Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Viktorija Amelina. Credits: Daniel Mordzinski / PEN Ukraine.

Epi­taph: Im Andenken an Vik­to­rija Amelina

In tiefer Trauer teilen wir den Schmerz von Freund*innen und Kolleg*innen über den uner­mess­li­chen Ver­lust, den der Tod der ukrai­ni­schen Schrift­stel­lerin Vik­to­rija Ame­lina mit sich bringt: Die mehr­fach aus­ge­zeich­nete Roman- und Lyrik­au­torin erlag am 1. Juli 2023 den schweren Ver­let­zungen, die ihr bei dem mit rus­si­schen Prä­zi­si­ons­ra­keten sys­te­ma­tisch unter­nom­menen Bom­bar­de­ment eines beliebten Restau­rants in Kra­ma­torsk zuge­führt worden waren. Ame­lina hatte sich sofort nach der voll­um­fas­senden Inva­sion der Men­sch­rechts­in­itia­tive Truth Hounds ange­schlossen, in deok­ku­pierten Gebieten mit Kin­dern gear­beitet und Kriegs­ver­bre­chen dokumentiert.

novinki ver­öf­fent­licht – anstelle eines Nach­rufs – das Gedicht „Alarm“, das Vik­to­rija Ame­lina (*1986 in L‘viv) im April ver­gan­genen Jahres unter dem Ein­druck des kata­stro­phalen rus­si­schen Krieges ver­fasste, in der deut­schen Über­tra­gung von Chry­styna Nazar­kevyč: „Heute bist das nicht du. Ent­war­nung“, schreibt die Autorin – und meint das exis­ten­zi­elle, tra­gi­sche Zufalls­spiel des anti­zi­pierten Rake­ten­schlags, wenn wieder einmal der Luft­alarm ertönt. In einem anderen Text, einige Monate nach dem hier publi­zierten Gedicht ent­standen, reflek­tiert Ame­lina über die Unmög­lich­keit von Lyrik in Zeiten der großen Kata­strophe des fort­lau­fenden Krieges: Sprach­splitter seien lyri­schen Formen nur vor­der­gründig ähn­lich: „Die Rea­lität des Krieges ver­schlingt Satz­zei­chen (…) als wäre die Sprache von einem Geschoss getroffen worden“, for­mu­liert sie.

Am 30. Juni, dem Tag an dem die rus­si­schen Inva­soren auf die zivile Infra­struktur des Restau­rants „Ria Lounge“ zielten und der langen Liste unver­zeih­li­cher Kriegs­ver­bre­chen ein wei­teres hin­zu­fügten, gab es keine Ent­war­nung für die 37-Jäh­rige, ebenso wenig für zwölf andere Men­schen, die dem­selben Angriff bereits an Ort und Stelle zum Opfer fielen. An diesem Abend wurde Vik­to­rija Ame­linas Sprache, schon längst gezeichnet von der Zeu­gen­schaft unmensch­li­cher Gewalt und unsag­barem Leid, von rus­si­schen Geschossen getroffen – und unwie­der­bring­lich getötet.

„Solange ein Autor gelesen wird, lebt er“, schreibt Ame­lina im Vor­wort des Buches I Am Trans­forming… A Diary of Occu­pa­tion, das im Juni auf der Kyjiwer Buch­messe Arsenal dem ukrai­ni­schen Publikum vorgestellt worden ist und aus­ge­wählte Tage­buch­ein­träge des Schrift­stel­lers Volo­dymyr Vaku­lenko ent­hält. Wie der Buch­titel nahe­legt han­delt es sich um Texte, die Vaku­lenko unter rus­si­scher Besat­zung in Izjum bis zu seiner Ermor­dung ver­fasst hatte. Ame­lina fand das Buch im Sep­tember zusammen mit dem Vater des Autors im befreiten Izjum – und lei­tete Foto­gra­fien der Tage­buch­seiten an das Lite­ra­tur­mu­seum von Charkiv weiter. Im November bestä­tigte eine DNA-Ana­lyse, dass ein Körper von 447 im Mas­sen­grab Nr. 319 gefun­dener mensch­li­cher Leich­name end­gültig Vaku­lenko zuge­ordnet werden könne.

Solange eine Autorin gelesen wird, lebt sie. Aus gege­benem Anlass möchten wir Ame­linas Worte – ihre Sprache – mit diesem Bei­trag wür­digen – und diesen sowie wei­tere Texte der unzeitig aus dem Leben geris­senen Autorin lesen.

Alarm
Luft­alarm im ganzen Land
als würden alle gleich­zeitig zur Erschießung
geführt,
dabei nur auf einen gezielt,
meis­tens auf den am Rande.

 

Heute bist das nicht du. Entwarnung.

 

Aus dem Ukrai­ni­schen von Chry­styna Nazarkevyč

Vik­to­rija Ame­lina. © Juan Vega de Soto / PEN Ukraine.

Titel­bild: © Daniel Mord­zinski / PEN Ukraine.