Interview mit Dragan Dragojlović, Leiter der Ivo-Andrić-Stiftung in Belgrad und Schriftsteller
novinki: Die Feier zum 50. Jubiläum der Vergabe des Nobelpreises an Ivo Andrić wird von einem Gerichtsprozess überschattet, der zwischen der Ivo-Andrić-Stiftung und dem kroatischen Kulturverein Matica hrvatska aus Sarajevo ausgefochten wird. Ihre Stiftung hat die Matica hrvatska verklagt, weil sie vier Werke Andrićs in der Reihe „Kroatische Literatur Bosnien-Herzegowinas in 100 Bänden“ veröffentlichte. Die Stiftung wehrt sich gegen die Zuordnung Andrićs zur kroatischen Literatur. Warum? |
Dragan Dragojlović: Der Rechtsstreit dauert noch an, aber er begann bereits vor einigen Jahren. Die Matica hrvatska aus Sarajevo wandte sich an die Stiftung mit der Bitte, vier Werke von Andrić in der Reihe „Kroatische Literatur Bosnien-Herzegowinas in 100 Bänden“ zu drucken. Andrić hat indes seine Wahl getroffen: Über 97% seiner Werke verfasste er im serbischen Ekavisch. Er entschied sich nicht nur dafür, Teil der serbischen Literatur, sondern auch der serbischen Nation zu sein. Die Stiftung steht auf dem Standpunkt, dass die Wahl Andrićs respektiert werden muss. Es geht also nicht darum, dass wir als Stiftung oder Verwaltungsrat Andrić zu einem serbischen Schriftsteller erklären, sondern es ist einfach unsere moralische Verpflichtung, Andrićs Taten und Entscheidungen Rechnung zu tragen. Im Einklang damit erteilte die Stiftung keine Genehmigung, seine Werke in der erwähnten Reihe zu publizieren. In einem Brief wurde erläutert, dass es in dieser Reihe nicht, in jeder anderen aber ginge. Dennoch erschienen die Bücher in dieser Reihe, ohne dass man uns benachrichtigte. Wir erfuhren davon nachträglich per Zufall. Wir bemühten uns zunächst um eine friedliche Einigung. Doch es gab keine Antwort und so blieb uns nichts anderes übrig, als einen Anwalt einzuschalten und ihn zu bitten, die erforderlichen rechtlichen Schritte einzuschlagen. Ich kann mich ärgern oder nicht damit einverstanden sein, wenn Sie mir etwas verweigern, aber das berechtigt mich noch nicht dazu, mir das Verweigerte zu nehmen. Die Ivo-Andrić-Stiftung ist der alleinige Inhaber der Autorenrechte von Andrić. Egal, welche Motive hier im Spiel sind, niemand kann sich diese Rechte ohne unsere Zustimmung nehmen. Aus juristischer Sicht ist die Sache klar. Jemand bemächtigte sich der Rechte, die ihm verweigert wurden. Das Schlimme dabei ist, dass dieser jemand in der Vergangenheit Mitglied des Verwaltungsrates der Stiftung war. Er wusste ganz genau, wie die Dinge funktionieren, es war eine vorsätzliche Tat. Wir zogen vor Gericht nicht deshalb, weil es um die Matica hrvatska von Bosnien-Herzegowina ging, sondern um unsere Rechte zu schützen. Wir haben auch einmal den Verleger Dereta aus Belgrad verklagt, der sich gegenüber den Vertragsverpflichtungen taub stellte. Niemand steht über den Rechten. Dann wird das Gericht eingeschaltet, da gibt es keine andere Wahl. Unser Anwalt aus Sarajevo hat die Klage eingereicht, und das erste Urteil fiel zu unseren Gunsten aus, denn die Sache war offensichtlich. Die andere Seite hat Widerspruch eingelegt und der Fall ist jetzt beim Kantonalgericht. Wir wissen nicht, wie lange es dauern wird, denn das ist der Balkan. Wäre es nicht der Balkan, wäre der Fall schon abgeschlossen. Inzwischen wird bestritten, dass die Autorenrechte Ivo Andrićs bei der Stiftung liegen, und zwar von dem Mann, der Mitglied des Verwaltungsrates der Stiftung war. Warum war er denn jahrelang Mitglied einer Institution, die illegal und illegitim ist? Es wurden Geschichten darüber lanciert, dass Andrićs Testament zehn Seiten beinhalte, und in Wirklichkeit geht es um nicht einmal eine Seite mit vier Punkten. Das Wesentliche ist: Nach allem, was passiert ist, können Serben und Kroaten keinen Streit über Dinge gebrauchen, die unstrittig sind. Denn solange es uns gibt, werden wir in diesen Breitengraden – Serben, Kroaten und alle ehemaligen Jugoslawen – nebeneinander leben. Ist es denn nicht besser zusammenzuarbeiten, wo