Eine Poetik der Umkehrung oder die Gegenwehr der Poesie

Interview mit Matthias Nawrat

Matthias Nawrat (*1979), aufgewachsen im polnischen Opole und im deutschen Bamberg, schreibt seine Romane und Erzählungen auf Deutsch. Für seinen Debütroman Wir zwei allein (2012) erhielt er unter anderem den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis, sein Roman Unternehmer (2014) wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2015 erschien Die vielen Tode unseres Opas Jurek, ein polnisches Familienepos und zugleich Schicksalskaleidoskop, das sämtliche historische Kataklysmen des 20. Jahrhunderts aufgreift. Dabei ist der Roman „leichtfüßig“, „absurd-komödiantisch“ und „entlarvend“, wie die Kritik einhellig befand. novinki sprach mit dem Autor über Unternehmertum, das Übersetzen eigener Texte und die Frage: „Wie man mehrfach stirbt. Und trotzdem ein schönes Leben führt.“

 

novinki: Herr Nawrat, obwohl wir den Studierenden stets abzugewöhnen versuchen, als erstes nach der Biographie des Autors zu fragen, möchte ich dennoch damit anfangen. Sie sind als Zehnjähriger mit ihren Eltern aus dem polnischen Opole nach Deutschland gezogen und schreiben Ihre Texte auf Deutsch. Ich würde Sie nicht als einen Sprachwechsler bezeichnen, auch nicht als einen Migranten oder Postmigranten, trotzdem werden Sie in dieser Debatte immer wieder genannt. Wo würden Sie sich verorten?

 

Matthias Nawrat: Ich habe mit dem Begriff Migration insofern eine Schwierigkeit, als er nicht nur stark konnotiert, sondern sogar negativ konnotiert ist. Man würde z.B. bei US-Amerikanern, die nach Deutschland kommen, nicht sagen, es handelt sich um Migranten. Migranten, das sind ja meist die ein bisschen Ungewollten. Nimmt man Migration beim Wort, bezeichnet es Bewegung – und in diesem Sinne bin ich durchaus ein Migrant, weil ich die ersten zehn Lebensjahre mit meiner Familie in Polen verbracht habe, bevor wir nach Deutschland gegangen sind, zu einer Zeit, in der noch nicht klar war, dass die Mauer fallen würde, und wir nicht wussten, ob man jemals würde zurückfahren dürfen. Insofern war das kein einfacher Umzug im Sinne einer freien Entscheidung. Er war schwierig – vor allem für meine Eltern, aber auch für uns Kinder. Wir wurden verpflanzt und wussten nicht, ob wir unsere Großeltern und die anderen Familienmitglieder jemals wiedersehen würden. Prägend war auf jeden Fall die neue Sprache, mit der ich plötzlich konfrontiert wurde. Das scheint mir schon das Entscheidende für mich als Kind gewesen zu sein. Und aus diesem Sprachwechsel im Kindesalter, wo Polnisch Muttersprache ist und bleibt, aber Deutsch zur Zweitsprache wird, ergibt sich dann so etwas wie eine Entscheidung in der Frage: In welcher Sprache soll ich schreiben?

 

n.: Ich würde Sie als einen deutschen Schriftsteller bezeichnen – meinetwegen polnischer Herkunft, falls man das klassifizieren möchte. Gab es denn auch mal einen Moment, in dem Sie gedacht haben: Jetzt könnte ich mir vorstellen, auf Polnisch zu schreiben? Oder könnten Sie sich vorstellen, Ihren 2015 erschienenen Roman „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“ ins Polnische zu übersetzen?

 

M.N.: Nein, das könnte ich komischerweise nicht, weil mein Schreiben aus diesen Merkwürdigkeiten der deutschen Sprache entsteht, aus einer gewissen Faszination für die Ecken und Kanten, für die „Hinterwinkel“ der deutschen Sprache. Das ist schon die Sprache, in der ich denke, wenn man überhaupt vom Denken als einem sprachlichen Akt sprechen kann. Deutsch ist mit der Zeit irgendwie meine erste Sprache geworden, obwohl das Polnische meine Muttersprache ist – und obwohl ich die ersten zehn Jahre meines Lebens gar kein Deutsch konnte. Trotzdem ist es inzwischen für mich die wichtigere Sprache und auch die Sprache meiner literarischen Sozialisation. Mein angelesener Horizont ist sozusagen ein deutschsprachiger. Ich habe als Kind natürlich auch auf Polnisch gelesen, später dann auch Belletristik, aber ich fühle mich im Polnischen nicht so sicher. Ich lese momentan die polnische Übersetzung meines Romans Die vielen Tode unseres Opas Jurek. Das ist eine wirklich interessante Erfahrung für mich, denn ich frage mich während des Lesens immer wieder, ob ich das selbst so ins Polnische übersetzt haben könnte. Ich glaube, das hätte nicht funktioniert, denn mir fehlen im Polnischen die Sicherheit und das Feingefühl.

