk kann einen Menschen mit gutem Geschmack weder dort noch hier ernähren, aber während in Pelevins Generation P der professionelle Lyriker Babilen Tatarski von der Literatur enttäuscht zum „Spin-Doctor“ wird, in die Werbebranche einsteigt und schließlich hinter den Kulissen der Politik die Strippen zieht, gibt in der Natürlichen Färbung der Künstler Stach seine nicht gefragte Arbeit auf, kommt in einer Fabrik als einfacher Maler unter und findet dort sein Glück. In Belarus ist also die Bildung wenig wert im Vergleich zur Tradition; die Intelligencija kapituliert vor dem Proletariat.
A. B.: Was die Firma bei ihm, bei Stach, ganz grundlegend bewirkt hatte, könnte man folgendermaßen zusammenfassen: Sie hat seinen Glauben an die Realität der Gegenwart getötet. Die dort arbeiteten, kamen gut zurecht ohne Demokratie und politische Korrektheit, ohne Strukturalismus und Performance, ohne Internet und konkrete Poesie, ohne lateinische Sinnsprüche und ohne Englisch, sie verstanden wirklich nicht, wie man lange Haare haben konnte, wenn man nicht Aleksandr Malinin oder so ein ähnlicher Star war und warum man für Malevičs „Schwarzes Quadrat“ diese Unsummen an Geld auszugeben bereit war. Dass sie von Hand mit uralten Pinseln arbeiten mussten, während, wie Stach wusste, im Lager der Firma nagelneues Material ruhte, das den Malern die Arbeit so ungeheuer erleichtert hätte, brachte sie nicht aus der Fassung.
Das Proletariat ist ein Hüne und wie viele Hünen zeichnet es sich durch Schutzlosigkeit, gutmütiges Wesen, kindliche Naivität und Anfälligkeit für fremde Einflüsse aus. Und doch ein Hüne. Auch Stach fühlte sich jetzt gern als ein Teil dieses Hünen, gut, vielleicht nicht dessen Hand, nicht einmal sein Finger, aber doch als Kapillare am Handgelenk – genau.“
J. B.: Bist du mit dem Fazit des Helden aus George Orwells antiutopischem Roman 1984 einverstanden, dass höchstens politikferne Proles (Proletarier) den Totalitarismus überwinden können? Mir scheint, die unpolitischen Datschenbesitzer interessiert eher das Wetter, sogar mehr als die Preise in den Geschäften.
A. B.: Kafka ist mir wesentlich näher als Orwell, auch wenn ich seinerzeit bei 1984 weinen musste. Zweifellos sind Staat, Gesellschaft und Totalitarismus letztlich bloß Menschenwerk. Ich glaube, dass ein Künstler es in jedem System schwer hat, und sei es noch so demokratisch, denn tatsächlich, da bin ich ganz einig mit dir, Juras’, unter jedem Regime sind die Menschen einem Regiment unterworfen … und damit ist ihre Freiheit eingeschränkt.
Ich möchte an dieser Stelle Nabokov zitieren: „Es gibt zu denken, dass hier unter uns (und, nebenbei gesagt: auf der ganzen Welt) wohl niemand lebt, den nicht zu irgendeinem günstigen Zeitpunkt im geschichtlichen Raum-Zeit-Geflecht der rechtschaffene Zorn einer vom Alltagsverstand getriebenen Mehrheit ohne Federlesen vom Leben zum Tode befördern könnte.“
Wer den Weg des kreativen Menschen wählt – besonders den des Schriftstellers – muss ständig darauf gefasst sein, irgendwie erniedrigt zu werden, gequält, erstickt, muss auf seine Vertreibung gefasst sein.
Die Pproles (ich stottere sogar an der Computertastatur) fühlen sich wohl im Totalitarismus, solange er ihre Bedürfnisse stillt. Tut er dies nicht mehr, wählen sie sich den nächsten großen Onkel. Den Staat für etwas verantwortlich zu machen ist dumm, denn das Volk hat den Staat, den es verdient. Vielleicht ist meine Vorstellung wenig originell, aber: Lukašėnka ist tatsächlich ein Präsident des Volkes, da ist nichts zu machen. Jeder Diktator ist die Quintessenz des Bewusstseins seines Volkes. Jeder zweite Bewohner dieses Landes ist ein kleiner Lukašėnka, und solange das so ist, wird sich in Belarus nichts ändern.
Hier zu leben ist furchtbar, nicht nur, weil man ständig die Staatsvisage vor Augen hat, sondern auch, weil man sich mit seinen Mitmenschen abgeben muss. Sartres Erkenntnis über den Ort der Hölle ist nach wie vor aktuell.
