Es gibt einen ironischen Andrić

Interview mit Tihomir Brajović, Professor für südslawische Komparatistik an der Philologischen Fakultät der Universität Belgrad

novinki: Wo hat Ivo Andrić heute seinen Platz in der serbischen Kultur- und Literaturgeschichte?

Tihomir Brajović: Andrić hat einen herausragenden Platz in der Geschichte der serbischen Literatur und Kultur. Nach allgemeinem Verständnis ist er einer der bedeutendsten serbischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, zugleich sieht man ihn hier auch als einen südslawischen – früher sagte man „jugoslawischen“ – Schriftsteller, und zwar deshalb, weil er die Kultur aller südslawischen Völker beerbt hat, darüber hinaus auch die Kultur einiger großer slawischer Völker wie der Polen. Soweit mir bekannt, gibt es hierzulande keinen Streit darüber. Man ist der Ansicht, dass Andrić durch seine eigene Entscheidung ein serbischer Schriftsteller geworden ist, und man weist auf verschiedene Fakten hin, die dies bekräftigen. In einem breiteren Sinne wird aber den anderen südslawischen Völkern nicht das Recht abgesprochen, ihn für ihren Schriftsteller zu halten – wie das heute in einer globalisierten Kultur auch mit etlichen weiteren Autoren geschieht, welche in verschiedener Weise an verschiedenen Kulturen partizipieren. Wir hatten hier in Belgrad eine Tagung über Andrić, wir luden Schriftsteller aus Kroatien und Bosnien-Herzegowina ein und wir wurden uns einig, dass Andrić ein integralistischer Jugoslawe war. Als Schriftsteller und Intellektueller gehörte er zu der Generation, die von der Entstehung Jugoslawiens träumte und die 1918 ihre Träume in Erfüllung gehen sah. Andrić blieb der jugoslawischen Idee treu bis zu seinem Lebensende. Das ist unbestritten.

n.: Andrićs wichtigstes Thema war Bosnien. Wie hat er als integralistischer Jugoslawe, der die Vereinigung der südslawischen Völker anstrebte, Bosnien gesehen? War er ein Gegner oder ein Befürworter des multikulturellen Bosnien?

T.B.: Ich möchte mich auf Andrićs Worte beziehen. Im Buch von Ljubo Jandrić (Jandrić, Ljubo: Sa Ivom Andrićem, Sarajevo 1982) sagt Andrić, dass er Bosnien sehr liebe und dass es ihm Leid täte, nicht in Bosnien auf die Welt zu kommen, wenn er noch einmal geboren werden sollte. Er liebte Bosnien also, konnte aber – wie andere große moderne Intellektuelle auch – dessen Widersprüche nicht übersehen. Unter anderem ist er gerade deshalb ein großer Schriftsteller. Ganz bestimmt war er dem multikulturellen Bosnien zugeneigt. Andererseits – dies ist das Ergebnis meiner jahrzehntelangen Lektüre seiner Texte – gibt es einen ironischen Andrić. Wenn ich von Ironie spreche, meine ich nicht Verspottung, sondern Ironie in der modernen Bedeutung des Wortes, also ein komplexes Verstehen von Dingen.

n.: Was verursachte Ihres Erachtens die Wende in der Wahrnehmung von Andrić – der ehemalige Vorzeigeschriftsteller der jugoslawischen Brüderlichkeit und Einheit wurde zu einem Schriftsteller, der angeblich beweisen wollte, dass ein friedliches Zusammenleben der Nationen in Bosnien unmöglich sei?