 

n.: Wir haben Ihren neuesten Roman „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“ angesprochen. Er ist für mich im Unterschied zu „Unternehmer“ von 2014 ein irgendwie polnisches Buch. Aber mehr noch als polnisch würde ich es mitteleuropäisch verorten. Gibt es Vorbilder aus dieser Region, an deren mitteleuropäischer Poetik Sie sich orientiert haben?

 

M.N.: Ich würde auf jeden Fall sagen, dass das Buch in der literarischen Tradition des Schelmenromans steht, die sich – so Theorien – auf die jüdische Literatur im Spanien des 16. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt. Eine Literatur, die über eben diese Erzählstrategien des Schelmischen funktioniert. Ich wurde auch von Autoren wie den Tschechen Ota Pavel und Bohumil Hrabal beeinflusst, aber natürlich auch von polnischen Schriftstellern wie beispielsweise Witold Gombrowicz oder Stanisław Lem. Gerade bei Lem, der eigentlich ein Science-Fiction-Autor ist, spielt der Witz eine große Rolle. Sein Erzähler ist immer ein Schelm. Schelme sind häufig sehr intelligent und moralisch oft nicht ganz koscher. Interessanterweise aber habe ich das Gefühl, dass die grundsätzliche Erzähltechnik in diesem Roman, also diese Brechungen, wenn jemand etwas erzählt, was ihm erzählt wurde, eine deutsche „Erfindung“ ist. Also eine, die das Problem des postmodernen Erzählens nach Auschwitz reflektiert. Das würde ich aber eher als westeuropäisch verstehen. Diese Frage: Kann man überhaupt noch so von Geschichte erzählen, als wüsste man, was passiert ist, oder muss man nicht vielmehr mitreflektieren, dass alles Zugängliche selbst immer nur eine Erzählung ist. Zum Beispiel die Rede von Peter Handke vor der Gruppe 47, in der er sagte, dass nur die wenigsten Schriftsteller oder auch Leser bei der Lektüre eines Buches denken, dass das nur mit Sprache zu tun hat – und nicht mit realen Dingen. Solche Überlegungen hatte ich beim Schreiben auch: Wie kann ich von diesen schwierigen Momenten, von Auschwitz erzählen? Der Holocaust steht im Buch zwar nicht so sehr im Vordergrund, sondern Auschwitz zu einer früheren Zeit, bevor es zum Vernichtungslager wurde. Das war aber trotzdem schwierig, weil ich das Gefühl hatte, bei solchen Dingen, die ich selbst nicht erlebt habe, könne ich nicht einfach so tun, als wüsste ich, wie sich jemand fühlt, der in den Lagern war. Insofern finde ich, mein Roman bewegt sich irgendwo zwischen osteuropäischen Erzählstrategien und einem westeuropäischen Postmodernismus.

 

n.: Ich würde gern anknüpfen an die Auschwitz-Passage. Zumal Sie auch am Ende des Romans dem Leser eine Art Schlüssel an die Hand geben: eine Poetik der Umkehrung. So wird Opa Jurek eigentlich immer dicker – und wir als Leser wissen warum: weil er immer mehr isst. Aber auf der Erzählerebene verkehren Sie die Perspektive so, dass es der Anzug zu sein scheint, der immer kleiner wird. Zum Schluss bezeichnen Sie dies als Lebensprinzip einer „umgekehrten Humoristik“. Damit gehen Sie in eine andere Richtung als Romane von Vertretern der Zeugengeneration wie Imre Kertész oder Tadeusz Borowski, bei denen wir auch von einer negativen Poetik sprechen. Welche literarischen Muster waren beim Schreiben über Auschwitz für Sie maßgeblich?