J. B.: Die Deutschen in deinen Texten sind ein bisschen wie Außerirdische, die Belarussen übrigens auch: „Wie Außerirdische liefen die Belarussen den mürben silbernen Weg entlang, der im Kosmos verschwand. Als hätte ein schwerreicher Kerl die Milchstraße gekauft und diese freiheitsdurstigen Tierchen darauf ausgesetzt. Ihre Anmut war bezaubernd. ‚Die sind mal gut dressiert!’ sagte jemand laut hinter dem Jungen. Gänzlich lautlos bewegten sich die Belarussen, wie Trugbilder in der Luft, die bald verschwinden, bald erneut auftauchen. Ein Mädchen juchzte vor Begeisterung auf. Weich fiel das Licht auf die Zirkuswände und gab den hellen Weg in unbekannte kosmische Weiten frei. Die Belarussen liefen und bewegten langsam die glänzenden Kugeln mit ihren Pfoten, ohne dass irgendein Zwang zu spüren gewesen wäre“ (aus der Erzählung Die Belarussen auf den Kristallkugeln). Dabei sind die Deutschen (немцы) für die Slawen im doppelten Sinne Außerirdische, klingt doch im Unterbewusstsein auch das gleichlautende „ня мы“ mit, „die Anderen“. Die Deutschen können besser als wir gemütlich sein, sie achten mehr als wir auf den Umweltschutz und die eigene Gesundheit. Mir ist noch nicht ganz klar, warum sie sparsamer sind, ob sie sich vor oder nach uns auf diesem Planeten eingerichtet haben. Der Lyriker und Künstler Aljaksej Ždanaŭ hat übrigens die Menschen eingeteilt in Deutsche und Marsmenschen …
Hast du nicht das Bedürfnis Substantive mit Artikeln zu verwenden, in Frakturschrift zu veröffentlichen und überhaupt ein deutschsprachiger Schriftsteller zu werden?
A. B.: Meine Liebe zu Deutschland hat etwas Mystisches, und ich kann dem interessierten Leser nur meine Erzählung Günter Waldhof und seine Gläubiger ans Herz legen: „… Gott, was hat mich dieses Land verdorben … ich brauche eine Kur … kuriere mich, Günter … in Deutschland ist doch alles anders … mach mich anders, Günter.“ Dass mein Deutschland das „konzentrierte Bild der europäischen Zivilisation“ ist, damit wäre ich vielleicht noch einverstanden, aber die Sache ist doch komplizierter. Wenn ich an einem von bayerischem Bier angegrauten Spiritistentisch die „Schatten vergessener Ahnen“ heraufbeschwören würde, dürfte sich Einiges klären.
Deutschsprachiger belarussischer Schriftsteller zu werden, wäre eine große Ehre für mich, aber ich fürchte, dann hätte weder das Belarussische, noch das Deutsche in meinen Texten Beachtung verdient. Ideal wäre meine Umwandlung in einen deutschsprachigen deutschen Schriftsteller, was aber im Moment ins Reich der Phantastik oder fast Schizophrenie gehört und die Phantastik ist nicht mein Genre.
Zu den Belarussen auf den Kristallkugeln – das ist eine metaphorische Erzählung, ein Gleichnis für den historischen Weg der belarussischen Nation, oder zumindest deren bewussten Teil, der Intelligencija. Wer heute in der Stadt Belarussisch spricht, sieht aus wie ein Clown und fühlt sich auch so, die Stadt ist für uns zum Zirkus geworden. Wir stehen unser Leben lang entweder auf der Bühne oder im Käfig hinter den Kulissen.
J. B.: Du warst es damals, der unsere Gruppe (außer uns gehören noch Zmicer Višnёŭ, Vol’ha Hapeeva, Val’žyna Mort und Il’lja Sin dazu) den deutschen Namen „Schmerzwerk“ gegeben hat. Viele bezweifeln, dass der Mensch fremde Schmerzen empfinden kann, ich glaube, er kann es, schließlich empfindet er nicht immer den eigenen.
Du hast einmal gesagt, es sei nicht ungefährlich, Schriftsteller zu sein, da man als solcher fremde Leiden auf sich nehmen müsse. Du bringst aber auch nicht nur dir selbst Schmerzen bei. Haben wir das Recht, diejenigen zu foltern, die gutgläubig unsere Texte kaufen oder geschenkt bekommen?
A. B.: Ich bin überzeugt davon, dass Kunst aus Schmerz entsteht. Ich kenne kein einziges gelungenes Kunstwerk, dem angenehme Empfindungen zugrunde liegen. Kunst ist in meinen Augen eine Krankheit, eine heilbare übrigens. In Die Natürliche Färbung habe ich versucht, einen Staat zu zeigen, der so sehr an Schmerz gewöhnt ist, dass seine Bewohner sogar in den Pässen eine Sonderseite „Krankheiten und Versehrungen“ haben. Alle Figuren in diesem Buch sind krank. Der Schmerz ist bekanntlich ein Warnsignal des Organismus, ein Gefahrenhinweis. Ich denke, dass für die Kunst Schmerz das universelle Bild des Verhältnisses zu unserer Umwelt ist.
