„Forever Forever“: Gewaltexzesse ohne Triggerwarnung

Kyjiw kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion: Gefühlsverwirrungen, Unsicherheiten, Neugierde, soziales Durcheinander, Gewalterfahrung. Der Film Forever Forever der ukrainischen Regisseurin Anna Burjačkova, der auf dem Filmfestival Cottbus 2023 mit dem „Hauptpreis für den besten Film“ u.a. für die „Authentizität seiner Handlung ausgezeichnet wurde, zeigt die Abgründe einer Jugend, mit der niemand Mitleid hatte.

 

Die Tristesse, die Unsicherheit und die gewaltvollen Umstände, die Anfang der 1990er in Kyjiw vorherrschten, bringt die ukrainische Regisseurin Anna Burjačkova im Coming-of-Age-Drama Forever Forever auf die Leinwand. Das Filmpublikum verfolgt die Geschichte der Zehntklässlerin Tonja, die durch einen Schulwechsel versucht, den furchtbaren Verhältnissen an ihrer alten Schule zu entkommen. Trotz ihrer schüchternen Art findet sie schnell Anschluss an eine Gruppe Mitschüler*innen. Doch auch hier ist das soziale Miteinander von einem rauen Ton bestimmt.

Innerhalb kürzester Zeit bahnt sich eine anfangs zärtliche Beziehung zu Žurik aus der neuen Gruppe an. Es dauert aber nicht lange, und Tonja wird auch für Žuriks besten Freund Sanja zum Objekt der Begierde. Das daraus resultierende Dreiecksverhältnis wird ihr am Ende zum Verhängnis. Ob sich derartige Beziehungen vor allem aufgrund des Charmes der Protagonistin entspinnen, wie es in der Zusammenfassung des Festivalprogramms heißt, ließe sich aber bezweifeln. Ganz im Gegenteil stellt sich die Frage, ob sie nicht viel eher von ihren Verehrern massiv belästigt wird. Was in der Beschreibung des Festivalprogramms und auch im Film selbst jedoch fehlt, ist eine Triggerwarnung, denn der vorliegende Film behandelt sensible Themen, insbesondere sexualisierte Gewalt: die Erfahrung einer Vergewaltigung und den ständigen Versuch des Täters, mit seinem Opfer erneut Kontakt aufzunehmen.

Die Szenen werden ästhetisch in die Welt der 1990er eingebettet: Die Farben sind matt, nicht grell, wirken beschwichtigend. Die Darstellenden verkörpern durchweg junge und äußerst normschöne Menschen. Die Kamera nimmt die Zuschauenden bis in die Mädchen-Umkleide mit, in der sich halbnackte Teenagerinnen umherbewegen, und begleitet die schüchterne Protagonistin aka „Sweetie“, wie sie auch genannt wird, durch ihren Alltag. Doch die Farbgebung des Films vermittelt keine düstere Stimmung. Matte Farben kreieren ein ästhetisches Bild: das Sonnenlicht auf den weißen Fliesen des Schwimmbades, in dem Tonja sich im wahrsten Sinne des Wortes eine Abkühlung verschafft, das herbstbunte Laub auf der Datscha und der Zigarettenrauch, der all das einhüllt. Ein Tumblr-Blog par excellence. Auch Gewalt kann schön aussehen.

Die Leinwand lädt in Kyjiws graue Plattenbau-Romantik ein und versucht, dort ein Stück jugendliche Unbeschwertheit einzufangen. Letztere lässt sich dann doch nur in der Neubauwohnung von Tonjas bester Freundin Lera finden, in der getanzt und gelacht wird, in der sich jugendliche Eifersucht und typische Geschwisterkonflikte bahnbrechen. Diese Wohnung ist ein Rückzugsort, ein safe space. Sobald sie verlassen wird, lauern die Gefahren, vor denen die Protagonistin Schutz suchen muss: Da sind die Eltern, die sich nicht für ihre Kinder interessieren, da sind zwei Jungs aus ihrer Schule, die sich ihretwegen einen Machtkampf liefern, und da ist ihr Vergewaltiger, der früher oder später immer wieder in ihrer Nähe auftaucht, um sie zu bedrohen. Außerhalb dieser desaströsen Verhältnisse gibt es für sie keinen Raum, in dem sie das Durchlebte verarbeiten könnte.