 

M.N.: Ich habe natürlich Kertész gelesen und mir Gedanken gemacht, auch im Hinblick auf Unterschiede zum Medium Film. Die „umgekehrte Humoristik“ entstand zum einen aus der Überlegung heraus, wie ich wohl markieren könnte, dass es ,nur‘ Erzählungen sind. Das funktioniert zum einen, indem ich die Elemente des Schelmischen übertreibe und die Erzählstränge noch deutlicher in ihrer Erzählstruktur herausstelle, z.B. über Skurrilität oder offensichtliche narrative Anleihen aus dem Western oder aus Abenteuergeschichten. Zum anderen habe ich die Erfahrung gemacht, dass Vieles, von dem ich erzähle, mir tatsächlich so oder ähnlich erzählt wurde. Auch meine Großeltern haben ihre schlimmsten Erfahrungen immer mit diesem Humor erzählt, immer ein bisschen so, dass sie darüber lachen mussten, auch wenn zu spüren war, dass es sich eigentlich um unfassbare Erlebnisse handelte. Ich hatte immer den Eindruck, dass das eine psychologische Überlebensstrategie ist für Menschen, die wie meine Großeltern fast ihr gesamtes Leben in totalitären Systemen verbracht haben. Eine Strategie, sich seine Menschenwürde zurückzuholen, sich zum Herren über die eigene Lebenserzählung zu machen, indem man die Umstände ad absurdum führt.

 

n.: In verschieden Rezensionen habe ich gelesen, es handele sich um ein zutiefst „böses Buch“ – ich teile diesen Eindruck. Hinter all der Leichtigkeit verbirgt sich nicht nur der Schatten der Vergangenheit, sondern ein Leben mehrerer Generationen in Totalitarismen. Insofern stellte sich mitunter ein Lesegefühl von Melancholie und stellenweise tiefer Verzweiflung ein, das sich auch dieser Doppelbödigkeit Ihres Erzählprinzips des „Wir“ und des „Unser“ verdankt. Um wen handelt es sich da? Um eine Enkelgeneration?

 

M.N.: Ich dachte bei der Konzeption dieses „Wir“ als Erzählinstanz nicht notwendigerweise an eine Generation, habe das Buch aber erst schreiben können, als ich erkannte, dass die Lebensgeschichten meiner Familie, aus denen ich geschöpft habe, exemplarisch für etwas Allgemeineres stehen. Erst dann war ich moralisch in der Lage, den Roman zu schreiben. Und dieses „Wir“ diente zum einen dazu, zu zeigen, dass die Menschen in meinem Alter, also die dritte Generation nach Auschwitz, nur noch mit Geschichten konfrontiert sind, nicht mit dem Erlebten selbst. Zum zweiten habe ich nach einer Kunstfigur gesucht, die sich nicht in konkrete Figuren auflösen lässt, sondern wie eine Art Kollektiv funktioniert. Die nicht nur diesen speziellen Blick auf die Dinge ermöglicht, der eine kindliche Naivität beinhaltet, sondern auch mich als Erwachsenen aufnehmen kann. Nur indem ich aus dem „Wir“ keine konkreten Kinder gemacht habe, sondern eine Art Verallgemeinerung, konnte das Bösartige einfließen, das das Kindliche übersteigt.

 

n.: Das bringt mich zu Ihrem Roman „Unternehmer“, der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand. Auch dort herrscht das Prinzip der Umkehr – in fast schon perverser Weise. Wieder aus einer Kinderperspektive erzählen Sie die Geschichte der 13-jährigen Lipa, die das Wesen der Arbeit mythisch überhöht. Sie lebt in einer Schrotthändlerfamilie, die mühsam ihr Auskommen findet. Im Großen und Ganzen geht es um Selbstausbeutung, gesehen durch die Augen eines Kindes. Das ist zwar eine grundsätzlich andere Story, aber eine ähnliche Vorgehensweise.

 

M.N.: Ich glaube auch, dass die zwei Bücher zusammenhängen, weil sie beide die Macht der Sprache in gesellschaftlichen Systemen thematisieren – sei es im Kommunismus, sei es im Nationalsozialismus oder auch im Kapitalismus. Wie wird aus Sprache, wenn man nicht aufpasst, Propaganda, ein Herrschaftsinstrument? In Unternehmer sind die Kinder die Pressesprecher ihres Familienunternehmens, sie propagieren sozusagen den Kapitalismus, weil es ihnen so eingeflößt wurde, und bemerken dabei nicht, dass sie sich immer weiter opfern. Insofern geht es in beiden Büchern um Umkehrungen und sprachliche Verschleierung.

