Erwachsensein „spielen“: Ein Skater-Film aus Polen

Beim Ansehen von Marcin Filipowiczs Coming of Age-Film BRATY/BROYS (2020-2022) sorgen Schauspieler*innen und Kameraführung für „brennende“ Augen. Denn die Zuschauer*innen werden kaum blinzeln wollen, um möglichst nichts des Gezeigten zu verpassen. Womöglich werden manche Zuschauer*innen aufgrund der etwas rudimentären Handlung auch enttäuscht das Kino verlassen. Aber vielleicht ist genau diese reduzierte, ort- und zeitlos wirkende Handlung auch eine der überzeugendsten Qualitäten des Films.

 

Erwachsenwerden ist ein Prozess des Zerrissenseins und Zerrissenwerdens. Ein Jugendlicher kennt kaum etwas anderes als Unterricht und Eltern; und dann passiert alles auf einmal: das erste Mal verliebt sein, das erste Mal Drogen nehmen, Sex und Liebeskummer haben. Manchmal scheint dieses Erwachsenwerden wie das Ende von allem. Der Mensch gelangt an diesen Punkt, zwar noch ein Kind zu sein, aber ein zerrissenes und haltloses. Eigentlich hat er keine Ahnung, was das bedeutet, dieses Erwachsensein. Das jedenfalls erleben der 17-jährige Filip (Hubert Miłkowski) und sein großer Bruder Bratek (Sebastian Dela) im polnischen Film BROYS. Keiner von ihnen darf dem Kind, das sie beide teilweise noch sind, viel Raum geben. Die Mutter ist nicht mehr da, der Vater (Cezary Łukaszewicz) versunken in einer Art Depression und Drogensucht. Die Jungen sind auf sich gestellt. Der ältere Bruder versucht – bevor er selbst das Zuhause verlässt – dem jüngeren das Erwachsensein beizubringen: Bratek nimmt Filip mit, wenn er tanzen geht, Drogen nimmt, Autos stiehlt und auch dann, wenn er ein Mädchen küsst. In diesem Zeigen liegt auch eine Suche – eine, die vielleicht auch die große Fragestellung des Films ist: Was heißt es, erwachsen zu sein?

An Anworten tastet sich BROYS heran mit einem geschickt durchdachten Zusammenspiel zwischen Bild, Ton und herausragender Schauspielkunst. Der ganze Film ist in Schwarzweiß, was das Geschehen zeitlos erscheinen lässt. Denn ohne Farbe weisen Dinge wie Kleidung oder Inneneinrichtung nicht eindeutig auf ein bestimmtes Jahrzehnt. Ein Hinweis ist das Skaten, denn das gab es in Polen erst frühestens in den 1980ern. Ohne Kenntnis des Ursprungslands des Films wäre es schwer, die Handlung eindeutig zu verorten. In den ersten Szenen fühlt man sich als Zuschauer*in durch die langen Straßen und Skateboards an die USA erinnert. Dafür sorgen auch einige lange, statische Einstellungen, die womöglich Anspielungen auf US-amerikanische Popkultur sein sollen, beispielsweise eines Albumcovers (Goo, 1990) der amerikanischen Band Sonic Youth. Des Weiteren ist man sich zu Beginn einer Szene häufig nicht sicher, wessen Stimme gerade zu hören ist. An manchen Stellen bewegt sich die Kamera innerhalb einer Einstellung, und kommt erst ganz am Ende beim Sprecher oder Akteur an. In anderen Szenen hört man Stimmen im Hintergrund und sichtbar ist nur eine Person, die zuhört. Das bewirkt eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Aspekten einer Szene – der Handlung selbst und gleichzeitig der Rezeption dieser Handlung. Außerdem gibt das Spiel mit Bild und Ton – genauso wie die oben erwähnte Verwendung von langen Einstellungen – den Schauspieler*innen Raum, ihren Figuren Tiefe zu verleihen.

Am Anfang des Films sehen wir eine Szene, in der die Hauptfigur Filip, sein älterer Bruder und sein Vater sich auf einem Basketballplatz unterhalten. Im Bild wird nur Filip im Close-Up gezeigt. Sein Vater und sein Bruder sind verschwommene Gestalten im Hintergrund. Der Schauspieler Hubert Miłkowski schafft es, in dieser sehr langen Einstellung verschiedene Emotionen zum Ausdruck zu bringen: Ein Ausdruck der Abwesenheit geht über in ein aktives Zuhören, dann in Härte, bis sich sein Gesicht entspannt und er lächelt. Beide Hauptdarsteller, sowohl Hubert Miłkowski als auch Sebastian Dela, der den älteren der Brüder spielt, glänzen in jeder Szene durch ihre Fähigkeit, den Figuren eine Mehrschichtigkeit zu verleihen. Wenn der ältere Bruder den jüngeren anbrüllt, schauen seine Augen fragend. Dela und Miłkowski spielen Kinder, die – so scheint es – Erwachsene spielen müssen. Ihr Schauspiel ist so packend und nahegehend, dass man beim Filmschauen den Blick nicht eine Sekunde abwenden möchte.