Die Protagonistin ist Opfer von sexualisierter Gewalt und wird durchgängig von dem aggressiven, Drogen dealenden Täter verfolgt. Er ruft bei ihr an, beschattet sie auf der Straße und dringt bis ins Schulgebäude ein, um sie zu verprügeln. Offensichtlich ist er davon besessen, sie mit allen Mitteln einzuschüchtern und zu dominieren. Im Gespräch mit ihrer Freundin versucht sie Worte für das zu finden, was er ihr angetan hat – für die Vergewaltigung. Doch bevor sie welche findet, kommen weitere sexuelle Erfahrungen, die Tonja im Laufe des Filmes sammelt, zur Darstellung. Die zum Teil hocherotisch inszenierten Filmeinstellungen erwecken regelrecht den Anschein, dass es zur Traumabewältigung lediglich ein paar schöne junge Männer bräuchte, die sich nach einem verzehren. Die Regisseurin erhebt den Anspruch einer realistischen Darstellung, ist dabei aber nicht konsequent. Das Ausbleiben, das Nichterzählen der Folgen einer Vergewaltigung erscheint in einer realistisch gemeinten Umgebung unglaubwürdig. Es stellt sich die Frage, ob somit nicht ein elementarer Aspekt einer realistisch erzählten Geschichte fehlt – oder sogar verschwiegen wird.     

Auf der „Flucht vor ihrer Vergangenheit“ wie es im Ankündigungstext so schön heißt, gerät Tonja zu guter Letzt doch wieder in die Fänge eines jungen Mannes, der sie in seine Abhängigkeit zu zwingen versucht. Diesmal, so verspricht er ihr, für immer, wie es auch schon der Filmtitel voraussagt. Kaum eine Szene dieses Films kommt ohne Brutalität, Gewalt oder nackte Haut aus – vornehmlich der nackten Haut weiblicher Teenies. Das Spektrum an  „authentischer“ Gewalt seitens männlicher Schüler reicht hier von einer versuchten Gruppenvergewaltigung an einer wehrlosen Mitschülerin bis hin zum Verprügeln der Protagonistin mitten im Schulgebäude.

Die Gewalt, die in den 1990er Jahren in der Ukraine für viele Menschen zum alltäglichen Leben dazugehörte und mit hoher Wahrscheinlichkeit vielerorts an den Körpern von Frauen ausgetragen wurde, verdient in jederlei Hinsicht auch eine filmische Aufarbeitung. Es ist allerdings unklar, warum diese Thematik in Forever Forever hoffnungslos romantisiert an Jugendlichen in Form eines Coming-of-Age-Dramas ausgelassen werden muss – und das ganz ohne Vorwarnung im Filmfestivalprogramm. Die von der Protagonistin beim Erwachsenwerden durchlebten körperlichen Übergriffe stehen im Gegensatz zur äußerst ästhetisch inszenierten Sexualität. Jedoch sollte diese Gewalt nicht zum Stilmittel erhoben werden. Es ist fraglich, ob die Ästhetisierung von Gewalt der Untermauerung einer realistischen Darstellung dient – oder vielmehr einem offenkundigen Voyeurismus.

 

Forever Forever, Regie: Anna Burjačkova, Ukraine/Niederlande, 2023, 107 Min.

 

 

Beitragsbild: Filmstill, Bildquelle: La Biennale di Venezia, www.labiennale.org.

Jetzt den novinki-Newsletter abonnieren

und keinen unserer Textbeiträge mehr verpassen!