T.B.: Das ist sehr kompliziert. Bereits vor dieser Wende hat sich in Ex-Jugoslawien die Politik in die Kultur eingemischt. Die Kultur war natürlich nie frei von politischen Interessen. Aber hier geht es um eine vulgäre Einmischung der Politik in die Angelegenheiten von Kultur und Literatur, und das ist nicht gut. Man vereinnahmt Andrić oder man verachtet ihn. Ich glaube, dass Andrić der jugoslawischen Gemeinschaft und dem, was wir heute Multikulturalität nennen, sehr zugetan war, das kommt in seinem Werk deutlich zum Ausdruck. Auf der anderen Seite betrachtete er den Einfluss des Osmanischen Reiches und der Habsburger Monarchie auf Bosnien aus der Sicht eines jugoslawischen Patrioten, der wegen seiner jugoslawischen Gesinnung im Ersten Weltkrieg ja im Gefängnis saß. Ich glaube, dass diejenigen, die bestimmte Bemerkungen einzelner Figuren in den literarischen Texten Andrićs, aber auch manche Bemerkungen zu der Auswirkung der osmanischen Herrschaft auf Bosnien aus seiner Dissertation als Kritik daran interpretieren, was heute die bosniakische Identität genannt wird, Äpfel mit Birnen vergleichen. Andrić hat das so nicht gesehen. Er war ein zu gut gebildeter Intellektueller, ein zu gut informierter Historiker und eine zu intelligente Person, als dass er so hätte denken können. Hätten wir genügend Zeit, so könnte ich das stundenlang an Beispielen aus seiner Literatur belegen.

n.: Andrićs Kritiker werfen ihm vor allem die Dissertation vor, wo er sagt, dass der Einfluss der osmanischen Herrschaft in Bosnien negativ war.

T.B.: Ja gut, und was weiter? Er sagt, dass das Osmanische Reich sich hierzulande negativ auf die Annäherung der Ethnien auswirkte. Er spricht von einem negativen Einfluss in der Kultur, auch in der Politik, aber er spricht ebenso über positive Effekte, die gibt es also auch. Wenn er vom negativen Einfluss des Osmanischen Reiches spricht, dann vom Standpunkt seiner integralistischen jugoslawischen Gesinnung.

n.: Andrić selbst hielt die Literatur für die eigentliche Geschichtsschreibung, er war der Meinung, dass sie einen besseren Einblick in die Geschichte gewährt als die Historiographie.

T.B.: Wenn Andrić sagt, dass man durch die Literatur die Geschichte eines Volkes oder der Zivilisation besser versteht, bezieht er sich, glaube ich, in erster Linie auf die Möglichkeit der Beleuchtung der Dinge aus verschiedenen Perspektiven. Denn die Geschichte wird von den Siegern geschrieben, eine bestimmte Ideologie oder Politik diktieren die Sicht auf die Geschehnisse. Die Literatur indes – wenn sie selbst nicht allzu sehr der Ideologie oder Politik erliegt – kann uns die verschiedenen Perspektiven vermitteln und ermöglichen, dass wir selbst etwas verstehen. Dabei denke ich nicht, dass Andrić ein Anhänger des Relativismus war. Man kann ihn mit Thomas Mann oder zum Teil mit Robert Musil vergleichen, mit Schriftstellern also, die ein überlegener ironischer Standpunkt gegenüber der Geschichte der Menschheit charakterisiert. Mit einem überlegenen ironischen Standpunkt meine ich, dass Andrić Beschränkungen und Einseitigkeiten wahrnahm und dass er sie zum Thema machte – auch in den Romanen Wesire und Konsuln (Travnička hronika) und Die Brücke über die Drina (Na Drini ćuprija), für die er manchmal kritisiert wird. Man muss diese Werke nur sorgfältig genug lesen. Unsere zeitgenössische Zivilisation sucht leider nach vereinfachten Lösungen und Deutungen, das gilt manchmal auch für die Interpreten von Literatur.

n.: Einige dieser Interpreten erklären, dass Andrićs Beschreibungen des osmanischen Terrors an den Serben bei serbischen Lesern ausschließlich Hass gegenüber den Osmanen hervorrufen können. Sie sind der Ansicht, dass Andrić sich dessen wohl bewusst war. Die Szene der Pfählung des serbischen Bauern Radisav an der Brücke an der Drina sei beispiellos in der Literaturgeschichte, heißt es, man müsste Andrić deshalb zur Verantwortung ziehen, wäre er noch am Leben.