 

 

Auch in Szenen ohne die Brüder sorgt das Zusammenwirken von Kamerabild und Schauspiel für ein Hervorheben einzelner, kleiner Details innerhalb einer Story, die ansonsten nur wenig außergewöhnliche Ereignisse zu bieten hat – vor allem in den Teilen des Films, in denen es um den Vater bzw. die Beziehung zu seinen Söhnen geht. Die drei Figuren haben ein interessantes, mehrdimensionales Verhältnis: Der Vater schreit den Sportlehrer an, weil er seinen Sohn auf der Ersatzbank sitzen lässt. Wenn dieser Sohn aber wütend wird, weil sein Vater seine Drogensucht nicht in den Griff bekommt oder wenn beide Söhne um ihre Mutter trauern (man erfährt nichts über den Grund ihrer Abwesenheit), schaut er nur aus dem Fenster. Es scheint, als müsse er, obwohl erwachsen, das Erwachsensein spielen – und scheint doch an eben diesem Spielen-Müssen zu scheitern. Vielleicht, weil er das Erwachsensein aus Gründen der Trauer oder Überforderung verlernt, oder womöglich nie gelernt hat. Cezary Łukaszewicz, der Darsteller des Vaters, macht diese Mischung aus Liebe, Wut und Hilflosigkeit sehr berührend zum Teil seiner Figur. Sicher ist es auch möglich, verschiedene emotionale Zustände oder Aussagen des Vaters anders zu deuten, denn eines schafft der Film auf bemerkenswerte Weise: Er gibt uns nicht vor, wie wir gezeigte Szenen zu deuten haben, beantwortet nicht alle Fragen. Warum schreit der Vater den Sportlehrer an? Warum hält er seinen Sohn nicht auf, als der plötzlich auszieht? Diese Szenen ohne klare Auflösung sind es, die zum Nachdenken und Hinterfragen anregen.

Bei dem Drehbuch von Łukasz M. Maciejewski und Marcin Filipowicz handelt es sich um eine Coming Of Age-Geschichte. Ähnliche Figurenkonstellationen und Plot Twists wie bei BROYS gibt es innerhalb des Genres sehr häufig: eine abwesende und eine unfähige Erziehungsfigur, der aggressive, fürsorgliche Bruder und dann noch das coole Mädchen, in das sich mindestens eine der beiden Hauptfiguren, in diesem Fall beide, verliebt. Typische Freizeitbeschäftigungen von Teenagern werden gezeigt und irgendwann gibt es den großen Knall, einen Unfall – so auch in BROYS. Die Story erinnert in Teilen an Wolfgang Herrndorfs Jugendroman Tschick (2010) oder – und das vielleicht sogar zu sehr – an den US-amerikanischen Film Mid90s (2018). Die Figurenideen und -konstellationen sowie das Hauptmotiv, das Skaten, sind etwa in Jonah Hills’ Skaterfilm zu finden: Während die Jungs bei Mid90s auf Rampen in LA Tricks üben, tun sie das bei BROYS irgendwo in Polen.

Das Wiederverwenden solcher Figurenkonstellationen und Themen ist kaum vermeidbar, vor allem innerhalb eines Genres oder einer bestimmten Zielgruppe. Doch was Tschick und Mid90s so spannend macht, ist, dass sie genau diesen Stereotypen brechen. Die Figur Tschick ist zuerst das Klischee eines, wie die Hauptfigur es beschreibt, „russischen Assis“. Diesem Klischee entkommt er am Ende zwar nicht ganz, aber weitere Eigenschaften kommen zum Vorschein und entwickeln sich. Dies geschieht unter anderem durch eine Handlung, die den oder die Leser*in immer wieder überrascht und die Figuren in unterwartete Situationen bringt. Genau an jenem Bruch in Figuren oder Handlung, der nicht einzig vom Spiel der Schauspieler*innen kommen kann, fehlt es dem Genre-Film BROYS. In einer Szene steht der Gesichtsausdruck des älteren Bruders im Kontrast zu dem, was seine Hände machen, aber im Großen und Ganzen tut er genau das, was wir beim Zusehen erwarten: Er schlägt seinen Bruder. Keines der Ereignisse im Film sind überraschend: Der aggressive Bruder verursacht den Autounfall, der schüchterne, der immer die Wahrheit sagt, ist auch vor Gericht ehrlich. Es ist fast, als wären die Charaktere gefangen in einem Drehbuch, das einer Art Checkliste folgt, erstellt auf der Basis von bereits bestehenden Werken. Außerdem entsteht keinerlei Neugier für die Nebencharaktere, die um die Brüder und den Vater herum auftauchen. Dieser klare Fokus wäre an sich nicht verkehrt, bleibt aber wenig spannungsreich. Dafür ist die Handlung zu vorhersehbar und die Rollen der Figuren zu platt. Für einen klaren Fokus auf die Vater-Söhne-Konstellation fehlt es an weiteren Szenen, die ihr Verhältnis thematisieren und hinterfragen würden. Und wenn es um Jugendliche in Polen im Allgemeinen gehen soll, sind – neben der Familie – zu wenig interessante Figuren vorhanden.

BROYS ist ein Film über Suche und Zerrissenheit. Während Schauspieler*innen und Kamerabild den Figuren ein Ringen zwischen Liebe und Abwehr, Kindsein- und Erwachsensein-Wollen geben, beschert ihnen das Drehbuch nur eine bloße Aneinanderreihung von langweiligen Handlungssträngen ohne deutlichen Schwerpunkt und vernachlässigt die Nebenfiguren. Es liegt demnach bei den Zuschauer*innen, was für sie am Ende stärker heraussticht: das Spiel der hochtalentierten Darsteller*innen oder die in vielerlei Hinsicht flache Story.

 

Regie: Martin Filipovicz; Originaltitel: Braty; Polen 2020-2022; 82 Min.

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