J. B.: Nur wenige können sich selbst durchforsten, ihre persönlichen Irrtümer und Träume analysieren und dann Fremden (oder, noch schwieriger, Bekannten) spannend erzählen. Einfacher und weniger riskant ist es, nicht über einen Menschen zu schreiben, sondern über ein Volk, nicht über sich selbst, sondern über bekannte Politiker. Im Unterschied zum politologischen Künstler (dazu zählen fast alle „Volksschriftsteller“) weiß der psychologische Künstler nicht, wozu er lebt, wozu er schreibt und ob das alles einen Sinn hat.
A. B.: Leider sind in der zeitgenössischen Literatur nur eine Handvoll Autoren in der Lage, Kunst zu schaffen. Die absolute Mehrheit der hiesigen Schriftsteller stellen im besten Falle ordentliche Journalisten. Nur wenige belarussische Schriftsteller interessiert die Literatur und nicht die Ideologie. Ihre Texte und ihr Auftreten sind Beleg genug für diese traurige These.
Lassen wir doch ein bisschen Luft aus der Heuchelei: Eine ganze Reihe der „großen Meister“ der schönen Literatur in diesem Land sind momentan mit ungemein wichtigen Dingen beschäftigt – sie zanken sich, ringen um das Monopol für die Darstellung der belarussischen Literatur im Ausland, besetzen Nischen, deuten das sowjetische Erbe um (das aus jeder Perspektive betrachtet so eindimensional bleibt, dass jegliche Umdeutung absurd erscheinen muss).
Warum hat die belarussische Literatur seit ihrem Bestehen keinen einzigen Schriftsteller von Weltgeltung hervorgebracht? Warum hat sie nicht den Schriftsteller hervorgebracht, dessen Werke das Bewusstsein nicht nur eines Belarussen auf den Kopf zu stellen vermag, sondern auch das eines Simbabwers, Venezolaners oder Japaners, von Engländern und Franzosen ganz zu schweigen? Weil es in dieser Literatur keine Zauberer unter den Schriftstellern gibt.
Der wahre Leser, der sensible, aufmerksame, feinfühlige, erwartet von der Literatur keine Informationen, keine Unterhaltung und keine Denkansätze zu aktuellen Themen. All dies können Zeitung, Fernsehen und deren erfolgsverwöhnter Konkurrent Internet leisten. Der Leser erwartet von einem literarischen Werk, dass es ihm die Augen verbindet, ihn bei der stolzen Hand nimmt, ihn in einen verwunschenen Wald führt und dort allein lässt. Er will verzaubert werden.
Jeder Zauber ist seinem Wesen nach ein großer Betrug. Der wahre Leser wartet also bewusst darauf, betrogen zu werden und zwar so, dass er nicht dahinterkommen kann, wie ihm dieser Betrug geschieht.
Texte soll man nicht mit dem Kopf oder dem Herzen erfassen, sondern mit der Wirbelsäule. Der Schauder in der Wirbelsäule des Lesers muss das entscheidende Kriterium für den künstlerischen Wert eines Werkes sein. Dieser Gedanke stammt von einem der brillantesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, von Vladimir Nabokov. Kopf oder Herz können auch ein Zeitungsartikel, ein Gespräch im Suff unter Freunden oder die Große Sowjetenzyklopädie befriedigen. „Damit ein Kunstwerk wahrhaft unsterblich ist, muss es ganz die Grenzen des Menschlichen verlassen: der gesunde Menschenverstand und das logische Denken sind fehl am Platze.“ (Giorgio di Chirico)
Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler.
Buchpublikationen von Al’herd Bacharėvič:
Praktyčny dapamožnik pa rujnavan’ni haradoŭ (Praxishandbuch zur Zerstörung von Städten). Lohvinaŭ. Sankt-Pecjarburh, Vil’nja 2002.
Natural’naja afarboŭka (Die natürliche Färbung). Lohvinaŭ. Minsk 2003.
Nijakaj litas’ci Valjancine H. (Keine Gnade für Valjanzina H.). Lohvinaŭ. Minsk 2006.
Prakljatyja hos’ci stalicy (Verdammte Hauptstadtgäste). Lohvinaŭ. Minsk 2008.
Talent do jąkania się. Opowiadania wybrane (Die Gabe des Stotterns. Ausgewählte Erzählungen). Wydanie dwujęzyczne: polsko-białoruskie. Kolegium Europy Wschodniej. Wrocław 2008.
Saroka na šybienicy (Die Elster auf dem Galgen). Lohvinaŭ. Minsk (erscheint 2008).