es geht, statt zu hadern, wo es dazu keinen Grund gibt? Denn niemand hier bestreitet, dass Andrić in einer katholischen, einer kroatischen Familie zur Welt kam. Aber für die Zugehörigkeit zu einer Nationalliteratur ist es unerheblich, in was für einer Familie man geboren wurde, ob man katholisch, orthodox, muslimisch oder vielleicht nicht gläubig ist. Ivo Andrić ist ja nicht der Einzige, der in einer ethnisch-religiösen Umgebung aufwuchs, um sich dann später für etwas anderes zu entscheiden. In der Weltliteratur gibt es eine ganze Reihe von Schriftstellern, die in einem Volk geboren wurden und sich der Sprache eines anderen Volkes bedienten. Nehmen Sie nur Joseph Conrad, den großen britischen Schriftsteller, der seiner Geburt nach Pole ist. Der bedeutende amerikanische Dichter Charles Simic kam hier in der Nachbarschaft, 200 Meter entfernt, zur Welt, als Kind orthodoxer, serbischer Eltern. Er schreibt aber in englischer Sprache, er ist ein amerikanischer Dichter. Es wäre doch verrückt, zu behaupten, er sei ein serbischer Dichter. Wie kann er denn ein serbischer Dichter sein, wenn er auf Englisch schreibt? Man kann von seiner serbischen Herkunft sprechen, die ist allerdings für die Literatur unerheblich. In Australien gibt es einen Serben aus der Šumadija, Wongar heißt er. Geboren wurde er als Sreten Božić, seine Texte unterschreibt er aber mit „B. Wongar“. Man hält ihn in der Regel für einen Aborigine, weil er viel über die Aborigines geschrieben hat. Ich kenne ihn persönlich, wir waren befreundet, als ich in Australien lebte. Der Mann hat Englisch gelernt und schreibt nur auf Englisch. Folglich ist er ein australischer Schriftsteller. Seine serbische Herkunft ist unwichtig. Und zu unserer Situation: Wir lebten lange in einem Land, in dem es die serbokroatische Sprache gab. Und wir nannten uns alle jugoslawische Schriftsteller, ich selbst habe auch nie gesagt, ich sei ein serbischer Schriftsteller. Wo sind die Schriftsteller geblieben, als das Land von der Bildfläche verschwand? Sie sind in der Sprache geblieben, in der sie schrieben. Das ist das Wesentliche. Der Schriftsteller gehört zu der Literatur, in deren Sprache er schreibt. |
n.: Handelt es sich um den ersten Gerichtsprozess dieser Art? |
D.D.: Die Stiftung hat auch früher keine Genehmigungen für solche nationalen Zuordnungen erteilt. Wenn ich Kroate wäre, würde ich es vielleicht auch bedauern, dass Andrić sich dafür entschieden hat, serbischer Schriftsteller zu sein. Aber was soll man da machen? Die Sache ist abgeschlossen, der Mann ist tot, man kann nichts mehr korrigieren. Und diejenigen, die am Leben sind, haben vor allem die Pflicht, den Willen der Toten zu achten. Wir als Stiftung, die Andrić ja gegründet hat, damit sie sich um sein Werk und seinen Namen kümmert, haben keine andere Wahl. Ich zeige Ihnen Kopien von Dokumenten, in denen er explizit erklärt, er sei serbisch. 1942, als der Verlag Srpska književna zadruga ihn bat, eines seiner Werke drucken zu lassen, antwortete er in einem Brief: „Als serbischer Erzähler würde ich unter normalen Umständen mein Einverständnis erklären, aber in diesen Kriegszeiten tue ich es nicht.“ Das war sehr mutig von ihm, denn 1942 regierte hier Milan Nedić in Zusammenarbeit mit Deutschland. Andrić lehnte ab und setzte damit sein Leben aufs Spiel. Dann ein Beispiel aus dem Jahr 1947, als die Matica hrvatska aus Zagreb einen Band mit seinen Erzählungen herausbrachte. Sobald er das Paket mit den Büchern erhalten hatte, verfasste er einen Brief an die Matica hrvatska: „Sobald ich die Bücher aufschlug, erkannte ich, dass unzulässige Dinge gemacht wurden.“ Die Matica hrvatska hatte nämlich seine ekavische Sprache kroatisiert – „hleb“ wurde in „kruh“ korrigiert, „voz“ in „vlak“ usw. Es ist ausgeschlossen, dass Ivo Andrić 1947 nicht wusste, in welcher Sprache er schrieb, ebenfalls ist es nicht möglich, dass die Leute von der Matica hrvatska dies nicht wussten. Als Andrić in diesem Brief ankündigte, dass er über das unzulässige Verfahren den Schriftstellerverband Jugoslawiens informieren würde, entschuldigte sich die Matica hrvatska mit der Behauptung, der Lektor trage die Verantwortung. Eine neue Auflage mit 5000 Exemplaren wurde gedruckt – so, wie Andrić schrieb, ekavisch. In Andrićs Personalausweis aus dem Jahr 1951 – damals wurde in Personalausweisen auch die Nationszugehörigkeit angegeben – steht: „Nationszugehörigkeit: serbisch“. Das ist ein persönliches Dokument, das er täglich mit sich trug. Aus dem Jahr 1951 stammt ebenfalls sein Militärausweis, hier steht in der Rubrik Nationszugehörigkeit auch „Serbe“. Das kann ich Ihnen zeigen. |