 

n.: Wobei das auch geschickt unterlaufen wird. Denn so karg in „Unternehmer“ die Erzählweise auf der einen Seite ist, auf der anderen Seite ist sie auch ausgesprochen magisch und poetisch. Gerade Lipa imaginiert die Industrielandschaften, die sie als Schrotthändler ausbeuten und die ja schon ausgebeutete Landschaften sind, als grün schimmernd, als flüsternd, rauschend.

 

M.N.: Es gibt eben auch die Gegenwehr, die sprachliche Gegenwehr – vielleicht als Ansatz eines Gegenentwurfs. Dieses Mädchen wird auf der einen Seite von der Sprache des Vaters, der Sprache des kapitalistischen Systems, beeinflusst und ausgebeutet. Auf der anderen Seite wehrt sie sich, indem sie die tote Materie, die sie umgibt, mithilfe der Sprache und der Phantasie belebt. Das ist auch so ein Versuch einer „umgekehrten Humoristik“: durch Poetisierung so etwas wie Menschenwürde zurückzubekommen und die eigene Lebenserzählung zu bestimmen.

 

n.: Aber siegt nicht am Ende eben doch die Unternehmer-Sprache und nicht die Poesie? Gehen nicht alle Wünsche, die in Lipas Poesie auftauchen, am Ende verloren? Sie und ihr verstümmelter Bruder durchbrechen die Perversität ihres Unternehmertums nicht, im Gegenteil.

 

M.N.: Ja, genau, es gibt irgendwie kein Entkommen. Im Grunde genommen gibt es auch in Die vielen Tode unseres Opas Jurek kein Entkommen. Das Buch handelt von diesem Hunger in Auschwitz und meint in gewisser Weise die Unausweichlichkeit der menschlichen Existenz, an deren Ende einfach der Tod steht, egal was man macht. Aber wenn es gelingt, das Leben, das man zwischen beiden Enden führt, immer wieder mit Hoffnung zu füllen, dann ist es immerhin kein verschenktes Leben, dann hat man sich nicht einfach der Todesmaschinerie „Leben“ ergeben.

 

n.: Mir ist in Zusammenhang mit Ihren Texten ein Zitat von David Foster Wallace in den Kopf gekommen: „Der Sinn der Wiederholung ist die Sinnlosigkeit.“ In „Unternehmer“ sieht man das schon an der wahnwitzigen Häufung des Wortes „Unternehmer“. Schon in dieser Wiederholungsstruktur wird das ganze Unternehmertum ad absurdum geführt. Das ist auch in „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“ so, wo das Prinzip der Wiederholung einen am Ende fast erschlägt.

 

M.N.: Ich beobachte ständig die Wiederholung von sprachlichen Strukturen und sehe die Gefahr, dass Wörter zu leeren Hülsen werden. Das sehe ich insbesondere in der Auseinandersetzung mit Auschwitz und dem Holocaust. Wenn z.B. das Wort Konzentrationslager im Schulunterricht 400 Mal gefallen ist, dann fühlt keiner mehr etwas dabei. Ich mache mir diese Wirkung der Wiederholung zu Nutzen und zeige, wie Sprache entleert werden kann. Wenn der Vater die ganze Zeit das Unternehmertum anpreist und die Kinder das ständig wiederholen, dann empfindet der Leser, wie leer die Floskeln sind.

n.: „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“ ist ein Roman von mehr als 400 Seiten. Ist man nach so einem großen Projekt erst einmal leer geschrieben? Oder haben Sie schon neue Pläne?

 

M.N.: Ehrlich gesagt bin ich momentan schon ein bisschen leer geschrieben, obwohl das Bedürfnis wächst, wieder etwas Größeres zu heben. Aber noch fühle ich mich relativ leer und habe das Gefühl, das könnte jetzt ein paar Jahre dauern, bis ich mich davon löse. Zunächst einmal: Ich denke, dass ich mich vor einem nächsten großen Projekt selbst erst einmal wieder verändern muss. Es ist ein bisschen wie das Ende einer Beziehung, von der man nicht gleich direkt in die nächste hüpfen kann, sondern immer noch etwas mit sich zieht. Derzeit schreibe ich also kleine Sachen, Erzählungen, Tagebuch.

 

Das Interview führte Alfrun Kliems.


Werke von Matthias Nawrat:

Wir zwei allein. Zürich 2012.
Unternehmer. Reinbek bei Hamburg 2014.
Die vielen Tode unseres Opas Jurek. Reinbek bei Hamburg 2015.

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