T.B.: Das ist absurd. Die Literatur und Kunst überhaupt richtet sich nicht nach den Geboten der Political Correctness. Das war noch nie der Fall. Ähnliche Interpretationen bestehen in Bezug auf das Werk von Petar Petrović Njegoš. Aber wenn man Njegoš liest, muss man sich vergegenwärtigen, dass er seine Texte vor 150 Jahren und mehr geschrieben hat. Genauso wie Ivan Mažuranić und einige andere Autoren. Wenn wir alles vom heutigen Standpunkt lesen wollen, dann werden wir am Ende den Geboten Platons erliegen, dass man die Dichter aus dem Staat verbannen müsse, weil sie den Wünschen der Herrscher nicht entsprächen. Schriftsteller müssen nicht politisch korrekt sein. Was sollte mit solchen Schriftstellern wie dem Franzosen Lautréamont geschehen? Ist es wörtlich zu nehmen, wenn er sagt, dass man Kinder zerstückeln solle? Diejenigen, die Literatur wie ein politisches Pamphlet deuten, begehen einen Anfängerfehler. Ich weiß nicht, ob sie sich befugte Literaturinterpreten nennen dürfen. Natürlich ist die Szene der Pfählung von Radisav im Roman Die Brücke über die Drina eine brutale Szene, aber Literatur und Kunst sind voll davon. Auf der anderen Seite beruht Die Brücke über die Drina im Ganzen gesehen auf der Idee eines Bauprojektes, das einen Fortschritt für die Stadt und die ganze Umgebung mit sich bringt, und das in einer Verbindung des Einheimischen und des Fremden entstanden ist. Verkörpert wird diese Verbindung in der Figur des Großwesirs Mehmed Pascha Sokolović, eines in Bosnien geborenen Mannes, der in der Türkei ausgebildet wurde, wo er auch die Macht errang, die er dann in konstruktiver Weise für seine Heimat einsetzte. Man darf nicht vergessen, dass Andrićs Werk auch eine Art Selbstkritik des balkanischen Dünkels enthält, die keinen Hass gegenüber dem eigenen Volk oder der eigenen Ethnie bedeutet. Die Travniker aus dem Roman Wesire und Konsuln halten ihre Stadt für die wichtigste auf der ganzen Welt. Dann kommen die Konsuln, der österreichische und der französische Konsul, die sich hier wie abgeschnitten von der Welt fühlen, denn hier wird nichts Wichtiges entschieden, hier ist Provinz. Andrić setzt die beiden Sichtweisen gegeneinander. Auf der einen Seite steht der Dünkel, den man hierzulande auch heute spürt. In den vergangenen zwanzig Jahren waren wir davon überzeugt, im Mittelpunkt der Geschichte Europas und der Welt zu stehen. In einem Augenblick waren wir es in einem negativen Sinn, dann hat sich das Interesse der Großmächte auf andere Regionen verlegt, und viele hier haben das nicht mitbekommen. Andrić hat diesen Zug unserer Mentalität ausgezeichnet eingefangen. Und wir tadeln Andrić, weil er dieses oder jenes so oder anders gesagt hat. Was wollen wir von ihm? Dass er ein korrekter Politiker sei. Die Welt ist voll davon, Ex-Jugoslawien ist voll davon, was haben sie uns Gutes gebracht? Also, Andrić war ein ziemlich scharfer Kritiker des Osmanischen Reiches, aber er hat auch die guten Seiten gesehen. Hat er auch alle guten Seiten gesehen? Wahrscheinlich nicht, denn niemand kann alles sehen, was gut ist. Ihm indes vorzuwerfen, er sei einseitig und parteiisch, das wäre eine extreme Instrumentalisierung.

Das Interview führten Ksenija Cvetković-Sander und Martin Sander.
Übersetzung von Ksenija Cvetković-Sander

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