n.: Könnten Sie das kopieren? |
D.D.: Selbstverständlich, das sind öffentliche Dokumente, die aus Museen stammen. Hier, sehen Sie, sein Personalausweis: „Nationszugehörigkeit: serbisch“. Oder hier der Beschluss, als er in den Bund der Kommunisten aufgenommen wurde. Der Beschluss ist von Freitag, dem 13. Dezember 1954. Es heißt: „Die Hauptorganisation des Bundes der Kommunisten Serbiens beim Schriftstellerverband Serbiens beschließt nach der Diskussion in der Sitzung vom 13. Dezember 1954 folgendes: Genosse Ivo Andrić, geboren 1892 in Travnik, Beruf Schriftsteller, Nationszugehörigkeit serbisch, wird Mitglied im Bund der Kommunisten Jugoslawiens.“ Hier haben wir das Aufnahmeblatt, das jeder Kandidat ausfüllen musste: „Nationszugehörigkeit: serbisch“. Das hat er eigenhändig in kyrillischer Schrift ausgefüllt und unterschrieben, hier sehen Sie: Ivo Andrić. Wir sollten hier weder etwas unterschlagen noch hinzufügen. Der Mann hatte seine Entscheidung getroffen. Das Dokument wird im Museum Jugoslawiens, der Personalausweis sowie der Militärausweis im Andrić-Museum aufbewahrt. Was soll man jetzt machen? Sollten Serben und Kroaten über Sachen streiten, die absolut absurd sind? Wir haben die Kopien der Dokumente in Večernje novosti, dem auflagenstärksten Blatt in Serbien, abdrucken lassen, denn viele hier, auch diejenigen, die sich mit Andrić beschäftigen, kannten sie nicht. Wir wollten die Menschen einfach mit den Tatsachen bekannt machen. |
n.: In Zagreb argumentiert man, dass Andrić Befürworter einer integralen jugoslawischen Nation gewesen sei. Seiner Wahl des Ekavischen wird keine große Bedeutung beigemessen, man hält sie für einen Ausdruck des integralen Jugoslawentums bzw. der Verwirklichung der Idee von Jovan Skerlić, wonach die Serben die kyrillische Schrift und die Kroaten die ijekavische Aussprache aufgeben sollten, damit alle sich des Ekavischen und der lateinischen Schrift bedienen könnten. In Zagreb wird betont, dass Andrić nie ausdrücklich bestritt, zur kroatischen Literatur zu gehören, bzw. nie ausdrücklich sagte, ein nur serbischer Schriftsteller zu sein. Doch Ihres Erachtens lässt sich Andrić nicht als Jugoslawe oder Kroate charakterisieren? |
D.D.: Es ist unbestritten, dass Andrić in seiner Jugend ein integraler Jugoslawe war. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als viele Serben begannen, sich als Jugoslawen eintragen zu lassen, deklarierte sich dieser integrale Jugoslawe Ivo Andrić als Serbe, im Personalausweis, im Militärausweis und im Aufnahmeblatt des Bundes der Kommunisten. Das ist derselbe Mann, nur hier älter und reifer. Man kann darüber denken, was man will, ich bestehe nur auf den Tatsachen, die so sind wie sie sind, und die ihre Bedeutung haben. |
n.: Wie deuten Sie die Verwandlung des integralen Jugoslawen Andrić in einen Serben? |
D.D.: Ich kann nichts dazu sagen, warum er das getan hat, ich kann aber sagen, dass er diese Verwandlung vollzogen hat. Was waren seine Motive? Er war ein Mensch, der wenig erzählte und erklärte. Ich bin auch neugierig, warum er sich als Serbe erklärte. Er war ein außerordentlich intelligenter, gebildeter Mann mit einem ausgeprägten historischen Bewusstsein, ein seltener Kenner des Balkans und des Lebens überhaupt. Fünfzig Jahre nach dem Nobelpreis werden seine Werke nicht nur in Europa übersetzt und gelesen, sondern von Brasilien über Korea bis Japan. Nehmen wir Korea – ein ganz anderer Kulturkreis, eine andere Tradition, eine andere Religion, alles ist anders, aber sie lesen Andrićs Bücher. Warum? Weil diese so lebensnah sind. Die Leser dort müssen die Informationen, über die wir verfügen, nicht haben, aber sie spüren die Energie des Lebens. Ein Mensch mit solcher Kenntnis des Lebens und der Geschichte hat seine Wahl getroffen. Das kann kein Zufall sein und sicher hat ihn niemand dazu überredet. Aber auf die Frage nach dem Warum habe ich keine Antwort, denn er hinterließ keine Erklärung. Mir als Leiter der Ivo-Andrić-Stiftung bleibt nichts anderes übrig, als auf Tatsachen hinzuweisen und alle Menschen dazu aufzurufen, nicht über Sachen zu streiten, die sich nicht ändern lassen. Andrić hat sich der serbischen Sprache bedient und sich als Serbe deklariert. Ich bin auch neugierig warum, habe aber keine Antwort parat. |
n.: Zu jugoslawischen Zeiten galt Ivo Andrić als eine Brücke zwischen den Nationen. Heute würden ihn manche Bosniaken, wenn er noch am Leben wäre, nach Den Haag schicken. Man wirft ihm vor, Hass gegenüber dem Islam geschürt zu haben – z.B. durch die brutale Beschreibung der Pfählung eines serbischen Bauern durch die osmanischen Herrscher in der Brücke über die Drina (Na Drini ćuprija). Manche Serben versuchten gerade anhand seiner Literatur ausländische Politiker davon zu überzeugen, dass ein Zusammenleben der Serben, Muslime und Kroaten in Bosnien nicht möglich sei. Auch der norwegische Terrorist Anders Breivik beruft sich auf Andrić, um seine These, dass es für den Islam keinen Platz in Europa gibt, zu erhärten. Wie konnten die Bücher von Ivo Andrić zu einer Waffe in den Konflikten zwischen den bosnischen Nationen werden? |
D.D.: Nicht Andrić ist das Problem, sondern die Interpreten. Er hat die Wahrheit geschrieben, er hat die Tatsachen benannt. Die Literatur muss, um angenommen zu werden, authentisch sein. Als Andrić über die Pfählung schrieb, hatte er keine Rache an den Muslimen im Sinn. Die Serben wissen, dass sie 400 Jahre lang gepfählt wurden, es geht nicht nur um diesen Helden an der Brücke. Aber wir wollen doch nicht ständig zurückblicken. Diejenigen, die Andrić kritisieren, schweigen über jene muslimischen Figuren bei Andrić, die phantastische, außerordentliche Menschen verkörpern. Wenn Sie Teile aus einer Einheit herausziehen und sie nach Ihrem Gusto interpretieren, können Sie aus jedem einen Teufel machen. Und Andrić ist in der Tat ein Schriftsteller der Wahrheit, nicht des Hasses. Ihn trifft keine Schuld an den Tatsachen. Und warum wir ihn für unsere politischen Ziele instrumentalisieren wollen? Das steht auf einem anderen Blatt. Viele, die ihn interpretieren, haben kein einziges seiner Werke gelesen. Aber das ist der Balkan. Gäbe es diesen Balkan nicht, wäre Andrić wiederum nicht so ein großer Schriftsteller. Ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass Andrić, wenn er die Serben oder die Muslime oder wen auch immer kritisiert, einen Streit auslösen möchte. Seine Botschaft lautet: „Meine Herrschaften, schauen Sie in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit, soll denn wieder Blut fließen?“ |
n.: Wie würden Sie die politische Botschaft von Andrićs Werk zusammmenfassen? War er ein Freund oder ein Feind des multikulturellen Bosnien? |
D.D.: Andrićs Botschaft ist nicht der Hass. Er möchte den Leser dazu bringen, zu sagen, wollen wir diesen Kreis nicht endlich schließen? So lese ich Andrić. Für diejenigen, die sie erkennen wollen, sind seine Botschaften klar. Man klammert sich an eine Sache, die Pfählung, aber das gab es tatsächlich 400 Jahre lang. Dürfen wir das denn nicht sagen? Andrić hat über diese Dinge nicht geschrieben, damit sie sich wiederholen, sondern er sagt: „Meine Herren, Brüder, Genossen, damit müssen wir Schluss machen.“ So sehe ich Andrić. Wenn er den Hass schüren wollte, würde ihn doch niemand lesen. Niemand will den Hass, alle wollen die Wahrheiten des Lebens sehen. |
Das Interview führten Ksenija Cvetković-Sander und Martin Sander.
Übersetzung von Ksenija Cvetković-Sander